Die Fragen stellte Philipp Kauppert.
Das lang erwartete Urteil im Prozess wegen der Veruntreuung von EU-Geldern gegen die Vorsitzende des rechtsextremen Rassemblement National (RN) hat hohe Wellen geschlagen. Wie waren die Reaktionen in Frankreich?
Schock, Ungläubigkeit und Stellungnahmen, die das Vertrauen in das demokratische System schwer beschädigen. Kurz, es ist ein auf unterschiedlichsten Ebenen folgenreiches Urteil, in jeder Hinsicht. Nicht nur drohen Marine Le Pen mindestens zwei Jahre Haft und eine Geldstrafe von 100 000 Euro. Das Gericht hielt es auch für angemessen, der Politikerin mit sofortiger Wirkung für fünf Jahre zu verbieten, für politische Ämter zu kandidieren. Damit wird faktisch auch ihre Kandidatur bei der Präsidentschaftswahl 2027 untersagt.
Der Rassemblement National, die Partei Marine Le Pens, könnte das Urteil nun aber für eine politische Kampagne missbrauchen. Wie schätzt du das ein?
Marine Le Pen und ihre Partei halten auch nach der Urteilsverkündung völlig reuelos an ihrer Unschuld fest. Damit tappen sie zunächst in ihre eigene Propagandafalle. Im Le-Pen-Lager scheint man ernsthaft schockiert. Le Pen verließ den Gerichtssaal, noch während das Urteil verlesen wurde, und zeigte damit deutlich ihre Verachtung für den Rechtsstaat. Zur Erinnerung: Die Führungsriege des RN, einer Anti-EU-Partei, hatte über zwölf Jahre hinweg systematisch EU-Gelder in Millionenhöhe veruntreut. Das Gericht hat Marine Le Pen dafür keineswegs härter bestraft als andere Betrüger in Frankreich, oder sogar andere hochrangige Politiker.
Das Urteil hat die Partei nun eben mal geköpft – und ihrer schon ins Präsidentenamt geträumten Gallionsfigur den Kopf abgeschlagen.
Nur erliegt der RN dem Wahn, dass Gesetze für ihn nicht gelten würden. Das Urteil hat die Partei nun eben mal geköpft – und ihrer schon ins Präsidentenamt geträumten Gallionsfigur den Kopf abgeschlagen. Klar, dass der RN schäumt. Der zeigte aber schnelle Reaktion und begann sofort mit dem Verteilen von Flugblättern und einer Medienkampagne, um die Öffentlichkeit gegen den ihrer Meinung nach „demokratischen Skandal“ aufzuhetzen. Donald Trump hat es schließlich vorgemacht: Juristische Niederlagen lassen sich als Steilvorlagen für erfolgreiche Opferkampagnen nutzen.
Schwer verständlich ist, dass sich Mitte-rechts-Parteien der RN-Kritik mehr oder weniger anschließen. Wie ist das zu erklären?
Die Reaktionen von der gemäßigten Rechten, aber auch von der linkspopulistischen Partei La France Insoumise (LFI) und zum Teil sogar aus der aktuellen Regierung sind verstörend. Das zeigt einmal mehr, wie tief die Krise ist, in der sich die französische Demokratie tatsächlich befindet. Anstatt klar und deutlich den Rechtsstaat zu verteidigen, wie es etwa die Sozialisten im Laufe des Tages taten, trompeten diese Parteien und die Regierung in das RN-Horn. Nach anfänglich beredtem Schweigen ließen Mitarbeitende des Premierministers François Bayrou, der selbst in eine Affäre um parlamentarische Assistenten verwickelt ist, verlauten, er sei „beunruhigt über die Urteilsbegründung“. Schon 2024 hatte er das Szenario einer sofortigen Unwählbarkeit Le Pens als „störend“ bezeichnet. Auch der aktuelle Justizminister, Gérald Darmanin, hatte es letztes Jahr „schockierend“ genannt, sollte Le Pen verurteilt werden. Zahlreiche Politiker aus dem Mitte-rechts-Lager nennen das Urteil „politisch bedenklich“ oder sogar „gefährlich für die Demokratie“. Damit verdrehen sie die Fakten und stellen den gesamten Rechtsstaat in Frage. Das ist gefährlich, nicht das Urteil selbst.
Das heißt, das Urteil wird weitreichende politische Folgen haben. Was bedeutet das mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen 2027?
Mit Sicherheit wird es massive politische Folgen geben. Aber es ist kein politisch motiviertes Urteil. Das Gericht muss Gesetze anwenden, die hier grob und systematisch missachtet wurden. Natürlich wird das nun Verschwörungstheorien aller Art beflügeln. Denn ausgerechnet der Politikerin, die nach heutigen Umfragewerten die besten Chancen hätte, 2027 ins französische Präsidentenamt gewählt zu werden, wird dieser Weg per Gericht wohlbegründet versperrt. Das ist ein politisches Erdbeben. Viele Wählerinnen und Wähler, vor allem Anhänger des RN, werden das nicht akzeptieren. Das Urteil könnte selbst über Frankreich hinaus Folgen auf EU-Ebene haben, denn offensichtlich ist es zu einfach, das EU-System auszutricksen und Gelder zu veruntreuen. Das muss auch andere Parteien mit EU-Abgeordneten alarmieren.
Und wie waren bisher die Reaktionen auf progressiver Seite? Gibt es Unterschiede zwischen den Sozialisten und der extremen Linken?
Einmal mehr überraschte Jean-Luc Mélenchon mit einem seiner typischen Hakenschläge. Der LFI-Vorsitzenden ist übrigens ebenfalls seit der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens im Jahr 2018 wegen Verstößen und Unregelmäßigkeiten in seiner Zeit als EU-Abgeordneter angeklagt. Zwar verlas er das neutrale Statement seiner Partei, betonte aber, dass er „grundsätzlich“ die vorläufige Vollstreckung in Bezug auf die Nichtwählbarkeit ablehne. Unter Missachtung des rechtsstaatlichen Urteils betonte auch er, dass die Entscheidung, einen Abgeordneten seines Amtes zu entheben, dem Volk überlassen werden solle. Diese Aussage hat innerhalb der französischen Linken für ziemlich viel Ärger und Unmut gesorgt. Für ihn und seine Kandidatur für das Präsidentenamt ist die Aussicht auf den Verlust seiner rechtsextremen Gegnerin strategisch von Nachteil.
François Hollande kommentierte kritisch, dass der Premierminister nicht „verstört“ sein solle, schließlich sei er der Hüter des Gesetzes.
In der übrigen Linken war die Tonalität deutlich anders. Hier verwies man auf die rhetorischen Angriffe des Rassemblement National, der immer bereit ist, die Korruption der anderen Parteien, der vermeintlichen „oberen Kasten“ anzugreifen. Zu Recht kritisierten grüne und linke Politiker die Angriffe auf den Rechtsstaat, der bereits durch die Regierung unter Präsident Macron arg beschädigt worden sei. Auf Seiten der Sozialistischen Partei erinnerte allen voran der Abgeordnete und Kandidat für den Bürgermeisterposten in Paris, Emmanuel Grégoire, an die Gleichheit vor dem Gesetz. Er betonte, dass diejenigen irren, die glauben, sich in einer „Weihe durch Umfragen“ rühmen zu können, um sich vom Respekt vor dem Gesetz zu befreien. Der frühere Präsident und heutige PS-Abgeordnete François Hollande kommentierte kritisch, dass der Premierminister nicht „verstört“ sein solle, schließlich sei er der Hüter des Gesetzes.
Welche Auswirkungen wird das Urteil auf den weiteren Wettbewerb zwischen den Parteien und das politische System insgesamt haben?
Es ist völlig klar, dass sich der RN nun neu formieren müssen wird. Denn im Solarsystem des RN ist Marine Le Pen die Sonne, um die sich alles dreht. Die Wählerbasis dürfte allerdings recht widerstandsfähig sein und die Partei auch mit einer neuen Führung weiterhin unterstützen. Le Pens Unwählbarkeit ebnet jetzt eben etwas vorzeitiger den Weg für ihren Adlatus und jetzigen Vorsitzenden, Jordan Bardella – und auch für eine Neuausrichtung an der Parteispitze. Der RN hat bisher stets behauptet, einen Strategieplan für alle Eventualitäten in der Tasche zu haben und quasi startklar zu sein für das Regieren. Noch hat man davon jedoch nicht viel gemerkt. Es bleibt auch abzuwarten, wie sich das politische Feld insgesamt neu sortiert. Denn auch für die anderen rechtskonservativen Parteien könnten die Karten im Hinblick auf 2027 nun neu gemischt werden. Fakt ist: In Frankreich kommt jetzt einiges in Bewegung.