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Was vor wenigen Wochen noch nach Science-Fiction klang, ist Wirklichkeit geworden: Eine globale Gesundheitskrise, die strengste Sicherheitsmaßnahmen erfordert, bringt das wirtschaftliche und soziale Leben rund um den Globus quasi zum Erliegen. Obwohl alle europäischen Länder betroffen sind, erweckt die europäische Politik derzeit nicht immer den Eindruck, auf der Höhe der Anforderungen zu sein. Schlimmer noch – mit einseitigen und unangekündigten Grenzschließungen, Exportverboten für lebenswichtige medizinische Ausrüstung und chauvinistischen Bemerkungen über die Fähigkeiten des Krisenmanagements anderer Länder, droht das Coronavirus die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten in eine tiefe und lang anhaltende Krise zu stürzen.
Nach einem schleppenden Start scheint die Tatsache, dass das grenzüberschreitende Problem von keinem Nationalstaat allein bewältigt werden kann und Europa als Union handeln muss, nun jedoch allseits klar und akzeptiert zu sein. Endlich werden gemeinsame Aktionen zur Rettung von Leben angestoßen und medizinische Hilfen bereitgestellt. Patienten in kritischem Zustand werden grenzüberschreitend auf verfügbare Intensivstationen verlegt. Die gemeinsame Beschaffung und Bevorratung von medizinischen Gütern ist im Gange und es wird in Rekordtempo gemeinschaftlich in die Erforschung und Entwicklung wirksamer Medikamente und Impfstoffe investiert.
In ganz Europa kooperieren Unternehmen, darunter auch Aushängeschilder wie Airbus, um ihre Produktionsprozesse anzupassen und Waren und Ausrüstung zu liefern, die aufgrund von unterbrochenen globalen Lieferketten knapp werden. Endlich beginnt das Potenzial und die Kraft des Zusammenhalts in Europa wieder durchzuschimmern, das, was uns motiviert, uns mit all unserer Energie dem Erfolg des europäischen Projekts zu widmen. In Zeiten der Krise rettet Europa Leben.
In anderen Bereichen der politischen Zusammenarbeit nehmen die Herausforderungen jedoch weiter zu. Da nur die kritischsten Infrastrukturen und Dienstleistungen noch in Betrieb sind, ist ein Abgleiten in die Rezession unvermeidlich. Aktuelle Schätzungen gehen für das laufende Kalenderjahr von einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts von bis zu neun Prozent aus. Dieser drastische Abschwung legt die Schwächen der gegenwärtigen europäischen Architektur offen, die die letzte Finanzkrise und ihre Nachwirkungen nur knapp überlebt hat. Ohne, dass Ressourcen gebündelt werden, droht ein wirtschaftlicher Zusammenbruch mit schwerwiegenden sozialen Folgen – insbesondere in der Eurozone.
Die europäische Idee ist in Gefahr und nichts anderes als entschiedenes Handeln im Geiste europäischer Solidarität wird ihr Überleben sichern.
Doch auch im Angesicht dieser Bedrohung wirkt das Handeln der Staats- und Regierungschefs schwerfällig. Mit Bestürzung stellen wir fest, dass die nationalen Regierungen offenbar noch nicht hinreichend in der Lage sind, konstruktive Debatten zu führen und eine gemeinsame Basis zu finden. Wir fordern die Mitgliedstaaten auf, egoistische Sichtweisen hinter sich zu lassen und dogmatische Konfrontationen zu vermeiden. Die europäische Idee ist in Gefahr und nichts anderes als entschiedenes Handeln im Geiste europäischer Solidarität wird ihr Überleben sichern. Dies erfordert ein konstruktives Streben nach Lösungen und Ergebnissen im gegenseitigen Interesse aller. Regierungen, die noch immer ausschließlich nationalen Fahrplänen folgen, täten gut daran, sich zu erinnern, dass sie ohne europäisches Handeln schnell von der Ausbreitung des Virus und den daraus resultierenden sozioökonomischen Folgen überfordert sein werden.
Wir müssen jetzt entschlossen handeln, um finanzielle Stabilität zu gewährleisten und Grundlagen für einen dauerhaften wirtschaftlichen und sozialen Aufschwung in Europa zu schaffen. Gleichzeitig muss klar sein, dass die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholt werden dürfen. Das bedeutet in erster Linie, dass ein Rückfall in blinde Kürzungspolitik keine Option ist – nicht zuletzt, weil sich in der Krise immer deutlicher zeigt, dass übermäßige Haushaltsdisziplin die öffentliche Infrastruktur und die Gesundheitssysteme geschwächt hat, insbesondere in Südeuropa. Wir sollten auch nicht den Fehler wiederholen, die großen Banken zu retten und dabei zu vergessen, dass die Menschen in Europa unsere Unterstützung am meisten brauchen. Anstatt dieses wirtschaftliche Unwetter durch Reserven zu überstehen, die in guten Zeiten aufgebaut wurden, suchen Banken und Unternehmen wieder bei den Regierungen nach Beistand. Sie dürfen nicht die Einzigen sein, die diese Unterstützung erhalten.
Die Lehre aus dieser Krise ist: Wenn alles andere scheitert, tritt die öffentliche Hand auf den Plan – auf lokaler, nationaler und europäischer Ebene. Sie dämmt die Ausbreitung des Virus ein, stellt die dringend benötigte Gesundheitsversorgung bereit und sichert die wirtschaftliche Lebensgrundlage für Menschen und Unternehmen. Die Bereitstellung öffentlicher Güter durch die verschiedenen staatlichen Ebenen hat Konjunktur wie nie zuvor.
Darüber hinaus zeigt die gegenwärtige Situation, dass in Europa dringend Schritte zur Entwicklung solider und demokratischer Gemeinschaftsinstrumente zur Bewältigung wirtschaftlicher Schocks erforderlich sind. Unsere sozialdemokratische Familie hat sich seit jeher für eine moderne Wirtschafts- und Finanzarchitektur in Europa eingesetzt, die den Anfordernissen einer vergemeinschafteten Geld- und Währungspolitik in der Eurozone gerecht wird. Gemeinsam ausgegebene Anleihen („bonds“) sind eines der Instrumente in diesem Werkzeugkasten. Dazu zählen zudem eine gemeinsame Wirtschaftsregierung inklusive eines europäischen Finanzministeriums, ein permanenter Stabilisierungsmechanismus, der Nothilfen bereitstellt, automatische Stabilisatoren wie eine Arbeitslosenrückversicherung und ein breiteres Mandat für die Europäische Zentralbank (EZB) – um nur einige zu nennen.
Die europäischen Staats- und Regierungschefs sollten daher nicht nach dem einen Allheilmittel suchen.
Während Ökonomen diese Elemente weithin als notwendige und untrennbare Bausteine einer dauerhaften und erfolgreichen Wirtschafts- und Währungsunion betrachten, hat die Politik den Sprung nach vorn noch nicht gewagt. Doch der ist erforderlich, nicht nur um den gegenwärtigen Sturm zu überstehen und eine schnelle Erholung zu ermöglichen, sondern auch um den transformatorischen Imperativen Rechnung zu tragen, die unabhängig von der Covid-19-Krise bestehen. Zu ihnen zählen die Umsetzung des European Green Deal und der Nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen.
Die Tatsache, dass einige dieser Instrumente – oder zumindest Bestandteile davon – früher als andere realisierbar sein könnten, stellt weder eine Hierarchie zwischen ihnen her, noch legt sie nahe, dass ein Element in der Lage sein könnte, das Fehlen eines anderen auszugleichen. Die aktuellen Debatten erwecken teils den Eindruck, dass die Lösung der gegenwärtigen Krise entweder in der Ausgabe gemeinsamer „Corona-Bonds" oder in der Aktivierung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) liegt. Stattdessen wird Europa aber erst dann den Herausforderungen gewachsen sein, wenn es über all das gemeinsam verfügt: die Fähigkeit zur Ausgabe gemeinsamer Anleihen, einen reformierten ESM, der unter akzeptablen Bedingungen Liquiditätshilfe leisten kann, und ein ausreichendes Maß von fiskalischer Integration, einschließlich gemeinschaftlicher Schlüsselkompetenzen und einer Harmonisierung im Bereich der Besteuerung.
Die europäischen Staats- und Regierungschefs sollten daher nicht nach dem einen Allheilmittel suchen. Die Aufgabe besteht darin, einen Sinn für Pragmatismus und – schlussendlich – Konsequenz bei der Weiterentwicklung Europas zu entwickeln. Kurzfristig braucht es rasche Lösungen, um Brände zu löschen und sich zu erholen. Doch es müssen auch die Grundlagen für einen dauerhaften Aufschwung gelegt werden, der Europa stabiler und nachhaltiger werden lässt. Wenn man sich allein auf schnelle Lösungen konzentriert und die eigentliche Aufgabe der Entwicklung der Eurozone zu einer soliden und echten Währungsunion nicht zu Ende führt, werden die Nationalstaaten anfällig für zukünftige Schocks bleiben. Das darf nicht das Ergebnis dieser schwierigen Zeit sein.
In der Vergangenheit hat Europa Krisen oft durch die visionäre, aber besonnene Führung der Europäischen Kommission gemeistert. Das ist es auch, was wir jetzt benötigen. Durch die Vorlage von Vorschlägen, die rasche und konkrete Ergebnisse ermöglichen, kann die Kommission die notwendige Dynamik schaffen, um die nationalen Regierungen aus ihren Sackgassen zu befreien. Denn wenn der Ausgang der gegenwärtigen Krise eine grundlegende Reform der Wirtschafts- und Währungsunion wäre, würde das Ergebnis nicht für ein deutsches, niederländisches oder mediterranes Europa stehen. Es wäre ein besseres Europa für alle.
Aus dem Englischen von Marius Mühlhausen