Der Kleinstadtbürgermeister Péter Márki-Zay hat die Stichwahl der ersten ungarischen Oppositionsvorwahl, die am 17. Oktober endete, gewonnen. MZP – so sein Spitzname in der ungarischen Öffentlichkeit –setzte sich gegen die Europaabgeordnete Klára Dobrev durch. Bei den Parlamentswahlen im kommenden Frühjahr wird er somit als Spitzenkandidat der vereinten Opposition gegen Ministerpräsident Viktor Orbán antreten.
Seit Orbáns erdrutschartigem Wahlsieg im Jahr 2010 suchen die zersplitterten ungarischen Oppositionsparteien nach einem Weg, die amtierende Fidesz-Partei an der Wahlurne zu besiegen. Mit der ungarischen Wahlrechtsreform schuf Orbán 2011 ein System, das in erster Linie auf dem Mehrheitswahlrecht in den einzelnen Wahlbezirken basiert. Hiervon profitiert eine vereinte Regierungspartei, während die Oppositionsakteure in instabile Koalitionen gezwungen werden. In den letzten beiden Wahlperioden ist es den Parteien, die gegen das halbautoritäre Regime des starken Mannes in Ungarn ankämpfen, nicht gelungen, ihre vielen Konflikte und gegenseitigen Animositäten zu überwinden. Die Folge war, dass Orbáns Fidesz-Partei im Parlament zweimal eine satte Mehrheit gewinnen konnte.
Es hat ein ganzes Jahrzehnt gedauert, bis die Oppositionsparteien ihre Meinungsverschiedenheiten beilegen konnten, aber nun haben sie es geschafft. Sie haben eine Vorwahl organisiert, um über 106 gemeinsame Kandidatinnen und Kandidaten für die einzelnen Wahlbezirke sowie über einen gemeinsamen für das Amt des Ministerpräsidenten zu entscheiden. Insgesamt beteiligten sich mehr als 800 000 Bürgerinnen und Bürger an den beiden Wahlrunden. Das sind zehn Prozent der gesamten ungarischen Wählerschaft; die Wahlbeteiligung ist somit vergleichbar mit fest institutionalisierten Vorwahlen wie den US-amerikanischen primaries im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen.
In den letzten beiden Wahlperioden ist es den Parteien, die gegen das halbautoritäre Regime des starken Mannes in Ungarn ankämpfen, nicht gelungen, ihre vielen Konflikte und gegenseitigen Animositäten zu überwinden.
Das Modell der Vorwahlen bot nicht nur die Lösung für die schwierige Frage, wie gemeinsame Kandidaten der vereinten Opposition bestimmt werden sollten, sondern hatte auch positive Nebeneffekte. Die unerwartet hohe Wahlbeteiligung mobilisierte die Oppositionswählerschaft, half den Parteien ihre Kampagnen für die Wahlen im Frühjahr vorzubereiten und eröffnete ihnen die Möglichkeit, mehr als einen Monat lang die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich zu lenken. Das verblüffte selbst die Regierungselite, die die Medien gewöhnlich recht gut für ihre Zwecke zu nutzen weiß.
Noch entscheidender war, dass die ungarische Oppositionspolitik mit den Vorwahlen ihre so dringend benötigte demokratische Verantwortlichkeit zurückerhielt. Mehr als ein Jahrzehnt lang befanden sich die etablierten oppositionellen Kräfte in einem Zustand politischer Ohnmacht und waren unfähig, das Orbán-Regime wirklich herauszufordern. Die Vorwahlen boten der oppositionellen Wählerschaft jetzt die Chance, Politikerinnen und Politiker abzustrafen, die sie für phantasielos, nicht mehr zeitgemäß oder schlicht korrupt hielt. Viele etablierte Politiker mit jahrzehntelangen Karrieren als Bürgermeisterinnen, Abgeordnete oder Minister mussten sich im Rennen um die 106 Einzelkandidaturen in den Wahlkreisen jüngeren Kandidatinnen oder gar politischen Neulingen geschlagen geben.
Die Ergebnisse der einzelnen Wahlkreise spiegeln relativ genau das Kräfteverhältnis zwischen den sechs Oppositionsparteien wider. Die liberale Demokratische Koalition, die im Europäischen Parlament mit der „Progressiven Allianz der Sozialdemokraten“ (S&D) zusammenarbeitet, gewann 32 Wahlkreiskandidaturen. Die ehemals rechtsradikale und inzwischen gemäßigt konservative Jobbik-Partei erhielt 29, während in 18 Wahlkreisen die Kandidatin der postkommunistischen Sozialistischen Partei (ebenfalls Mitglied der S&D) gewann. Die Momentum-Bewegung, eine junge liberale Partei, die im EU-Parlament Emmanuel Macrons Fraktion „Europa erneuern“ angehört, wird in 15 Wahlkreisen den gemeinsamen Oppositionskandidaten aufstellen, während die beiden grünen Parteien – „Dialog“ (P) und „Politik kann anders sein“ (LMP) – sechs bzw. fünf Kandidaturen gewannen.
Die unerwartet hohe Wahlbeteiligung mobilisierte die Oppositionswählerschaft, half den Parteien ihre Kampagnen für die Wahlen im Frühjahr vorzubereiten und eröffnete ihnen die Möglichkeit, mehr als einen Monat lang die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich zu lenken.
Überraschungen gab es hingegen in der ersten Runde der Vorwahlen für das Amt des Ministerpräsidenten. Der Jobbik-Vorsitzende Péter Jakab, der lange Zeit als einer der Favoriten gehandelt wurde, rutschte auf den vierten Platz ab, während András Fekete-Győr, Vorsitzender der liberalen und pro-europäischen Momentum-Bewegung, auf dem letzten Platz landete und damit deutlich hinter den Ergebnissen der Wahlkreiskandidaten seiner Bewegung zurückblieb. Kurz darauf musste er nach einem internen Misstrauensvotum den Parteivorsitz abgeben.
Klára Dobrev von der Demokratischen Koalition (DK) belegte den ersten Platz, gefolgt von Gergely Karácsony und Péter Márki-Zay. Der grün-liberale Budapester Bürgermeister Karácsony, dem in den vergangenen zwei Jahren die größten Chancen als Kandidat der Opposition eingeräumt wurden, absolvierte eine äußerst schwache Kampagne. Er wurde von dem energischen MZP schließlich so unter Druck gesetzt, dass er einen Tag vor Beginn der zweiten Runde zugunsten von Márki-Zay auf die Stichwahl verzichtete.
Der überraschende Erfolg von Márki-Zay erklärt sich zum Teil aus der Unzufriedenheit der oppositionellen Wählerschaft mit den Eliten, die sie in den letzten zehn Jahren vertreten haben. Péter Márki-Zay („MZP“), der sich selbst als christlich und konservativ bezeichnet, trat mit einem Programm an, dass sich entschieden gegen das Establishment richtet. Er versprach, die Opposition zu „säubern“ und ihre diskreditierten Politiker in den Hintergrund zu drängen. Márki-Zay ist seit Februar 2018 Bürgermeister von Hódmezővásárhely, einer Fidesz-Hochburg mit 44.000 Einwohnern im Südosten Ungarns. Damals wurde seine Kandidatur von allen Oppositionsparteien unterstützt und gab einen Vorgeschmack auf die Oppositionsallianz, die bei den Kommunalwahlen im Oktober 2019 den oppositionellen Parteien relativ große Erfolge bescherte und allgemein als Schlüssel zum Wahlsieg über Orbán gilt.
Mit manchen seiner politischen Positionen steht Péter Márki-Zay der Fidesz-Partei näher als der durchschnittlichen Oppositionswählerschaft.
Márki-Zay ist ein eigenwilliger politischer Akteur. Mit manchen seiner politischen Positionen steht er der Fidesz-Partei näher als der durchschnittlichen Oppositionswählerschaft. Márki-Zays Rhetorik ähnelt den unzusammenhängenden Tiraden Donald Trumps. Er hat eine Vorliebe für Verschwörungstheorien und Verlautbarungen im Boulevardstil. Viele seiner Äußerungen werden sogar von der Opposition kritisiert – so zum Beispiel seine Behauptung, die Hälfte der Mitglieder der amtierenden Regierung und damit auch Orbáns eigener Sohn sei möglicherweise schwul.
Márki-Zays Glaubwürdigkeit als Anti-Establishment-Kandidat wurde dadurch gestärkt, dass Klára Dobrev in der zweiten Runde seine Kontrahentin war. Dobrev, aufgewachsen in einer einflussreichen kommunistischen Nomenklatura-Dynastie, ist mit dem ehemaligen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány verheiratet und derzeit Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments. Sie ist damit geradezu der Inbegriff des „Establishments“.
Ihre Partei, die Demokratische Koalition, gilt mit ihrer treuen Anhängerschaft und einer vergleichsweise guten Infrastruktur weithin als die bestorganisierte Gruppierung innerhalb der Opposition. Dies und Dobrevs unbestreitbare Professionalität sowie ihr politisches Charisma stärkten ihre Chancen bei den Vorwahlen. Dobrevs größtes politisches Problem ist und bleibt jedoch ihr Ehemann Ferenc Gyurcsány, einer der unbeliebtesten Politiker Ungarns. Gyurcsány war von 2004 bis 2009 Ministerpräsident. Sein Name ist nach wie vor untrennbar mit dem wirtschaftlichen Desaster und der Sparpolitik der späten 2000er Jahre verknüpft, wie auch mit der Neoliberalisierung der ungarischen Sozialdemokratie. Hinzukommt eine berüchtigte Rede von 2006, die an die Öffentlichkeit gelangte und in der er zugab, die Wählerschaft belogen zu haben. Diese Rede, die durch ihre Veröffentlichung ausgelöste Protestwelle und die Polizeigewalt, mit der auf die Proteste reagiert wurde, waren der Todesstoß für die Dritte Ungarische Republik und ebneten den Weg für Orbáns autoritäre Wende.
Márki-Zay wird seine Mühe haben, die verschiedenen Akteure der Opposition, von denen viele mit ihm noch eine Rechnung offen haben, unter einen Hut zu bringen.
Márki-Zay brachte sich als Gegenspieler des Duos Dobrev-Gyurcsány und der alten liberalen Eliten in Stellung und machte sich auf diese Weise die Unzufriedenheit der Ungarn mit der ohnmächtigen Opposition zunutze. Dass sich an der Stichwahl rund 200.000 Menschen beteiligten, darunter zahlreiche junge Leute und viele, die beim ersten Wahlgang zu Hause geblieben waren, lag auch daran, dass viele in der politischen Figur Péter Márki-Zay einen Hoffnungsträger sehen. Auch bei den Online-Wählern gewann Márki-Zay mit großem Vorsprung.
Márki-Zays Erfolg bei der Oppositionswählerschaft lag neben seiner Glaubwürdigkeit als Gegner des Establishments auch daran, dass er unterstrich, Fidesz könne ihn nicht in ihre gewohnte politische Dichotomie einordnen, in der – um die Rhetorik der Regierungspartei zu zitieren – „pro-nationale“ Rechte gegen „anti-nationale“, „verräterische“, „kosmopolitische“ Liberale stehen. Immerhin hatte Fidesz im September 2021, in dem die Vorwahlen stattfanden, mehr als eine Million Euro für Werbespots ausgegeben, um die Botschaft zu verbreiten, diese Vorwahl sei nur eine von Gyurcsány organisierte Farce, bei der Dobrev und Karácsony als seine Kandidaten vorgeschickt würden. Inzwischen versucht die vom Ergebnis der Vorwahlen überraschte Regierung, ihre Propagandamaschinerie neu auszurichten und Márki-Zay als Person ins Visier zu nehmen, allerdings mit wenig Aussicht auf Erfolg.
Der neu gewählte Ministerpräsidentschaftskandidat verbindet mit großer Leichtigkeit Anti-Orbán-Populismus und eine technokratische Rhetorik, die an die neoliberale Mitte zu Zeiten der 1990er Jahre erinnert. Mit seiner Ablehnung einer progressiven Besteuerung und dem Eintreten für strikte Haushaltsdisziplin kommt der konservative Politiker den Vorurteilen der ungarischen (neo)liberalen Intellektuellen entgegen, während seine LGBT- und Roma-freundlichen Aussagen auch bei vielen jüngeren Progressiven gut ankommen.
Bei Politikerpersönlichkeiten, die einen so kometenhaften Aufstieg erleben, jedoch keinen politischen Tiefgang und keinen funktionierenden Parteiapparat haben, ist die Gefahr sehr hoch, dass ihnen politisch sehr schnell die Luft ausgeht.
Insofern verkörpert Márki-Zay einen neuen techno-populistischen Politikertypus. Er ist zum einen ein Symptom des Misstrauens, das die Ungarn der politischen Repräsentation entgegenbringen, und personifiziert zum anderen für viele die Lösung genau dieser Krise der Repräsentation. Seine eigensinnigen Botschaften und sein grundsätzlicher Mangel an politischem Tiefgang machen ihn für viele Ungarn zur idealen Projektionsfläche für ihre Frustrationen und Hoffnungen.
In vielerlei Hinsicht ist Péter Márki-Zay also die erste Person seit einem Jahrzehnt, die realistische Chancen hat, Viktor Orbán an den Wahlurnen zu besiegen. Vor ihm liegt allerdings ein harter Kampf – und zwar nicht nur weil das gesamte Wahlsystem und die staatlichen Institutionen darauf zugeschnitten sind, die Fidesz-Partei an der Macht zu halten, sondern auch wegen der Zersplitterung der Opposition. Márki-Zay wird seine Mühe haben, die verschiedenen Akteure der Opposition, von denen viele mit ihm noch eine Rechnung offen haben, unter einen Hut zu bringen. Gleichzeitig muss er gegen die mit staatlichen Geldern in Milliardenhöhe finanzierte Wahlkampfmaschinerie der Fidesz ankämpfen. Dass es ihm an politischer Erfahrung mangelt, macht ihn zudem anfällig für Patzer und Fauxpas.
Péter Márki-Zay ist zweifellos eine politische Führungsfigur, die den politischen Zeitgeist in Europa und der Welt instinktiv erfasst und die aktuelle Stimmung der Wählerinnen und Wähler aufgreift, die es satthaben, dass die politischen Eliten sie nicht angemessen vertreten. Gleichzeitig ist bei Politikerpersönlichkeiten, die einen so kometenhaften Aufstieg erleben, jedoch keinen politischen Tiefgang und keinen funktionierenden Parteiapparat haben, die Gefahr sehr hoch, dass ihnen politisch sehr schnell die Luft ausgeht. Es bleibt abzuwarten, ob Márki-Zay den hohen Erwartungen gerecht werden kann, die ein erstaunlich großer Teil der aktiv gewordenen Bürgerinnen und Bürger auf ihn projiziert.
Aus dem Englischen von Christine Hardung