Der Pandemie-Horror, der aktuell Indien heimsucht, hat vielfältige Ursachen. Da ist etwa die politische Führung, die in Selbstgefälligkeit, Untätigkeit und Verantwortungslosigkeit verharrte, obwohl sich bereits seit Monaten deutlich abzeichnete, dass wieder eine Infektionswelle mit neuen Mutationen droht. Auf großen Wahlkundgebungen, viele mit Premierminister Narendra Modi, kamen Massen von Menschen zusammen, was wiederum andere dazu verleitete, die Ansteckungsgefahr zu unterschätzen.
Nach der unverständlichen Entscheidung, ein großes Hindu-Fest – dieKumbh Mela, die alle zwölf Jahre stattfindet – auf Anraten von Astrologen um ein ganzes Jahr vorzuziehen, versammelten sich Millionen von Menschen aus ganz Indien in einem kleinen Areal am Ganges und trugen zur massenhaften Verbreitung der Krankheit bei.
Das exponentielle Wachstum der Covid-19-Fälle ist, weil unzureichend getestet und die Zahl der Erkrankungen und Todesfälle nicht vollständig erfasst wird, mutmaßlich noch viel schlimmer als offiziell bestätigt. Das wirft nicht nur ein Schlaglicht auf die Hybris und Inkompetenz der Verantwortlichen, sondern auch auf die schlechte Planung und massive Defizite im öffentlichen Gesundheitssystem. So führt der Mangel an medizinischem Sauerstoff mittlerweile zum Tod vieler Patientinnen und Patienten.
Die vorhandene Impfinfrastruktur in städtischen und ländlichen Regionen hätte schnell mobilisiert werden können.
Ein maßgeblicher und absolut vermeidbarer Grund für die Katastrophe ist allerdings auch das gescheiterte Impfprogramm. Das musste nicht sein, auch wenn globale Zwänge dazu beitragen: Die reichen Länder reißen sich den Impfstoff unter den Nagel, dazu kommen Beschränkungen der inländischen Produktion durch das TRIPS-Abkommen (Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights).
Indien ist Standort des größten Impfstoffherstellers der Welt und mehrerer weiterer Unternehmen, die Impfstoffe herstellen können. Vor der Pandemie wurden 60 Prozent der in den Entwicklungsländern zur Immunisierung von Kindern eingesetzten Impfstoffe in Indien hergestellt.
Das Land blickt auf eine lange Tradition erfolgreicher Impfkampagnen zurück, gegen Polio und Tuberkulose bei Kleinkindern und eine Reihe weiterer Krankheiten. Die vorhandene Impfinfrastruktur in städtischen und ländlichen Regionen hätte schnell mobilisiert werden können.
Die Impfzurückhaltung könnte darauf zurückzuführen sein, dass die Menschen verunsichert sind angesichts des schnellen behördlichen Genehmigungsverfahrens für Covaxin.
Im Januar wurden zwei Impfstoffkandidaten für den Einsatz im Inland zugelassen: Covishield (Oxford-Astra Zeneca), das in Indien das Serum Institute of India herstellt, und Covaxin, das von der Firma Bharat Biotech mit einer Produktionslizenz des Indian Council of Medical Research hergestellt wird. Weitere Hersteller hätten in ähnlicher Weise lizenziert werden können, um das Angebot zu verbessern.
Offiziell begann das Impfprogramm am 16. Januar mit dem ursprünglichen Ziel, bis Ende März 30 Millionen Beschäftigte im Gesundheitswesen und in systemrelevanten Berufen und bis Juli 250 Millionen Menschen zu immunisieren. Am 17. April hatten aber nur 37 Prozent der ersten Gruppe beide Dosen (von einem der beiden Impfstoffe) erhalten, weitere 30 Prozent nur die erste Dosis.
Die Impfzurückhaltung auch in dieser gefährdeten Gruppe könnte darauf zurückzuführen sein, dass die Menschen verunsichert sind angesichts des schnellen behördlichen Genehmigungsverfahrens für Covaxin, für das die Phase-III-Studien nicht abgeschlossen wurden. Zudem förderte die indische Regierung Exporte, unter anderem um die Verpflichtungen des Serum Institute of India gegenüber Astra Zeneca und der weltweiten COVAX Facility der Weltgesundheitsorganisation zu erfüllen, aber auch, um in den Entwicklungsländern ihr eigenes Ansehen zu verbessern.
Das von den USA verhängte Exportverbot für einige Inhaltsstoffe behindert zudem die Produktion des Astra-Zeneca-Impfstoffs.
Als man die Impfungen auf Ältere über 60 und dann auf Menschen über 45 ausdehnte, wurde der Mangel rasch spürbar, und das Tempo verlangsamte sich entsprechend. Bis zum 24. April hatten nur 8,5 Prozent der Bevölkerung eine Dosis erhalten, bei weitem nicht genug, um die Ausbreitung der Krankheit einzudämmen. Auch diese niedrige Impfquote konnte nur erreicht werden, weil private Einrichtungen den Impfstoff gegen eine Gebühr von 250 Rupien (rund 2,76 Euro) pro Dosis verabreichen durften.
Die Regierung Modi hatte sich offensichtlich auf die unrealistische Annahme verlassen, dass die inländische Produktion von Impfstoffen ausreichen würde. Tatsächlich hätten die beiden Hersteller aber drei Jahre gebraucht, um die Nachfrage zu decken. Das von den USA verhängte Exportverbot für einige Inhaltsstoffe behindert zudem die Produktion des Astra-Zeneca-Impfstoffs, und Bharat Biotech hat nur begrenzte Kapazitäten.
Schockierend ist, dass die Regierung, obwohl Covaxin vom staatlichen Indian Council of Medical Research entwickelt wurde, nicht mittels Produktionslizenzen andere Hersteller verpflichtete, das Angebot zu erhöhen. Außerdem hatte sie tatenlos zugesehen, wie mehrere staatliche Unternehmen mangels angemessener Investitionen vor sich hin dümpelten.
Die Armen werden sich den Impfstoff nicht leisten können, und so wird die Pandemie weiter wüten.
Erst am 16. April, als sich die Pandemie in ganz Indien zur Krise ausgewachsen hatte und nichts für eine Abschwächung sprach, erlaubte die Zentralregierung drei Staatsbetrieben die Herstellung des Impfstoffs; allerdings blieben drei weitere öffentliche Unternehmen, die über größere Expertise und Kapazität verfügen, unerklärlicherweise außen vor. Auch diese neuen Produktionsstätten werden nun mehrere Monate brauchen, um die Produktion anzufahren.
Unterdessen hat die Regierung Modi mit einer zynischen Strategie den schwarzen Peter für die Impfung an die Bundesstaaten weitergereicht, ohne diese finanziell zu unterstützen, und ihnen sogar höhere Preise aufgezwungen. Mit den privatwirtschaftlichen Impfstoffherstellern hat die Regierung ein Preissystem vereinbart, nach dem die Bundesstaaten, die bereits klamm sind und mit harten Budgetzwängen zu kämpfen haben, für dieselben Impfstoffe bis zu viermal so viel bezahlen müssen wie die Regierung in Neu-Delhi. Sie dürfen jetzt auch Impfstoffe aus dem Ausland importieren, müssen die Beschaffung aber selbst durchführen. Wenn den Regionalregierungen solche Hungerspiele aufgezwungen werden, ohne dass die Impfstoffbeschaffung für sämtliche Einwohnerinnen und Einwohner auch zentral organisiert und finanziert wird, so kann das nur in der Katastrophe enden.
Das jüngste Beispiel für diesen vom indischen Staat geförderten Katastrophenkapitalismus ist noch ungeheuerlicher. Die vorgeschlagene Öffnung der Impfkampagne für die Altersgruppe der 18- bis 45-Jährigen ab dem 1. Mai beschränkt sich auf private Krankenhäuser und Kliniken, sodass die Impfung zwischen 1 200 und 2 400 Rupien (13,25 bis 26,50 Euro) pro Dosis kosten wird. Die Armen werden sich den Impfstoff nicht leisten können, und so wird die Pandemie weiter wüten, das unendliche Leid wird sich fortsetzen, unzählige Menschen werden sterben.
Wäre so etwas in einem Roman zu lesen, würde man die Geschichte wohl als unrealistisch und unwahrscheinlich abtun. Leider aber haben wir es hier mit der Realität zu tun, und die Strategie der indischen Regierung ist nur ein Extrembeispiel dafür, dass in dieser neoliberalen Welt Unternehmensgewinne wichtiger sind als Menschenleben.
Dieser Artikel ist eine gemeinsame Publikation von Social Europe und dem IPG-Journal.
Aus dem Englischen von Anne Emmert