Das Interview führten Liudmila Kotlyarova und Roland Bathon.

Russland hat in der Ukraine eine Militäroffensive gestartet, die von vielen Ländern hart verurteilt wird. Was sind Präsident Putins Motive?

Die Motive der russischen Führung werden von ihr selbst dargelegt. Als Wissenschaftler müssen wir die Fakten erfassen, die wir erhalten, um sie zu analysieren. Leider liegen jetzt natürlich viele Emotionen in der Luft. Wir müssen einen kühlen Kopf bewahren und uns auf unsere Arbeit konzentrieren – ohne Emotionen.

Die US-Geheimdienste wollen schon vorher eine Eroberung in einer Zangenbewegung als Putins Plan vorhergesagt haben. Dazu gehören die Einnahme von Kiew und die Einsetzung einer Marionettenregierung. Wie unterscheidet sich das von einer reinen „Spezialoperation zum Schutz von Donbass“, wie es die russische Führung angibt?

Ich habe das Kriegsszenario, das wir jetzt haben, schon im November beschrieben. Von allen Szenarien, die wir Wissenschaftler diskutierten, erschien das militärische am unwahrscheinlichsten – wegen der hohen Kosten für alle, auch für Russland selbst. Und doch ist es nun dazu gekommen. Uns drohen jetzt härteste Sanktionen der EU, der USA und weiterer Staaten. Sie stellen eine ernste Bedrohung für unsere Wirtschaft dar.

Zudem wird es eine politische Konfrontation in Europa geben. Der Dialog ist beendet. Die NATO wird zwangsläufig Militär in Osteuropa gegen Russland zusammenziehen. Das Fenster für die Diplomatie schließt sich jetzt, solange dieser Konflikt dauert. Der Westen wird in dieser Situation nicht mehr verhandeln.

Uns drohen jetzt härteste Sanktionen der EU, der USA und weiterer Staaten. Sie stellen eine ernste Bedrohung für unsere Wirtschaft dar.

Tatsächlich rechneten viele Experten nicht mit einem Krieg – weil es angesichts der verheerenden Folgen nicht im Interesse Russlands sei. Warum hat die russische Führung nun trotzdem so gehandelt?

Vorneweg: Ich kann nicht für die russische Führung sprechen, ich bin kein Regierungsvertreter. Die Kosten für Russland werden schwerwiegend sein, vor allem für die Wirtschaft. Es wird Geschichte geschrieben, wenn ökonomische Rationalität aus politischen Motiven absorbiert wird.

Zur aktuellen Situation in der Ukraine hat nicht nur eine Kette von Entscheidungen in Moskau, sondern auch eine in Kiew und im Westen geführt. Natürlich hat Putins Entscheidung nun die tektonischen Bewegungen in Gang gesetzt. Aber bereits davor gab es eine Reihe von aufeinanderfolgenden Bewegungen auf allen Seiten. Ich will niemanden verurteilen oder anklagen. Es finden aktuell gravierende Veränderungen statt, mit denen wir lange werden leben müssen.

Der österreichische Russlandexperte Gerhard Mangott hat uns kürzlich in einem Gespräch gesagt, dass gemäßigte Experten im Umfeld des Kremls von Kriegstreibern verdrängt wurden.

Wir befinden uns an einem Punkt, an dem sich die Ansichten der Hardliner durchsetzen. Neben den Experten gibt es aber auch Beamte in den Ministerien – es ist ein komplexes Entscheidungssystem. Deswegen würde ich nicht pauschal sagen, dass Experten ausgewechselt wurden. Mal wiegen bestimmte Meinungen schwerer, mal andere.

Das Fenster für die Diplomatie schließt sich jetzt, solange dieser Konflikt dauert. Der Westen wird in dieser Situation nicht mehr verhandeln.

Putin meint, er habe bei der Anerkennung der „Donbass-Republiken“ die Unterstützung der Mehrheit der Russen auf seiner Seite. Aber öffentlichen Beifall für die militärische Offensive spürt man anders als 2014 bei der Krim nicht. Wie beurteilen Sie die Haltung der Russen zu diesem militärischen Schritt? Große Proteste gibt es in Russland bislang kaum.

Das Fehlen von Protesten sagt nichts über die Einstellung der Leute aus. Wenn keiner auf die Straße geht, bedeutet das weder etwas Positives noch etwas Negatives über die Überzeugung der Menschen. Als Soziologe kann ich Ihnen sagen, dass sich – selbst wenn manche hinter diesen oder jenen Schritt ein Ja setzen würden – hinter der Antwort zahlreiche Details verstecken, die offenbaren, dass die Person ganz anders denkt als die Entscheidungsträger.

Bei der letzten Umfrage des staatlichen Instituts WZIOM wurde nach der Aufnahme von Flüchtlingen aus dem Donbass und nach der Anerkennung des Donbass gefragt. Da war die große Mehrheit der Befragten tatsächlich dafür. Beides bezog sich aber nicht auf eine Militäraktion.

Genau. Da gibt es viele Nuancen. Für mich als Wissenschaftler wäre es interessant, genauere Daten von Fokusgruppen zu analysieren. Aber solche Daten habe ich noch nicht gesehen.

In seiner Rede spricht Putin viel von der Erweiterung der NATO. Dass es nicht akzeptabel sei, deren Infrastruktur in der Ukraine zu stationieren, genauso wie die Schaffung eines „Anti-Russlands“ in Gebieten, die historisch zu Russland gehörten. Ist der aktuelle Konflikt für ihn zwischen Russland und der NATO und nicht mit der Ukraine?

Das ist eine Sache der Interpretation.

Ist das russische Militär im Krieg mit der ukrainischen Bevölkerung?

In seiner Begründung spricht Putin von einem Krieg gegen das Regime, nicht gegen das Volk. Das ist aber Standard. Die entscheidende Frage ist natürlich, wie sich der Krieg auf die Bevölkerung auswirken wird. Wie lange wird er dauern? Hoffen wir, dass es nicht zu vielen Toten kommen wird – egal ob militärisch oder zivil. Aber die harte Reaktion des Westens ist sicher. Sie bedeutet einen neuen Eisernen Vorhang und eine neue Seite in Europas Geschichte.

Wir befinden uns an einem Punkt, an dem sich die Ansichten der Hardliner durchsetzen.

Von der EU kommt jetzt ein hartes Sanktionspaket gegen Russland, vor allem gegen den Finanzsektor. Werden die Sanktionen Putin an den Verhandlungstisch zurückbringen?

Ich glaube nicht, dass es in naher Zukunft Verhandlungen geben wird. Sanktionen werden in der Regel konzipiert, um für das Zielland den Preis für eine bestimmte Politik deutlich zu erhöhen. Sie werden jetzt wegen des entstandenen Schadens zur Abschreckung verhängt.

In der Tat wurden mehrere Treffen von Spitzenpolitikern abgesagt. Könnten die Sanktionen des Westens auch darauf abzielen, Unzufriedenheit in Russlands Bevölkerung hervorzurufen, damit diese gegen ihre Führung aktiv wird?

Diese Idee ist nicht neu. Man hat bereits versucht, sie auf den Iran anzuwenden. Dort hat es nicht funktioniert. Bei Russland ist eine Prognose schwierig. Die Folgen der Sanktionen werden schwer sein, sowohl für das russische Wirtschaftswachstum als auch für die Modernisierungsbemühungen. Die Menschen in Russland werden kurz- und mittelfristig unter Schäden und einer Verschlechterung der Lebensqualität leiden, vielleicht sogar langfristig. Aber inwieweit entsteht dadurch eine politische Aktivität? Das ist noch nicht abzusehen. Sie muss auch nicht zwingend eintreten.

Die aktuelle Situation kann für China sogar vorteilhaft sein. Trotz der wachsenden Konfrontation zwischen den USA und China verlagert sich die Aufmerksamkeit auf Russland und Europa.

Wie verhält sich China? Könnte China eine vermittelnde Rolle einnehmen?

Ich denke nicht. In der gemeinsamen Erklärung von Putin und Xi Jinping steht, dass China die Ansprüche Russlands gegen die NATO als legitim anerkennt. Wenn man die Rede des chinesischen Außenministers auf der Münchner Sicherheitskonferenz anschaut, fordert er beide Seiten zur Umsetzung der Minsker Vereinbarung auf. Mir ist bislang keine Einschätzung der Chinesen zur aktuellen Militäraktion bekannt. Ich sehe sie noch nicht als Vermittler. Die aktuelle Situation kann für China sogar vorteilhaft sein. Trotz der wachsenden Konfrontation zwischen den USA und China verlagert sich die Aufmerksamkeit auf Russland und Europa. China hat eine Verschnaufpause und kann Zeit gewinnen.