Während die russischen Streitkräfte in der Ukraine immer weiter an Boden gewinnen, sind der ukrainische Präsident und seine Verbündeten sich offenbar einig: Die Ukraine muss bis zum Sieg weiterkämpfen und den Status quo der Vorkriegszeit wiederherstellen. Russland werde die seit Februar eroberten Gebiete wieder räumen, die Ukraine weder die Annexion der Krim noch die abtrünnigen Republiken im Donbass anerkennen und den Beitritt zur EU und zur NATO weiter vorantreiben.
Für Russland würde ein solcher Ausgang eine klare Niederlage bedeuten. Vor dem Hintergrund, dass es bereits einen enorm hohen Preis gezahlt hat und die westlichen Wirtschaftssanktionen gegen das Land wohl nicht so bald aufgehoben werden, stünde Moskau nach diesem Krieg praktisch mit leeren Händen da und wäre dauerhaft geschwächt.
Die Unterstützer der Ukraine schlagen zwei mögliche Wege zum Sieg vor. Der erste Weg führt durch die Ukraine: Mit Hilfe des Westens, so die These, könne die Ukraine Russland militärisch besiegen, indem sie die russischen Streitkräfte entweder durch Zermürbung dezimiert oder sie geschickt ausmanövriert. Der zweite Weg führt über Moskau. Mit militärischen Erfolgen und wirtschaftlichem Druck könne der Westen den russischen Präsidenten Wladimir Putin dazu bringen, den Krieg zu beenden, oder aber bewirken, dass jemand aus seinem Umfeld ihn gewaltsam aus dem Amt drängt.
Die bisherige Strategie wird nicht zu einem ukrainischen Triumph, sondern zu einem langen, blutigen Krieg und letztlich zu einer Pattsituation führen.
Diese theoretischen Siegesszenarien stehen jedoch beide auf tönernen Füßen. Zum einen dürfte die russische Armee stark genug sein, um ihre Geländegewinne zum größten Teil verteidigen zu können. Zum anderen ist Russland wirtschaftlich so unabhängig und hat Putin das Land so fest im Griff, dass es nicht gelingen wird, den Präsidenten zur Aufgabe dieser Geländegewinne zu zwingen. Deshalb wird die bisherige Strategie mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zu einem ukrainischen Triumph, sondern zu einem langen, blutigen Krieg und letztlich zu einer Pattsituation führen. Je länger der Konflikt andauert, umso höher wird der Verlust an Menschenleben und der wirtschaftliche Schaden, aber auch die Eskalationsgefahr sein – bis hin zum möglichen Einsatz von Atomwaffen.
Die ukrainische Führung und ihre Unterstützer reden so, als wäre der Sieg bereits in greifbarer Nähe. Das erweist sich zunehmend als illusorisch. Die Ukraine und der Westen sollten daher ihre Ziele überdenken: Die Strategie, den Krieg gewinnen zu wollen, sollte einem realistischeren Ansatz weichen: Es gilt einen diplomatischen Kompromiss zu finden, der die Kämpfe beendet.
Die russische Armee ist im Donbass langsam, aber stetig auf dem Vormarsch.
Viele im Westen sind der Meinung, dass der Krieg am Boden gewonnen werden kann. Dieses Szenario sieht so aus, dass die Ukraine die Kampfkraft der russischen Armee zerstört und die russischen Streitkräfte zum Rückzug zwingt oder besiegt. Zu Beginn des Krieges zeigten die Unterstützer der Ukraine sich überzeugt, Russland könne durch Zermürbung besiegt werden. Allein schon rechnerisch – so schien es damals, als in den ersten Kriegswochen vermutlich 15 000 russische Soldaten in der Ukraine ums Leben kamen – stehe die russische Armee kurz vor dem Zusammenbruch. Diese frühen Prognosen wirken aus heutiger Sicht übertrieben optimistisch. Stattdessen ist die russische Armee im Donbass langsam, aber stetig auf dem Vormarsch. Es mag zwar sein, dass die Zermürbungsthese sich eines Tages als durchaus richtig erweisen könnte, aber das ist wohl eher unwahrscheinlich. Die Russen haben offenbar weniger Verluste erlitten, als viele dachten, oder es trotz ihrer Verluste geschafft, die Kampfkraft vieler Einheiten aufrechtzuerhalten. Bislang treiben sie immer irgendwo Reserven auf.
Während die Hypothese vom Zusammenbruch durch Zermürbung durch die Gefechtslage also bereits widerlegt ist, gibt es noch eine andere Option: Die Ukrainer könnten die Russen ausmanövrieren. Die ukrainischen Streitkräfte könnten den Gegner mit einer mechanisierten Kriegsführung, mit Panzern sowie entsprechender Infanterie und Artillerie besiegen. Weder Russland noch die Ukraine verfügen über genügend mechanisierte Kampftruppen, um ihre breiten Fronten geschlossen zu verteidigen, sodass im Prinzip beide Seiten durch schnelle, schlagkräftige mechanisierte Angriffe verwundbar sein dürften. Bislang hat sich allerdings keine der beiden Kriegsparteien für eine solche Taktik entschieden. Vielleicht ist Russland zu dem Schluss gekommen, dass es seine Einheiten für solche Angriffe nicht zusammenziehen kann, ohne dass westliche Geheimdienste dies bemerken, und die Ukraine dürfte ihrerseits unter entsprechender Beobachtung durch russische Geheimdienste stehen. Gleichwohl könnte die Ukraine mit einer raffinierten Verteidigungsstrategie den Feind dazu verleiten, sich allzu sehr zu verausgaben, und den russischen Streitkräften in die Flanken fallen und ihre Nachschublinien attackieren, wie offenbar rund um Kiew in den ersten Schlachten des Krieges bereits in kleinem Maßstab geschehen.
Dass die russische Armee sich durch geschicktes Manövrieren besiegen lässt, ist ebenso unwahrscheinlich wie ein Kollaps der russischen Armee durch Zermürbung.
Dass die russische Armee sich durch geschicktes Manövrieren besiegen lässt, ist jedoch ebenso unwahrscheinlich wie ein Kollaps der russischen Armee durch Zermürbung. Die Russen scheinen die Listen, die die Ukraine anfangs angewandt hat, inzwischen zu durchschauen. Auch wenn nur wenige Einzelheiten bekannt sind, waren bei den jüngsten Gegenangriffen der Ukraine in der Region Cherson der Überraschungseffekt und das Manövergeschick offenbar nicht besonders groß. Vielmehr gestalteten diese Offensiven sich offenbar ähnlich langsam und zermürbend wie die russischen Angriffe im Donbass. Dass sich an diesem Grundmuster viel ändert, ist unwahrscheinlich. Auch die Vorstellung, der Westen könnte die Ukraine mit so leistungsfähigen Technologien ausstatten, dass sie die russische Armee durch Zermürbung oder mobile Kriegsführung besiegen könnte, ist abwegig. Russland hat in Sachen Bevölkerung und Wirtschaftsleistung einen Vorsprung von drei zu eins, der selbst mit dem modernsten technischen Instrumentarium schwer zu kompensieren ist. Moderne westliche Waffen wie die Panzerabwehrlenkraketen vom Typ Javelin und NLAW haben der Ukraine vermutlich geholfen, Russland einen hohen Preis zahlen zu lassen. Bislang wurde diese Technologie jedoch vor allem genutzt, um die taktischen Vorteile zu verstärken, die die Verteidiger ohnehin schon haben. Weitaus schwieriger ist es, mit solchen hochentwickelten Technologien einen Gegner anzugreifen, der zahlenmäßig deutlich überlegen ist, denn dazu müssten sowohl die Überzahl als auch die taktischen Verteidigungsvorteile kompensiert werden. Im Falle der Ukraine ist nicht ersichtlich, mit welchen westlichen Spezialtechnologien die ukrainische Armee sich einen so großen Vorteil verschaffen könnte, dass sie die russische Verteidigung aushebeln könnte.
Wenn Kiew auf den Schlachtfeldern der Ukraine nicht gewinnen kann, könnte es vielleicht in Moskau einen Sieg erringen. Dieses zweite theoretische Siegesszenario basiert auf der Annahme, Russland könnte durch eine Kombination aus militärischer Zermürbung und wirtschaftlichem Druck dazu gebracht werden, den Krieg zu beenden und die eroberten Gebiete zu räumen.
Diese Theorie geht davon aus, dass die militärischen Verluste die Familienangehörigen der getöteten, verletzten und leidenden russischen Soldaten gegen Putin aufbringen und der wirtschaftliche Druck das Leben der Durchschnittsrussen immer stärker beeinträchtigen könnte. Putin sähe seine Popularität schwinden und müsste befürchten, dass seine politische Karriere vielleicht bald zu Ende wäre, wenn er den Krieg nicht stoppte. Eine andere Möglichkeit wäre, dass Putin nicht realisieren würde, wie schnell die militärische Zermürbung und die wirtschaftliche Not seinen Rückhalt erodieren lassen, und dass Akteure in seinem Umfeld dies erkennen und aus reinem Eigeninteresse den Präsidenten absetzen oder gar hinrichten würden. Sobald sie an der Macht wären, würden sie sich um Frieden bemühen. Beide Szenarien würden bedeuten, dass Russland seine Niederlage eingesteht.
Doch auch dieser Weg zum ukrainischen Sieg ist voller Hindernisse. Zum einen ist Putin ein erfahrener Geheimdienstler, der sich vermutlich bestens mit Verschwörungen auskennt und genau weiß, wie er sie abwehren kann. Das allein schon lässt eine Strategie des Regimewechsels fraglich erscheinen, selbst wenn es in Moskau einige Akteure gäbe, die bereit wären, ihr Leben für einen solchen Versuch aufs Spiel zu setzen. Zum anderen dürfte der Druck auf die russische Wirtschaft keine so große Not bewirken, dass Putin politisch ernsthaft in Bedrängnis geriete. Der Westen kann das Leben der Russen zwar ein wenig erschweren und dafür sorgen, dass russische Waffenhersteller keine hochentwickelten elektronischen Bauteile mehr importieren können. Aber dass er damit Putin oder seine Herrschaft ernsthaft ins Wanken bringen könnte, ist unwahrscheinlich. Russland ist ein riesiges und bevölkerungsreiches Land mit großen Anbauflächen, reichen Energiereserven, vielen anderen natürlichen Ressourcen und einer starken, wenn auch veralteten Industriestruktur.
Großmächte nehmen über Jahre hinweg große Verluste in Kauf, wie die USA in Vietnam, Afghanistan und im Irak und die Sowjetunion in Afghanistan gezeigt haben.
Schwieriger zu beurteilen ist hingegen, wie die Verluste sich auf Putins Interessenkalkül auswirken. Doch auch hier ist Skepsis angebracht. Großmächte nehmen – mitunter aus nicht sehr stichhaltigen Gründen – über Jahre hinweg große Verluste in Kauf, wie die USA in Vietnam, Afghanistan und im Irak und die Sowjetunion in Afghanistan gezeigt haben. Vor der russischen Invasion im Februar drängten viele im Westen darauf, die Ukrainer sollten einen Guerilla-Aufstand gegen Russland organisieren in der Hoffnung, einen russischen Angriff von vornherein zu verhindern oder immerhin die russischen Streitkräfte einen so hohen Preis zahlen zu lassen, dass sie rasch wieder abziehen würden. Ein Problem bei dieser Strategie ist, dass die Aufständischen dafür selbst viel erleiden müssten. Die Ukrainer sind vielleicht bereit, in einem konventionellen Zermürbungskrieg gegen Russland schmerzhafte Verluste auf sich zu nehmen, aber ob sie dem Gegner so zusetzen könnten, dass sie den erhofften Sieg erringen würden, ist fraglich. Ebenso fraglich ist, ob sie solche Verluste über einen längeren Zeitraum verkraften könnten.
Niemand kann mit Gewissheit sagen, ob die russische Armee durch erbitterte Gegenwehr oder kluges Agieren nicht doch geschlagen werden könnte oder ob die Ukraine ihr so schwere Verluste beibringen könnte, dass Putin aufgeben müsste. Beides ist allerdings höchst unwahrscheinlich. Am wahrscheinlichsten ist im Augenblick eine Pattsituation, bei der sich auch nach monatelangen oder jahrelangen Kämpfen wenig an den gegenwärtigen Kampflinien ändert. In den kommenden Monaten und Jahren werden sowohl Russland als auch die Ukraine viel erleiden und letztlich nicht viel mehr erreichen als das, was sie bereits erreicht haben: für Russland überschaubare Gebietsgewinne, die wie Pyrrhussiege wirken, und für die Ukraine eine starke, unabhängige und souveräne Regierung, die den größten Teil des Vorkriegsterritoriums kontrolliert. Irgendwann werden die beiden Länder es wohl für ratsam halten, sich an den Verhandlungstisch zu begeben. Dabei werden beide einsehen müssen, dass es um wirkliche Verhandlungen gehen sollte und jede Seite etwas für sie Wertvolles wird aufgeben müssen.
Wenn dies das wahrscheinlichste Endresultat ist, macht es wenig Sinn, dass die westlichen Länder noch mehr Waffen und Geld in einen Krieg stecken, der mit jeder Woche mehr Tod und Zerstörung bringt. Die Verbündeten der Ukraine sollten dem Land weiterhin das zur Verfügung stellen, was es braucht, um sich gegen künftige russische Angriffe zu verteidigen, aber sie sollten die Ukraine nicht ermuntern, Ressourcen für Gegenangriffe einzusetzen, die sich wahrscheinlich als sinnlos erweisen werden. Vielmehr sollte sich der Westen jetzt um eine Verhandlungslösung bemühen.
Eine Lösung des Krieges auf dem Verhandlungsweg wäre zweifellos schwer zu erreichen, aber die Konturen einer Einigung sind bereits erkennbar.
Eine Lösung des Krieges auf dem Verhandlungsweg wäre zweifellos schwer zu erreichen, aber die Konturen einer Einigung sind bereits erkennbar. Jede Seite müsste schmerzhafte Zugeständnisse machen. Die Ukraine müsste beträchtliche Gebiete abtreten und dies schriftlich festhalten. Russland müsste auf einen Teil seiner Geländegewinne und auf künftige Gebietsansprüche verzichten. Um künftige russische Angriffe zu verhindern, bräuchte die Ukraine verlässliche militärische Unterstützungszusagen seitens der USA und Europas sowie die Fortsetzung der Militärhilfe (jedoch hauptsächlich in Form von defensiven und nicht von offensiven Waffen). Russland müsste die Rechtmäßigkeit dieser Übereinkünfte anerkennen. Der Westen müsste sich bereit erklären, viele der gegen Russland verhängten Wirtschaftssanktionen zu lockern. Die NATO und Russland müssten neue Verhandlungen aufnehmen, um Militärstationierungen und -interaktionen entlang ihrer jeweiligen Grenzen zu beschränken. Eine entscheidende Voraussetzung für eine diplomatische Lösung wäre, dass die USA eine Führungsrolle übernehmen. Da die Vereinigten Staaten der wichtigste Geldgeber der Ukraine sind und den wirtschaftlichen Druck des Westens auf Russland organisieren, haben sie den größten Einfluss auf beide Parteien.
Diese Grundpositionen zu formulieren, ist leichter, als sie in einem Abkommen konkret festzuschreiben. Gerade deshalb sollten die Verhandlungen eher früher als später beginnen. Die theoretischen Siegesszenarien der Ukraine und des Westens stehen argumentativ auf schwachen Füßen. Im besten Fall führen sie zu einer schmerzhaften Pattsituation, die einen hohen Preis fordert und bei der ein großer Teil des ukrainischen Staatsgebiets in russischer Hand bleibt. Wenn dies das Maximum ist, was von weiteren monate- oder jahrelangen Kämpfen zu erhoffen ist, dann gibt es nur eine Möglichkeit, verantwortungsvoll zu handeln: eine diplomatische Beendigung des Krieges anzustreben – und zwar jetzt.
Gekürzte Fassung des Beitrags „Ukraine’s Implausible Theories of Victory“. © Foreign Affairs
Aus dem Englischen von Christine Hardung