Vor dem Krieg gegen die Ukraine bestand Wladimir Putin bei mehreren Treffen mit Staatschefs aus aller Welt darauf, Russland sei bedroht. Man habe folglich das Recht zu „intervenieren“, um Streitigkeiten zwischen seinem Land und dem Westen zu lösen. Getreu dem nationalistischen Narrativ einer „russischen Welt“ – nach dem alle Russinnen und Russen das Recht haben, in einem gemeinsamen Land zu leben – behauptete er, die Ukrainer stellten keine Nation dar, sondern seien eigentlich russische Bürger. Die Ukraine sei kein Staat, sondern Lenins Projekt, und müsse in Russland integriert werden. Putins Rhetorik weist eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit dem Narrativ auf, welches Slobodan Milošević dazu nutzte, 1991 den Krieg in Jugoslawien zu beginnen – und mit dem heutigen Narrativ einer „serbischen Welt“, das sich an ethnische Serben in Montenegro sowie in Bosnien und Herzegowina richtet.

Seit dem Beginn der Invasion, sind Putin und Russland in der schwierigsten Lage seit dem Ende des Kalten Krieges. Die russische Wirtschaft leidet unter beispiellosen Sanktionen. Putin könnte sogar für Kriegsverbrechen verurteilt werden. Einige würden sagen, er ähnele Milošević – nur mit Nuklearwaffen.

Als Antwort auf Putins Aggression hat sich der Westen stärker vereint als jemals zuvor. Er hat Russland finanziell isoliert. Die EU könnte kurz davor stehen, die Ukraine als Beitrittskandidaten zu akzeptieren. Putins zunehmend verzweifelte Aktionen – beispielsweise seine wilden Drohungen mit Nuklearwaffen gegenüber allen, die es wagen, die Ukraine zu unterstützen – bringen selbst enge Verbündete wie Viktor Orbán dazu, sich von ihm abzuwenden. Allerdings gibt es in Europa ein paar schwarze Schafe, die sich der gemeinsamen westlichen Antwort nicht anschließen: Serbien sowie Bosnien und Herzegowina haben sich geweigert, die Sanktionen gegen Russland mitzutragen. In Bosnien und Herzegowina scheiterte dies an der Blockade des russlandfreundlichen Milorad Dodik, dem serbischen Mitglied im bosnischen Staatspräsidium.

Putins Rhetorik weist eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit dem Narrativ auf, welches Slobodan Milošević dazu nutzte, 1991 den Krieg in Jugoslawien zu beginnen.

Immer deutlicher wird, wie bestimmte Akteure im westlichen Balkan einem größeren Konflikt zwischen Russland und dem Westen den Weg bereitet haben – auch durch die Zerstörung der teuren westlichen Sicherheitsarchitektur in der Region. Schon lange arbeitet Moskau daran, Europa und die NATO zu destabilisieren. Im Westbalkan wird das vor allem über zwei Schienen versucht: Politik und Sicherheit.

Auf der politischen Schiene versuchte Putin erstens, die europäische Integration der Staaten in der Region zu blockieren. Zweitens zielte er darauf ab, durch die Destabilisierung von Montenegro und Nordmazedonien die NATO-Erweiterung zu untergraben. 2016 unterstützten Putin – und die russische und serbische orthodoxe Kirche – einen versuchten Staatsstreich und die geplante Ermordung des montenegrinischen Präsidenten Milo Djukanovic. Ein Jahr später zog der russische Geheimdienst die Strippen bei der Stürmung des nordmazedonischen Parlaments und dem Angriff auf den damaligen Oppositionsführer Zoran Zaev.

Mit Blick auf das Ziel der Destabilisierung der Sicherheit in der Region unterstützte Moskau das Vorhaben einer Grenzänderung im Westbalkan zur Gründung dreier größerer Staaten: Serbien – im Hinblick auf eine „serbische Welt“ analog zur „russischen“ –, Albanien und Kroatien, in denen kleinere Staaten wie Montenegro, Nordmazedonien, Bosnien und Herzegowina sowie der Kosovo aufgehen sollten. Ein solches Vorhaben würde im Balkan letztlich zu einem neuen Krieg führen. Putins letzte Trumpfkarte in Europa besteht nun darin, durch seine Stellvertreter einen neuen Konflikt zu provozieren. Dadurch soll die Aufmerksamkeit von NATO und EU auf den Westbalkan gelenkt werden.

Putin versuchte, die europäische Integration der Staaten im Westbalkan zu blockieren und durch die Destabilisierung von Montenegro und Nordmazedonien die NATO-Erweiterung zu untergraben.

Trotz ihrer Schwäche leisten die Staaten der Region gegen die hybride Aggression Russlands mehr oder weniger erfolgreich Widerstand. Die größte Herausforderung ist das Regime in Serbien, wo der russische und chinesische Einfluss deutlich zu spüren ist. Offiziell ist Serbien „militärisch neutral“. Aber es braucht Hilfe, um dem eisernen Griff des russischen Einflusses entkommen zu können.

Der EU bietet sich nun die Gelegenheit, außen- und sicherheitspolitisch resoluter zu werden. Die Ukraine, Georgien und Moldawien haben die EU-Mitgliedschaft beantragt. Dies hat allerdings auch andernorts Erwartungen geweckt. Deshalb sollte die EU zunächst ihre Arbeit im Westbalkan abschließen und mit der Integration der Länder fortfahren, mit denen sie bereits verhandelt. Montenegro als NATO-Mitglied, das bereits alle Verhandlungskapitel geöffnet hat, könnte der EU ziemlich schnell beitreten. Angesichts der geringen Bevölkerungsgröße und der anpassungsfähigen Wirtschaft des Landes würde das die EU nicht viel kosten. Wichtiger ist, dass dies dem Westbalkan und der demokratischen Welt eine starke Botschaft senden würde – nämlich, dass die EU die Vision ihrer Gründer von einem geeinten und friedlichen Europa nicht aufgibt.

Trotz ihrer Schwäche leisten die Staaten der Region gegen die hybride Aggression Russlands mehr oder weniger erfolgreich Widerstand.

Mit Albanien und Nordmazedonien – ebenfalls NATO-Mitgliedstaaten – sollten endlich die lang erwarteten Termine für den Beginn der Verhandlungen vereinbart werden. Bosnien und Herzegowina braucht angesichts der Sicherheitsprobleme die Aufmerksamkeit der EU und der NATO. Noch immer dauert dort die Debatte über die Wahlgesetze und die Organisation des Landes an, die anhand bürgerlicher und nicht ethnischer Prinzipien gestaltet werden müssen. Kosovo wird wahrscheinlich NATO-Mitglied werden. Das würde das umfassende Abkommen des Kosovo mit Serbien beschleunigen und die Illusion beerdigen, dass Kosovo einem Großalbanien beitreten könnte.

Die internationalen Rahmenbedingungen haben sich verändert: Die westliche Welt demonstriert heute mehr Einheit und Solidarität als noch vor ein paar Tagen. Dieses Momentum sollte für eine flexiblere EU-Politik im Westbalkan genutzt werden – ohne zu vergessen, dass die Priorität letztlich darin liegt, den Krieg in der Ukraine zu beenden.

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff