Im polnischen Verteidigungssektor vollzieht sich derzeit in aller Stille ein Wandel der Geschlechterverhältnisse. Diese Dynamik hat die illiberale Regierung bislang für ihre Zwecke genutzt. Wenn die liberale Linke ihre Bedeutungslosigkeit überwinden will, muss sie dringend Boden gutmachen.
Als 2020 die Jugend in Massen auf die Straße ging, um gegen das Abtreibungsverbot der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) zu protestieren, sprachen Beobachter von einer sich im Land anbahnenden sozialen Revolution. Angeführt von jungen Frauen und ganz im Zeichen der Geschlechtergleichstellung zeigte diese Generationsrevolte, dass paternalistische Normen und die bisherigen politischen Arrangements nicht mehr zum realen Lebensstil junger Menschen passen.
Doch dieser Wandel spielt sich nicht nur auf der Straße ab, sondern vollzieht sich längst auch an weniger sichtbaren Stellen. Die liberale Linke hat dies nicht erkannt und so den illiberalen Kräften den Raum gelassen, daraus Kapital zu schlagen. Nirgends zeigt sich dies so deutlich wie beim freiwilligen Engagement von Bürgerinnen und Bürgern in der Landesverteidigung.
Das Grundgefühl von geopolitischer Stabilität nach 1989 führte dazu, dass Polen seine Armee verkleinerte und professionalisierte und dass die Bürgerinnen und Bürger sich Schritt für Schritt aus dem militärischen Bereich zurückzogen. Die Professionalisierung des Verteidigungswesens blieb lange reine „Männersache“, obwohl seit dem NATO-Beitritt auch Frauen eine militärische Laufbahn offenstand. 2016 stellten Frauen weniger als fünf Prozent des Militärpersonals, und die geltenden Bestimmungen machten den Militärdienst für Männer zur Bürgerpflicht.
2016 stellten Frauen weniger als fünf Prozent des Militärpersonals.
Dadurch entstanden in der polnischen Gesellschaft erhebliche geschlechtsspezifische Unterschiede, was die Kenntnisse und Kompetenzen in Verteidigungsfragen betrifft. 2014 berichtete das Meinungsforschungsinstitut CBOS, dass 45 Prozent der Männer, aber nur sechs Prozent der Frauen eine militärische Ausbildung genossen haben. 22 Prozent der Frauen hatten eine Zivilschutzausbildung absolviert – bei den Männern waren es 61 Prozent.
Vor dem Hintergrund des anhaltenden Konflikts in der Ostukraine, der autoritären Gewalt in Belarus, der Corona-Pandemie und des sich zuspitzenden Klimawandels hat die Frage, wie sich Bürgerinnen und Bürger für hybride Herausforderungen rüsten können, in Mittel- und Osteuropa ein starkes Comeback erlebt – nachdem sie jahrzehntelang kaum eine Rolle gespielt hatte. In Polen hat die veränderte Sicherheitslandschaft dazu geführt, dass sich immer mehr Menschen freiwillig an der Landesverteidigung beteiligen – in paramilitärischen und militärunterstützenden Organisationen, in Trainingsprogrammen in Schulen und Universitäten oder in der „Armee zur Territorialverteidigung“.
Auch wenn diese Freiwilligenverbände militärische Aspekte in den Vordergrund stellen, verlagern sie den Schwerpunkt dennoch unverkennbar auf gesellschaftliche Resilienz, menschliche Sicherheit und nicht-militärische Herausforderungen. Durch diesen Paradigmenwechsel hat sich für Frauen eine unerwartete Tür geöffnet.
Immer mehr junge Frauen engagieren sich im Rahmen von Aktivitäten, die einen Bezug zur Verteidigung haben – zum Beispiel in Schützenvereinen oder freiwilligen Verteidigungsprogrammen in Schulen. 2020 waren 43 Prozent der Teilnehmer an „zertifizierten Militärlehrgängen“ und mehr als 16 Prozent der Angehörigen der Armee zur Territorialverteidigung Frauen, wobei beide Zahlen voraussichtlich noch steigen werden.
Diese Entwicklungen machen deutlich, dass sich in Polen beim Thema Sicherheit die Geschlechternormen verschieben, und zwar nicht nur dort, wo dies üblicherweise zu erwarten ist wie in der großstädtischen Mittelschicht, sondern auch im ländlichen Raum, der für gewöhnlich als geschlechterkonservativ gilt. Auch dort wollen sich viele jüngere Frauen nicht mehr mit dem Rollenbild der Mutter und Schutzbefohlenen des Mannes abfinden.
Seit die PiS-Partei 2015 an die Macht kam, hat sie die Mittel für verteidigungsbezogene Aktivitäten aufgestockt.
In einer aktuellen Umfrage im Auftrag des polnischen Portals Defence24 erklärten 41 Prozent der befragten Frauen, dass sie an einer militärischen Grundausbildung interessiert wären, wenn sie die Möglichkeit dazu hätten. Dieser Prozentsatz wäre vielleicht noch viel höher ausgefallen, wenn die Frauen auch nach einer Zivilschutzausbildung gefragt worden wären. Genau diese Stimmungslage an der Basis hat die illiberale Rechte geschickt zu nutzen verstanden.
Seit die PiS-Partei 2015 an die Macht kam, hat sie die Mittel für verteidigungsbezogene Aktivitäten aufgestockt und staatlich geführten Organisationen zukommen lassen – zum Beispiel ihrem Vorzeigeprojekt, der 2016 gegründeten „Armee zur Territorialverteidigung“. Die ideologische Schlagseite dieser Entwicklung löste bei der Opposition berechtigte Sorgen aus, denn die Regierung ist bestrebt, religiöse und illiberal-nationalistische Werte in der staatlichen Politik salonfähig zu machen, während sie auf der anderen Seite Gleichstellungsbestimmungen und freiheitlich-demokratische Standards untergräbt.
Bislang hat die radikale Programmatik der Regierung jedoch nicht dazu geführt, dass der Vormarsch der Frauen im Bereich der Landesverteidigung zurückgedrängt würde. Die Armee zur Territorialverteidigung wirbt sogar damit, dass ihre Aktivitäten „mit moderner Weiblichkeit im Einklang“ stehen. Zudem hat das Verteidigungsministerium in Militärbasen in ganz Polen Selbstverteidigungskurse für Frauen organisiert und den eigenen Frauenrat gestärkt.
Die autoritäre Regierung arbeitet einerseits auf den Austritt aus der Istanbul-Konvention des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen hin. Andererseits hat sie die UN-Agenda „Frauen, Frieden und Sicherheit“ ohne Umschweife umgesetzt, einen entsprechenden Nationalen Aktionsplan aufgestellt und sich verpflichtet, den Frauenanteil bei Friedensmissionen zu erhöhen und Gleichstellungsschulungen für das beteiligte Personal anzubieten.
Das Problem ist, dass die polnische liberale Linke keine eigenständige Stimme hat, wenn es um die hybriden Sicherheitsbedrohungen in Mittel- und Osteuropa geht.
Machen wir uns nichts vor: Die PiS-Partei hat es auch fertiggebracht, „Familienwerte“ auf ihre Fahnen zu schreiben und mitten in der pandemiebedingten Rezession die Sozialleistungen für die bedürftigsten Familien einzufrieren. Nach demselben Muster kann sie aufhören, die Einbindung von Frauen in die Resilienzstärkung zu fördern, sobald dies nicht mehr ihren aktuellen politischen Interessen dient. Und das ist genau der Punkt, an dem die liberale Linke aktiv werden kann.
Das Problem ist, dass die polnische liberale Linke keine eigenständige Stimme hat, wenn es um die hybriden Sicherheitsbedrohungen in Mittel- und Osteuropa geht. Sie hat auch keine Alternativvorschläge entwickelt, wie die Zivilgesellschaft stärker im Sinne der Demokratiestärkung in die Sicherheitspolitik eingebunden werden könnte. Bislang hat die Opposition fast immer nur reagiert und kritisiert, dass verteidigungspolitische Entwicklungen gefährlich und parteipolitisch gesteuert sind. Dabei war sie sich offensichtlich nicht bewusst, dass ähnliche Veränderungsprozesse auch in stabileren freiheitlichen Demokratien im Ostseeraum stattfinden.
Mit ihrer pazifistischen Haltung allein lässt sich nicht erklären, dass die Linke dem Geschehen tatenlos zuschaut, denn gesellschaftliche Resilienz kann sich ganz unterschiedlich gestalten und auch gewaltfreie und zivile Formen annehmen. Polens liberale Linke hängt aber trotz der sich rapide wandelnden Sicherheitslandschaft in der Region immer noch einem unkritischen Glauben an das angebliche „Ende der Geschichte“ an, das mit der europäischen Integration und dem NATO-Beitritt besiegelt worden sei.
Den jüngeren Sozialdemokraten ist dadurch nicht nur ihr strategisches Denken abhandengekommen. Sie haben auch ein tiefes Misstrauen gegenüber den Sicherheitssorgen ihrer eigenen Wählerschaft entwickelt. Dass es der polnischen Linken an strategischem Sicherheitsdenken mangelt, erklärt auch, warum im polnischen Feminismus die Geschlechtergleichstellung im Bereich der freiwilligen Landesverteidigung weitgehend ausgeklammert wurde. Da die Feministinnen kein Bewusstsein dafür hatten, welches Potenzial die gesellschaftliche Resilienz für die gendergerechte und zivile Neugestaltung der nationalen Sicherheit birgt, haben sie darauf verzichtet, in dieser Sache wirksame Lobbyarbeit zu betreiben.
Die Wählerinnen und Wähler in Polen sind zu Recht dafür, die bündnisgestützte Verteidigung und Abschreckung zu stärken.
Zum Glück stehen der polnischen liberalen Linken genügend Orientierungshilfen zur Verfügung, von denen sie sich bei ihren programmatischen Interventionen leiten lassen kann. Eine dieser Orientierungshilfen liefern die skandinavischen Staaten. Diese haben die Doktrin der „totalen Verteidigung“, die jüngst mit Blick auf unsichere Zeiten wieder zum Leben erweckt wurde, eng mit der Idee eines solidarischen Wohlfahrtsstaates verknüpft – und dennoch stehen diese Länder im Demokratie-, Friedens- und Gleichstellungsranking ganz oben.
Eine weitere Orientierungshilfe ist die vergleichende Forschung zur nicht-militärischen gesellschaftlichen Resilienz. Diese Forschung ist ein besonders wirksames Hilfsmittel, um hybride Bedrohungen auf demokratische Weise anzugehen – nämlich so, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt gestärkt wird, dem Engagement weniger Steine in den Weg gelegt werden und mehr internationale Unterstützung mobilisiert werden kann.
Die Wählerinnen und Wähler in Polen sind zu Recht dafür, die bündnisgestützte Verteidigung und Abschreckung zu stärken. Trotzdem kann die Linke sich in diese Dynamik einschalten. Um die Hegemonie der Rechten zu brechen, kann sie sich für eine Neugestaltung der Zivilverteidigung starkmachen und darauf hinwirken, dass lokale Bürgergruppen eingebunden und in der freiwilligen militärischen Verteidigungsarbeit zivilgesellschaftliche, egalitäre und demokratische Werte verankert werden.
Dieser Artikel ist eine gemeinsame Veröffentlichung von Social Europe und dem IPG-Journal
Aus dem Englischen von Christine Hardung