Die Lage an der Grenze von Polen und Belarus entwickelt sich zum Pulverfass. Wieder einmal werden an einer EU-Außengrenze Menschen als Druckmittel für politische Ziele eingesetzt. Der belarusische Diktator Lukaschenko lässt Menschen mit falschen Versprechungen auf einen direkten Weg nach Europa an der Grenze aussetzen – um sie dann nicht wieder zurück zu lassen. Dieses Vorgehen weckt Erinnerungen an das Frühjahr 2020, als der türkische Präsident Erdogan über Wochen tausende Geflüchtete an die griechisch-türkische Landgrenze und ans Mittelmeer bringen ließ. Eine neue, allerdings nur scheinbare Migrationskrise wurde inszeniert, um zusätzliche Gelder für das Abkommen zur Aufnahme syrischer Geflüchteter und zur Unterstützung seiner Strategien in Syrien zu erpressen.

In Belarus geht es um Sanktionen, die die Europäische Union gegen das Regime, Einzelpersonen und die Wirtschaft aufgrund der Menschenrechtsverletzungen verhängt hat. Machthaber Lukaschenko jedenfalls hat die Visumspflicht für Staatsangehörige Pakistans, des Irans, Jordaniens und Ägyptens aufgehoben, um ihnen den Transit über sein Land an die Außengrenze der EU zu erleichtern. Die Frequenz von Flügen aus Krisengebieten nach Minsk wurde erhöht. Täglich kommen Menschen so an die Grenze zu Polen. Manche gelangen tatsächlich in die EU, andere sitzen fest im Niemandsland, einige starben bereits, bei Zwischenfällen oder aufgrund der Kälte. Die polnische Seite reagiert mit Zäunen und Stacheldraht, Knüppeln und Tränengas. Im Grenzgebiet wurde der Ausnahmezustand verhängt. Journalisten, Hilfskräfte und europäische Beamte, etwa der Grenzschutzagentur Frontex, erhalten keinen Zutritt.

Für viele ist Deutschland der Sehnsuchtsort.

Täglich starten neue Flugzeuge mit Migranten und Geflüchteten an Bord, die Flugverbindungen werden sogar ausgebaut. Laufend kommt es zu irregulären Grenzübertritten an den EU-Außengrenzen zu Belarus sowie an der polnisch-deutschen Grenze. In diesem Jahr wurden von europäischer Seite bislang über 30 000 Personen aufgegriffen. Deutschland alleine zählte 2021 knapp 8 000 irreguläre Grenzübertritte. Denn Polen ist nicht das Ziel. Für viele ist Deutschland der Sehnsuchtsort.

Auch wenn die außenpolitischen Kontexte andere sind, die Parallelen sind augenfällig. Sowohl Erdogan als auch Lukaschenko wissen um die europäische Uneinigkeit in der Migrationspolitik. Sie wissen, dass ein gemeinsames europäisches Asylsystem, das diesen Namen auch verdient, in weiter Ferne liegt. Beide Präsidenten stehen aber auch unter innenpolitischem Druck. Und beide Male stehen auch bilaterale Konflikte wie der zwischen Griechenland und der Türkei bzw. der zwischen Belarus und Polen im Hintergrund. Der eigentliche Skandal aber ist, dass beide in niederträchtiger Weise hilflose Menschen für ihre Zwecke gebrauchen und deren Hoffnungen nähren, ihre Familien wiederzusehen oder einfach ein besseres Leben in Europa führen zu können. Auf europäischer wie belarusischer Seite ist von „hybrider Kriegsführung“ die Rede.

In dieser Situation ist es entscheidend, drei Grundpositionen zu verbinden. Zum Ersten geht es um die Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung von Recht und Ordnung. Das inhumane Vorgehen des Lukaschenko-Regimes muss gestoppt werden. Gelingen kann dies durch weiteren Druck auf das Regime, auf seine internationalen Partner sowie auf die beteiligten Fluggesellschaften und die Länder, aus denen die Flugzeuge starten. Ganz grundsätzlich gilt aber: Wer wie und wo eine Grenze überschreiten kann, ist keine Privatangelegenheit, sondern unterliegt insbesondere in der Europäischen Union demokratisch gefassten Regeln, die einzuhalten sind. Zu diesem Regelwerk gehört allerdings auch, dass die Möglichkeit bestehen muss, bei Vorliegen entsprechender Gründe internationalen Schutz zu beantragen. Beißzangen gegen Stacheldraht einzusetzen ist genauso rechtswidrig wie die Pushbacks der polnischen Grenzbeamten, auch wenn man den Geflüchteten in ihrer Verzweiflung ein moralisches Recht zusprechen möchte. Genau für dieses an Menschenrechten orientierte Grenzmanagement steht die Agentur Frontex. Sie muss umgehend in der Krisenregion zum Einsatz gebracht werden.

Auf europäischer wie belarusischer Seite ist von „hybrider Kriegsführung“ die Rede.

Dieser erste Punkt, Recht und Ordnung, ist die Voraussetzung für die zweite Grundposition: humanitäre Verantwortung zu übernehmen, wo Menschen in akuter Not sind, soweit die Möglichkeiten dazu gegeben sind. An den europäischen Grenzen soll niemand zu Tode kommen. Wer sie erreicht, muss anständig behandelt werden. Wer nach Schutz fragt, muss ein faires Verfahren erhalten. Niemand darf dorthin zurückgeschickt werden, wo Tod oder unmenschliche Zustände herrschen. Besonders verletzliche Gruppen, Frauen und Kinder, brauchen auch besonderen Schutz. Dieser muss immer garantiert werden. Hilfsorganisationen müssen Zugang erhalten und die Gestrandeten erstversorgt, untergebracht und registriert werden. Für diejenigen, die internationalen Schutz oder Asyl erbitten, braucht es Verfahren. An deren Ende stehen Aufnahmen in Länder, die dazu bereit sind oder Rückführungen bzw. Ausreisen in die Heimatländer, soweit diese möglich sind.

Recht und Ordnung durchzusetzen ist deshalb die Voraussetzung für dieses humanitäre Vorgehen, weil es politische Unterstützung zur Aufnahme nur geben wird, wenn sichergestellt werden kann, dass die Aktion Lukaschenkos nicht einfach weiterläuft. Die humanitäre Verantwortung gilt zudem auch gegenüber Personengruppen an anderen Orten, die sich nicht auf den Weg begeben können, sondern die beispielsweise als Ältere, Kranke oder Menschen mit Einschränkungen in ihrem Elend festhängen. Offenheit und Hilfsbereitschaft der Bevölkerung hängen wiederum eng damit zusammen, ob es gelingt, wirklich Schutzbedürftigen zu helfen, und somit auch das Geschäft mit der Flucht zu unterbrechen. Dazu braucht es legale und sichere Wege wie das Umsiedlungsprogramm der Vereinten Nationen. Solche Instrumente werden aber auch nur dann größeren politischen Rückhalt erfahren, wenn nicht immer wieder Alarmsituationen Aufmerksamkeit und Kapazitäten binden – vor allem nicht, wenn es sich um heraufbeschworene Notsituationen wie derzeit an der polnisch-belarusischen Grenze handelt.

Es muss Druck ausgeübt werden auf das Lukaschenko-Regime, seine internationalen Partner sowie auf die beteiligten Fluggesellschaften und die Länder, aus denen die Flugzeuge starten.

Die dritte Grundposition ist, sich niemals erpressbar zu machen – dabei jedoch auch nicht seine eigenen Werte über Bord zu werfen. Hier ist der Vergleich mit der Fluchtbewegung von 2015/16 hilfreich sowie ein Blick auf die tägliche Situation auf der zentralen und der westlichen Mittelmeerroute: Die Personenzahlen, um die es dabei geht, sind für ein einiges Europa oder selbst eine Koalition williger Staaten leicht zu bewältigen. Die Antwort sollte also nicht sein: „Wir lassen uns zwar nicht erpressen, lassen dafür aber unschuldige Menschen im Stich.“ Der oben skizzierte Weg zeigt vielmehr auf, wie Konsequenz und Härte gegenüber den Verursachern und Profiteuren dieser Krise einhergehen können mit dem Aufrechterhalten dessen, was Europa als eine Gemeinschaft ausmacht: seine Werte. Das wäre ein Zeichen von europäischer Souveränität.

Jenseits der Forderungen, wirtschaftlichen Druck aufzubauen, Fluggesellschaften die Start- und Landegenehmigungen in der EU zu entziehen oder temporäre Grenzkontrollen nach Polen einzuführen, sollte dem Thema Menschenhandel ein größerer Fokus zukommen. Außenminister Heiko Maas hat klare Worte gefunden, die das Vorgehen Lukaschenkos als Verbrechen einstufen, wenn er ihn als Chef eines staatlichen Schleuserrings bezeichnet. Die geltende Rechtslage bildet das Phänomen inhaltlich allerdings nicht ab, da sie nicht auf staatliches Handeln bezogen ist. Das Zusatzprotokoll der Vereinten Nationen zum Übereinkommen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels geht nicht auf Staaten als Täter ein, sondern befasst sich nur mit Schmugglern und Schleusern. Artikel 7 des Römischen Statuts des Internationalen Gerichtshofs listet zwar Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf, darunter Ausrottung, Versklavung oder Folter. Keiner dieser Tatbestände ist jedoch auf die hier beschriebenen Handlungen anwendbar.

Das niederträchtige Vorgehen des Lukaschenko-Regimes kann nur als staatlich sanktionierter Menschenschmuggel bezeichnet werden. Die Verantwortlichen hierfür müssen vor einer internationalen Gerichtsbarkeit zur Rechenschaft gezogen werden. Menschen aus Krisengebieten als Spielball einzusetzen und sie in organisierter Form an die Außengrenzen zu bringen, um auf andere Staaten Druck auszuüben, muss strafbar sein. Dafür müssen die rechtlichen Grundlagen geschaffen werden.