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Am 21. Dezember 2017 hat der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien, hierzulande besser bekannt als das „Jugoslawientribunal“, seine offizielle Schließungszeremonie gehalten. Das Tribunal ist damit Geschichte. Doch es lebt weiter – in den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens, vor allem in Bosnien-Herzegowina, aber auch in Serbien und Kroatien. Dort hat das Tribunal nachhaltig Spuren hinterlassen. Einerseits hat es dort die eigene strafrechtliche Kriegsaufarbeitung angestoßen. Andererseits wurde dank seiner Vorbildfunktion auch viel von seiner Rechtspraxis und Rechtsprechung in die nationalen Rechtssysteme der Westbalkanländer übernommen, wodurch diese eindeutig gestärkt wurden.
Schwierige Beziehung zur Region
Im ehemaligen Jugoslawien wurde das Tribunal zeit seines 24-jährigen Bestehens entweder begrüßt (vorwiegend in Bosnien-Herzegowina) oder verabscheut (mehrheitlich in Kroatien und Serbien), wobei die Einstellung entlang ethnischer Linien verläuft. In Serbien ist man der Meinung, dass in Den Haag überproportional ethnische Serben verfolgt, verurteilt und zudem härter bestraft wurden als andere. In Kroatien halten die meisten Menschen ihren „Heimatkrieg“ nach wie vor für einen legalen Verteidigungskrieg gegen den serbischen Aggressor – im Zweifel legitimiert das auch Kriegsverbrechen als notwendiges Übel. Verurteilungen Angehöriger der eigenen Gruppe schürten heftige Reaktionen, galten die meisten trotz ihrer Verurteilung als Kriegsverbrecher in ihrer Heimat doch immer noch als Helden. Jüngst hat sich das wieder gezeigt, als für Slobodan Praljak, der sich nach seiner letztinstanzlichen Verurteilung für „ethnische Säuberung“ der Herzegowina von muslimischen Bosniaken 1993 noch im Gerichtssaal das Leben nahm, in Zagreb eine offizielle Trauerfeier veranstaltet wurde, auf der ein katholischer Priester ihn mit Jesus verglich und als Retter seines Volkes darstellte.
In der Bevölkerung hat das Jugoslawientribunal polarisiert, und selbst etliche der politischen Eliten kaschierten ihre ablehnende Haltung nur mühsam und auch nur, um international nicht isoliert zu werden. Da es aber bei Juristen der Region fast durchweg hohes Ansehen genießt, konnte es dennoch eine Vorbildfunktion für die Rechtsprechung und Rechtspraxis entwickeln, die vor allem in Bosnien-Herzegowina nachhaltigen Einfluss ausgeübt hat.
Die Hoffnung der Opfer
Das wichtigste Vermächtnis des Jugoslawientribunals ist, dass es Kriegsverbrecherprozesse in den Staaten des ehemaligen Jugoslawiens angestoßen hat. In Bosnien-Herzegowina hat das Tribunal die dortigen Entscheidungsträger bei der Errichtung einer spezialisierten Anklagebehörde und einer Strafkammer am Staatlichen Gerichtshof Bosnien-Herzegowina beraten, die sich seit 2005 um die komplexesten Fälle kümmern. In Serbien und Kroatien war der von EU, NATO und USA ausgeübte politische Druck groß genug, um auch dort spezialisierte Organe einzurichten und Kriegsverbrecherprozesse zu führen.
Das wichtigste Vermächtnis des Jugoslawientribunals ist, dass es Kriegsverbrecherprozesse in den Staaten des ehemaligen Jugoslawiens angestoßen hat.
In Bosnien-Herzegowina wurden auf gesamtstaatlicher Ebene bisher 185 Personen zu insgesamt 2449 Jahren Gefängnisstrafe verurteilt. Der politische und gesellschaftliche Wille, Kriegsverbrecherprozesse zu führen, ist groß und die Prozesse sind im öffentlichen Diskurs sehr präsent. In Kroatien und Serbien liegt die Zahl der Prozesse weit darunter – in Serbien wurden beispielsweise bisher nur 78 Personen zu insgesamt 925 Jahren verurteilt. Vor allem in Kroatien ist der politische Wille zur Kriegsaufarbeitung seit dem EU-Beitritt und dem damit verbundenen Wegfall von Druckmitteln im Rahmen von EU-Beitrittsverhandlungen kaum noch vorhanden. Auch in Serbien hängt der Erfolg der Prozesse stark vom politischen Willen ab – und der schwankt. 2003, als die Kammer für Kriegsverbrechen am Belgrader Bezirksgericht eingerichtet und eine spezialisierte Kriegsverbrechenseinheit bei der staatlichen Anklagebehörde geschaffen wurde, stand der damalige Premierminister Zoran Đinđić hinter der Vergangenheitsaufarbeitung. Er war es auch, der Slobodan Milošević nach Den Haag auslieferte. 2003 wurde Đinđić ermordet. Als der Chefankläger für Kriegsverbrechen, Vladimir Vukčević, im Januar 2016 zurücktrat, verkündete seine Nachfolgerin Snežana Stanojković, Verbrechen gegen Serben zur Priorität machen zu wollen – nicht mehr Verbrechen, bei denen Serben die Täter waren. Dennoch, und auch wenn in Serbien die Kriegsaufarbeitung kaum politische Unterstützung erfährt und in der Öffentlichkeit keine Rolle spielt, gibt es auch dort Grund zur Hoffnung. 2017 hat der bisher komplexeste Prozess begonnen, in dem acht Männer für Verbrechen in Srebrenica im Juli 1995 angeklagt sind. Diese nationalen Prozesse ergänzen die Arbeit des Jugoslawientribunals und senden das Signal, dass das Recht auch auf nationaler Ebene wieder durchgesetzt wird und Verbrechen nicht unbestraft bleiben. Das Leid der Opfer wird anerkannt und die Prozesse tragen zur Wahrheitsfindung darüber bei, was im Krieg eigentlich passiert ist. Insgesamt wird dadurch wieder Vertrauen in staatliche Institutionen und den Rechtsstaat geschaffen. Diese Entwicklung ist, nicht einmal 20 Jahre nach dem Ende der letzten Jugoslawienkriege, eine große Errungenschaft der Rechtsstaatlichkeit.
Horizonterweiterung und Professionalisierung
Darüber hinaus hat das Jugoslawientribunal in den Rechtssystemen Bosnien-Herzegowinas und auch Serbiens nachhaltig Spuren hinterlassen: Beide Länder – Bosnien-Herzegowina 2003 und Serbien 2011 – haben neue Strafprozessordnungen erlassen, die sich am Modell der Prozessordnung des Tribunals orientieren. Richter am Staatlichen Gerichtshof Bosnien-Herzegowinas nutzen regelmäßig Rechtsprechung des Jugoslawientribunals, um Lücken in ihrer Prozessordnung zu füllen oder um Doppeldeutigkeiten darin aufzuklären. Das gleiche gilt bei der Anwendung der im neuen Strafgesetzbuch kodifizierten internationalen Straftatbestände – Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord. Dadurch wird die teilweise sehr progressive Interpretation von Straftatbeständen weiter fortgeführt. Das Tribunal hat beispielsweise mit einigen bahnbrechen Urteilen anerkannt, dass sexuelle Gewalt wie Vergewaltigung, Genitalverstümmelung oder das Halten von Sexsklavinnen als Kriegsmittel – mehr noch: als Mittel zum Völkermord – genutzt werden. Von dieser Fortführung der Rechtsprechung in den Staaten des ehemaligen Jugoslawiens profitieren vor allem die Opfer. Auch wird die Europäische Menschenrechtskonvention immer häufiger als Rechtsquelle herangezogen, wenn es um die Gestaltung eines für den Angeklagten fairen Prozesses geht. Eine Verteidigerin kommentierte das so: „Unsere Richter haben bei der Anwendung von Rechtsprechung aus Den Haag gelernt, sich in internationalen Rechtsquellen zurechtzufinden und sie zu verwenden. Und ganz banal: Sie haben gelernt, auf Englisch zu lesen.“
Außerdem haben sich die Strafgerichte nach Vorbild des Jugoslawientribunals zunehmend professionalisiert, beispielsweise durch die Einführung von so genannten Statuskonferenzen, deren Konzept eins zu eins aus Den Haag übernommen wurde. Hier treffen sich alle Prozessteilnehmer – die Anklage, Verteidigung und die Richter – um die nächsten Schritte zu planen, was hilft, den teilweise Jahre dauernden Prozess zu strukturieren und damit zu beschleunigen. Hiervon profitieren alle: der Angeklagte, der ein Recht auf einen schnellen Prozess hat, die Opfer, die nicht ewig auf ein Urteil warten müssen, und der Staat, den langwierige Prozesse eine Menge Geld kosten. Ein anderes Beispiel ist das Einsetzen von Technologien im Strafprozess, damit Zeugen ihre Aussage über Videolink machen können und nicht mehr persönlich erscheinen müssen. Aber auch größere, wichtigere Neuerungen hat das Jugoslawientribunal ausgelöst: Alle Länder haben mittlerweile gut funktionierende Zeugenschutzprogramme, die für den Erfolg des Prozesses, aber vor allem für Leib und Leben einiger Zeugen von maßgeblicher Bedeutung sein können.
Das Tribunal hat mit seinem Erfolg nicht nur zur Gerechtigkeit für die Kriegsopfer beigetragen, sondern auch ganz maßgeblich das internationale Kriegs- und Strafrecht vorangebracht.
Mit solchen Maßnahmen geht der Einfluss des Jugoslawientribunals über die Kriegsgerichtsbarkeit hinaus, denn Zeugenschutzprogramme, Anwendung von internationalem und europäischem Recht im Strafprozess oder auch eine moderne Ausstattung von Gerichtssälen kommt auch anderen Prozessen zugute. Die neue Form der Prozessführung trägt so zu einer Stärkung der gesamten Rechtskultur bei. Und das schafft Vertrauen in den Rechtsstaat.
Ein unerwartetes Vermächtnis
Das Jugoslawientribunal wurde 1993 vom UN-Sicherheitsrat als Alternative zu militärischem Eingreifen in die Jugoslawienkriege errichtet. Dass es jemals die Arbeit aufnehmen, geschweige denn 161 Hauptverantwortlichen den Prozess machen würde, hat damals kaum jemand geglaubt. Das Tribunal hat es seinen Zweiflern gezeigt. Mit seinem Erfolg hat es nicht nur zur Gerechtigkeit für die Kriegsopfer beigetragen, sondern auch ganz maßgeblich das internationale Kriegs- und Strafrecht vorangebracht. Nun haben wir seit 2002 einen Internationalen Strafgerichtshof, den es wohl ohne das Jugoslawien- und sein Schwestertribunal für Ruanda nie gegeben hätte. Das Beispiel des Jugoslawientribunals zeigt aber auch, dass internationale Strafgerichtshöfe nicht nur ein wichtiges Signal senden, dass Straflosigkeit nicht mehr geduldet wird. Sie haben auch eine wichtige Vorbildfunktion für die Tausenden Kriegsverbrecherprozesse, die in den Nationalstaaten stattfinden müssen. Wenn es ihnen gelingt, diese Vorbildfunktion zu entfalten, können sie nationale Rechtssysteme nachhaltig positiv beeinflussen.