Nichts führt die Transformation der globalen Ordnung derzeit deutlicher vor Augen als die Wandlung von internationalen Partnerschaften. Besonders deutlich lässt sich diese Tendenz derzeit am Beispiel der europäischen Außenpolitik beobachten: Die Beziehungen zu Russland befanden sich seit einem Jahrzehnt in einer Abwärtsspirale, bis sie mit der russischen Invasion der Ukraine 2022 ihren Tiefpunkt erreichten. Nun kommt eine neue Wendung hinzu: Das transatlantische Verhältnis und seine Zukunft müssen zum ersten Mal seit dem Ende des Kalten Krieges neu gedacht werden. In diesem neuen Setting zeigt Brüssel Interesse an der Vertiefung und Weiterentwicklung von Partnerschaften mit neuen globalen Playern (z.B. Indien) und aufstrebenden Mittelmächten wie Zentralasien.

Der russische Krieg gegen die Ukraine bindet seit drei Jahren den größten Teil der Aufmerksamkeit der Europäischen Union (EU). Dennoch deuten zwei  Ereignisse darauf hin, dass die europäische Außenpolitik die Region Zentralasien stärker in den Blick nimmt: Am 3. und 4. April 2025 findet in Samarkand, Usbekistan, ein EU-Zentralasien-Gipfel statt, zum ersten Mal unter Beteiligung der EU-Kommissionspräsidentin sowie europäischer und zentralasiatischer Staats- und Regierungschefs. Zur Vorbereitung dieses Ereignisses fand am 27. März das 20. AußenministertreffenEU-Zentralasien zum ersten Mal in der turkmenischen Hauptstadt Aschgabat statt.

Die Beziehungen zwischen der EU und Zentralasien haben sich in den letzten drei Jahren intensiviert – die zwischen Deutschland und der Region haben den Charakter einer strategischen Partnerschaft angenommen. Die EU ist heute zweitgrößter Handelspartner der Region und mit einem Anteil von über 40 Prozent größter Investor. Ein vertieftes Engagement mit Zentralasien ist eine Chance für die EU, sich neben Russland, China und den USA als bedeutsamer regionaler Akteur zu profilieren und damit inter- und intraregionale Zusammenarbeit, Frieden und Sicherheit voranzubringen. Lange Zeit war Zentralasien für die EU-Außenbeziehungen kaum relevant, auch wenn es seit den 1990er Jahren Kooperationsabkommen mit den Staaten der Region gab. Die politischen Prioritäten Brüssels lagen anderswo. Außerdem galt Zentralasien seit der Auflösung der Sowjetunion aufgrund innenpolitischer Probleme, wiederkehrender sozialer Konflikte sowie Grenzstreitigkeiten international als Unruheherd. Mit Beginn des westlichen Afghanistan-Einsatzes gewann die Region als unterstützende Transitplattform geopolitische Bedeutung.

Das war einer der Gründe für die EU, 2007 die erste politische Zentralasienstrategie zu verabschieden. Weitere Faktoren waren die zunehmende Bedeutung politischer und sicherheitspolitischer Fragen im Zuge der EU-Erweiterung sowie die Energiesicherheit angesichts der russisch-ukrainischen Gaskrise 2006. Neben Good Governance, Demokratisierung und Menschenrechten lag der Fokus der Strategie auf der Diversifizierung der Energieversorgung und von Gas- und Ölimporten aus Zentralasien. Doch Kommunikationsdefizite und divergierende Erwartungen erschwerten die Zusammenarbeit. Die zentralasiatischen Staaten fühlten sich nicht als gleichberechtigte Partner. Der Beziehung mangelte es an Dynamik und Kreativität.

Vor dem Hintergrund unterbrochener Öl- und Gaslieferungen aus Russland entwickelt sich Zentralasien zu einem wichtigen Energielieferanten für Europa.

Heute hat sich die Ausgangslage geändert, sodass eine Intensivierung der Zusammenarbeit festzustellen ist. Beide Seiten haben ein wachsendes Interesse daran, ihre strategische Autonomie inmitten globaler Machtverschiebungen zu stärken. Vor dem Hintergrund unterbrochener Öl- und Gaslieferungen aus Russland entwickelt sich Zentralasien zu einem wichtigen Energielieferanten für Europa. Der Wunsch nach engerer wirtschaftlicher Zusammenarbeit bietet beiden Seiten die Chance, sich politisch zu profilieren. Zentralasien möchte sich langfristig alternative Partnerschaften erschließen, Handelsrouten diversifizieren und Investitionen insbesondere in Transport- und Energieinfrastruktur anziehen. Außerdem hat die russische Invasion der Ukraine indirekt dazu beigetragen, dass sich die intraregionale Zusammenarbeit verbessert hat. So wurde 2023 die Grenzziehung zwischen Kirgistan und Usbekistan abgeschlossen. Tadschikistan und Kirgistan einigten sich 2024 über umstrittene Gebiete und beendeten im März 2025 ihren jahrzehntelangen Grenzkonflikt. Kasachstan und Usbekistan, die seit Jahrzehnten um die Dominanz in der Region konkurrierten, unterzeichneten 2022 ein Bündnisabkommen. Diese Entwicklungen stärken Zentralasien als eigenständigen Akteur auf der internationalen Bühne.

Diesen Prozess will die EU nun unterstützen, was an folgenden Beispielen deutlich wird. Zum einen wurde 2022 ein Dialogformat zwischen den Staatsoberhäuptern Zentralasiens und dem Präsidenten des Europäischen Rates etabliert, das politischen Austausch fördert. Zum anderen wurde ein Gemeinsamer Fahrplan für die Vertiefung der Beziehungen zwischen der EU und Zentralasien angenommen, der Kooperation in den Bereichen Energie, Klima, seltene Erden und Konnektivität vorsieht. Dieser kann als Vorstufe zu einer neuen Zentralasienstrategie der EU gesehen werden. Zudem erweitert die EU ihre Zusammenarbeit mit Turkmenistan – dem einzigen Land der Region ohne gültiges Partnerschaftsabkommen mit Brüssel. Im Rahmen der Initiative „Politischer Dialog und Klimaschutz 2024–2028“ plant die EU weitere politische Treffen in Aschgabat. Hintergrund ist, dass das jahrelang international isolierte Turkmenistan als potenziell entscheidender Gaslieferant für Europa gilt.

Ein zentrales Projekt der Kooperation ist der sogenannte „Mittlere Korridor“ (Transkaspische Internationale Transportroute, TITR). Diese multimodale Land- und Seeroute verläuft von China über Kasachstan, teilweise Usbekistan und Turkmenistan, über das Kaspische Meer nach Aserbaidschan, Georgien und die Türkei. Die EU engagiert sich aktiv am Ausbau des Korridors und sagte 2024 im Rahmen der Global Gateway-Initiative Investitionen von zehn Milliarden Euro zu. Diese sollen Häfen, Eisenbahnstrecken und Logistikeinrichtungen modernisieren, um Kapazitäten und Effizienz zu steigern. Ziel ist, die Abhängigkeit vom Nordkorridor durch Russland sowie vom südlichen Korridor über den Suezkanal zu reduzieren. Die beteiligten Länder Zentralasiens versprechen sich dadurch Infrastrukturmodernisierung, wirtschaftliches Wachstum und mehr politischen Handlungsspielraum gegenüber Russland und China. Es handelt sich somit um ein Win-Win-Projekt sowohl für die EU als auch für Zentralasien, wobei Zentralasien als globaler Infrastrukturknotenpunkt entsteht. Allerdings ist die Realisierung des Transportprojektes mit Herausforderungen verbunden. Dazu gehören die noch unzureichende Verkehrs- und Hafeninfrastrukturen sowie bürokratische Hindernisse zwischen den Staaten. Aufseiten der EU erfordert das Projekt eine enge Abstimmung mit Washington, wo USAID beteiligt ist. Angesichts des angespannten transatlantischen Verhältnisses ist es jedoch ungewiss, ob die Kooperation fortgesetzt werden kann. Zudem beeinflusst die Sanktionspolitik der EU die Zusammenarbeit: Mehrere Unternehmen aus Kasachstan figurieren im jüngsten EU-Sanktionspaket gegen Russland.

Trotz dieser Herausforderungen bietet der Mittlere Korridor die Chance, die EU-Präsenz in Eurasien zu stärken und als Modell für friedliche geopolitische Konkurrenz zu dienen. Weder Russland noch China sehen derzeit die Beteiligung der EU an Infrastrukturprojekten als Bedrohung an. Vielmehr unterstützte China den Mittleren Korridor auf dem Belt and Road Forum im Oktober 2023. Russland könnte den Korridor mit dem geplanten Internationalen Nord-Süd-Korridor verbinden, der russischen Handel zum Indischen Ozean erleichtern soll. Zentralasien bietet der EU somit nicht nur die Möglichkeit, Energiepartnerschaften und Transportwege zu diversifizieren. Eine strategische Partnerschaft mit der Region birgt für Brüssel das Potenzial, zur Stabilität beizutragen und ein Modell friedlicher geopolitischer Konkurrenz zu fördern. Die Worte des Europaratspräsidenten António Costa anlässlich des bevorstehenden EU-Zentralasien Gipfels zeigen den Weg für die europäische Strategie: „Wir leben in einer Welt der Unordnung und Fragmentierung, in der die einzige tragfähige Lösung für die EU darin besteht, stärkere Partnerschaften aufzubauen, um Frieden und Wohlstand voranzubringen.“