„Die Tür steht offen. Wir warten auf Ihre Beiträge.“ Ungewöhnlich für Gewerkschaften dies beim Thema des sozialen Europas zu hören, aber so in etwa klang es aus der Europäischen Kommission, als sie sich 2015 mit der Idee einer Europäischen Säule Sozialer Rechte an die Zivilgesellschaft und speziell auch die Gewerkschaften wandte. Was war geschehen?
Ein 2015 neu ins Amt gekommener EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hatte erstens verlautbart, die EU in den Zustand eines „sozialen AAA-Ratings“ versetzen zu wollen. Zweitens hatte er einen Neustart für den Europäischen Sozialdialog ausgerufen und, drittens, in seiner Rede zur Lage der Union die Einführung einer Europäischen Säule Sozialer Rechte angekündigt, mit der Sozialstandards auf europäischer Ebene gestärkt werden sollten.
Was konnten sich Gewerkschaften mehr wünschen, als nach den sozialpolitisch dürftigen Jahren der Barroso-Kommission endlich zu einer umfassenden europäischen sozialen Initiative um Meinung gefragt zu werden! Leider jedoch hatte die EU-Kommission mit ihrem ersten Aufruf außer der Überschrift kaum inhaltliche Grundlagen und Umrisse dessen mitgeliefert, wozu sich die Gewerkschaften konkreter äußern sollten. Auch der Begriff der Säule als solcher blieb unscharf.
Tatsächlich nehmen sich Vertreter der EU-Kommission auch Zeit, einzelne Länderberichte mit Vertretern der Gewerkschaften exklusiv durchzusprechen. Hier kann also auf höchster EU-Ebene Einfluss und Druck auf die eigenen, nationalen Regierungen genommen werden.
Es mangelte natürlich nicht an gewerkschaftlichen Ideen und Forderungen. In der Folge diskutierten die Gewerkschaften umfassende Wunschlisten, was die Säule endlich alles beinhalten solle oder berieten darüber, in welchen Detailbereichen aufgrund der EU-Kompetenzen überhaupt Verbindliches zu erreichen wäre. Das war zweifelsfrei alles richtig und über die Jahre hatte sich einiges angestaut. Wer jedoch die strukturierte und ressortspezifische interne Arbeitsweise der EU-Kommission kennt, dem war klar, dass ein breiter Schuss ins Blaue wenig Aussicht auf konkrete Verwendung haben würde.
Insgesamt schien es hier der EU-Kommission letztlich mehr um den Konsultationsprozess selbst zu gehen und die Gelegenheit, Fragen des sozialen Europas öffentlich zu diskutieren, weniger aber um tatsächliche inhaltliche Anregungen. Im Verhältnis zu Aufwand und Erwartungen blieb nicht nur für Gewerkschaften das Ergebnis der schließlich im November 2017 proklamierten Europäischen Säule Sozialer Rechte enttäuschend. Sie umfasste 20 wenig verbindliche Grundsätze und wurde kaum von neuer europäischer Gesetzgebung begleitet. Diese verpasste Chance förderte Frust und Kritik darüber, dass derartige Anhörungen und Konsultationen eher Alibicharakter haben.
Eine neue Dialogatmosphäre mit der EU-Kommission
Nichtsdestotrotz muss der Juncker-Kommission auch zugutegehalten werden, dass sich einige Türspalte für Gewerkschaften weiter geöffnet haben. So wird in den Mitteilungen der EU-Kommission inzwischen vielzählig auf die zentrale Rolle der Sozialpartner auf europäischer Ebene und in den Mitgliedstaaten hingewiesen (wobei offen bleibt, was dies im Einzelnen bedeuten könnte).
Auch scheint die Dialogbereitschaft einzelner Kommissionsstellen mit Sozialpartnern und Sozialverbänden gestiegen zu sein. Sie sind zu offiziellen Anhörungen zu Gesetzesvorhaben eingeladen und vorgelagert finden auch oft noch informellere Treffen zur sozialpolitischen Bestandsaufnahme statt. Offenbar ist hier eine neue Dialogatmosphäre entstanden, die Gewerkschaften, Sozialverbände und organisierte Zivilgesellschaft nutzen können.
Seit 2015 werden die Sozialpartner außerdem stärker in das sogenannte Europäische Semester eingebunden, das sich zum Angelpunkt der wirtschaftspolitischen Koordinierung entwickelt hat. Im Rahmen des Semesters werden im jährlichen Rhythmus zentrale wirtschafts-, arbeitsmarkt- und sozialpolitische Entwicklungen in den Mitgliedstaaten bewertet, was später zu den nicht unerheblichen länderspezifischen Empfehlungen führt, die der EU-Ministerrat verabschiedet.
Zur besseren Einbindung der Sozialpartner wurden zum Beispiel einige Verfahren entzerrt, neue Abläufe mit den Sozialpartnern eingeführt oder formalisiert. Außerdem werden zentrale Dokumente wie der Jahreswachstumsbericht und die länderspezifischen Empfehlungen der EU-Kommission im Semesterzyklus nun früher als bislang veröffentlicht. Hierdurch entsteht den beteiligten Akteuren etwas mehr Zeit zur Auseinandersetzung mit den Dokumenten.
Es drängt sich nichtsdestotrotz der Eindruck auf, dass mehr Möglichkeiten zur Partizipation nicht unbedingt die Partizipation fördern. Dann nämlich, wenn es Gewerkschaften an Kapazitäten fehlt, sich kontinuierlich an den Beratungsprozessen zu beteiligen.
Noch wichtiger ist die seit 2016 mit der Kommission stattfindende Vorabberatung der europäischen und auch nationalen Sozialpartner zu den einzelnen Länderberichten. Tatsächlich nehmen sich Vertreter der EU-Kommission auch Zeit, wenn es gewünscht wird, einzelne Länderberichte mit Vertretern der Gewerkschaften exklusiv durchzusprechen. Hier kann also auf höchster EU-Ebene Einfluss und Druck auf die eigenen, nationalen Regierungen genommen werden.
In einem generell dem Dialog zuträglicheren Klima, ist damit das Europäische Semester als der zentrale wirtschaftspolitische Steuerungsprozess ein ganzes Stück zugänglicher geworden. Zu diesem Trend passt auch, dass der sozial- und arbeitsmarktpolitische Gehalt der sogenannten länderspezifischen Empfehlungen an die Mitgliedstaaten über die letzten Jahre stetig zugenommen hat, sodass auch die inhaltlichen Anknüpfungspunkte für die Inputs von Gewerkschaften und Sozialverbänden vielfältiger und konkreter geworden sind.
Es gibt also neue kleinere und größere Möglichkeitsfenster für Gewerkschaften, um sich insbesondere in den Verfahren der EU-Kommission Gehör zu verschaffen. Es kann hier nur der Appell an die Gewerkschaften gerichtet werden: Nutzt dies! Nutzt dies gegenüber der EU-Kommission und gegenüber den jeweiligen Regierungen.
Aber reicht das? Es drängt sich nichtsdestotrotz der Eindruck auf, dass mehr Möglichkeiten zur Partizipation nicht unbedingt die Partizipation fördern. Dann nämlich, wenn es zum einen vielen Gewerkschaften an Kapazitäten fehlt, sich kontinuierlich mit möglichst juristisch und empirisch fundierten Positionen und Konzepten auf qualitativ hohem Niveau und in Sprache und Duktus der Kommission an den Beratungsprozessen zu beteiligen.
Zum anderen werden gerade diese Kapazitäten durch EU-Politik in den Mitgliedstaaten auf anderen Politikfeldern ausgehöhlt und geschwächt. Gemeint sind insbesondere die Austeritäts- und Strukturreformansätze, aber auch Binnenmarktpolitik, die die Existenzgrundlagen der Gewerkschaften betreffen. Und schließlich werden die aufwändig eingebrachten Positionen zwar freundlich und respektvoll von einer dialogbereiten EU-Kommission entgegengenommen, schlagen sich aber am Ende kaum signifikant in den europäischen Politikansätzen nieder.
Wägen Gewerkschaften vor diesem Hintergrund ab, in welche Aktivitäten sie ihre begrenzten materiellen und politischen Ressourcen investieren, ist es leider gut nachvollziehbar, wenn einige nicht immer voll auf europäische Konsultationsangebote eingehen wollen oder können. Zumindest hat die EU-Kommission Projektgelder zur besseren Mitwirkung nationaler Gewerkschaften am europäischen Semester bereitgestellt. Doch selbst die Beteiligung an diesen Projekten erforderte Überzeugungsarbeit bei einigen nationalen Gewerkschaften. Dabei ist der Kapazitätenaufbau insbesondere für die jüngeren EU-Länder in Südosteuropa wichtig, um die Anliegen der dortigen Gewerkschaften effektiver in die Brüsseler Politik einzubringen.
Aufgrund ihrer Erfahrungen mit europäischen Initiativen insbesondere seit der Wirtschafts- und Finanzkrise stellen Gewerkschaften anstatt auf Mitwirkung eher auf Abwehrmodus oder zumindest skeptische Kritik. Denn trotz aller erwähnten Bemühungen ist das scheinbar auf ewig in den EU-Verträgen verankerte Gewicht marktschaffender und wettbewerbsorientierter Ansätze deutlich dominierend. Demgegenüber ist marktkorrigierendes, regelsetzendes, arbeitsrechtliches und sozialpolitisches Vorgehen unterlegen. Dies ließe sich nur über neue, progressivere politische Mehrheitsverhältnisse in der EU und ihren Mitgliedstaaten ändern. Darauf dürfte die Europawahl 2019 einen ersten Hinweis geben.