Im Kosovo ist letzte Woche die Regierung um Premierminister Albin Kurti nach nur sieben Wochen im Amt gestürzt worden. Vordergründig wurde das Misstrauensvotum über die Frage gestellt, ob im Rahmen der Reaktion auf die Corona-Krise ein Ausnahmezustand ausgerufen werden sollte. Dies hätte eine erhebliche Kompetenzerweiterung des kosovarischen Präsidenten Hashim Thaci zur Folge gehabt.

Oberflächlich könnte man meinen, dass es sich dabei um eine rein kosovarische Angelegenheit handelte: ein Konflikt zwischen Präsidialamt und Regierung wie wir ihn aus anderen Staaten der Welt ebenfalls kennen. Ausgerechnet in der jetzigen Zeit die Regierung zu stürzen und somit für Instabilität zu sorgen ist jedoch ein besonderes Ereignis. Und so wurde das Misstrauensvotum auch schon als erster „Corona-Coup“ betitelt.

Jedoch ist diese Betrachtungsweise irreführend. Denn der Streit um die Notwendigkeit eines nationalen Ausnahmezustands zur angemessenen Reaktion auf die Corona-Pandemie war nur Anlass, nicht Ursache des Sturzes der Regierung Kurtis. Vielmehr ist der Grund der anhaltende Kompetenzstreit zwischen Thaci und Kurti im Hinblick auf den Kosovarisch-Serbischen Dialog. Während Thaci – unterstützt von den USA – für eine Annäherung an Serbien steht, wollte Kurti, an dessen Seite die EU steht, einer Normalisierung der zwischenstaatlichen Beziehungen nur „auf Augenhöhe“ zustimmen. Hier stehen sich also nicht nur Präsident und Premierminister, sondern auch die die USA und die EU gegenüber. Den ersten Punktsieg konnte in diesem Fall trotz Heimspiel der EU im eigenen Hinterhof die USA erringen.

Die Staaten der Europäischen Union und insbesondere Deutschland unterstützten die sich erst seit kurzem im Amt befindliche Regierung unter Albin Kurti, die sich angesichts der überragenden innenpolitischen Herausforderungen im Kosovo (hohe Arbeitslosigkeit, keine flächendeckende Krankenversicherung, stagnierende wirtschaftliche Entwicklung) auf sozial-politische Themen fokussieren wollte.

Ungeachtet des Amtsantritts von Kurti vermittelte die US-Administration, vertreten durch den Sondergesandten Richard Grenell, Verhandlungen zwischen dem kosovarischen Präsidenten Thaci und dem serbischen Präsident Vucic. Die Unterstützung der Amerikaner stützte sich hierbei wohl auf die Hoffnung, einen „Deal“ zur schnellen Lösung zum kosovo-serbischen Dialog abschließen zu können. Einem von Präsidenten verhandelten, kurzfristigen Deal erteilte Kurti jedoch immer wieder eine Absage. So forderte der Premierminister, dass Serbien seine Kampagne, im Laufe derer mehrere Staaten dem Kosovo die internationale Anerkennung entzogen hatten, einstellen solle.

Die Tatsache, dass sich Amerikaner und Europäer nun auf dem Westbalkan in die Haare kriegen ist bezeichnend. Die aktuelle Regierungskrise im Kosovo ist auch ein Produkt von „Westlessness“, dem Motto der Münchener Sicherheitskonferenz 2020. Das Fehlen einer gemeinsamen Interessenverfolgung „des Westens“ im Kosovo hat sich jedoch nicht erst bei der Frage der aktuellen Regierungskrise gezeigt, sondern diese gewissermaßen herbeigeführt.

So kann eine Westlessness am Balkan in zweierlei Hinsicht festgestellt werden. Zum einen bezüglich der Werteorientierung: Es ist nach wie vor erstaunlich, dass die USA, die sich wie keine andere Nation den Kampf für demokratische Regierungsformen und gegen Korruption zur außenpolitischen Doktrin erhoben hat, aktiv zum Sturz einer Regierung im Kosovo beigetragen haben, welche in ihrer sehr kurzen Amtszeit schon erste Erfolge gegen Korruption im öffentlichen Sektor verbuchen konnte. Die zweite Ebene betrifft die symbolische Bedeutung dieses Falles für das europäisch-amerikanische Verhältnis. Der westliche Balkan war einer der zentralen – wenn nicht sogar „der“ – Auslöser für eine Ausweitung der sicherheitspolitischen Ambitionen der Europäischen Union, geboren aus der Unfähigkeit, den Frieden in der unmittelbaren Nachbarschaft ohne führende Rolle der USA sichern zu können.

Die Region war seitdem immer auch ein Beispiel dafür, dass die westliche Wertegemeinschaft die demokratische Entwicklung und gute Regierungsführung in einer Region – wenn auch mühsam und mit zahlreichen Rückschritten – voranbringen kann. In diesem Sinne kann man die symbolische und substantielle Bedeutung eines offenen transatlantischen Dissenses beim Vorgehen auf dem westlichen Balkan kaum überschätzen. In jedem Fall ist es ein schwerer transatlantischer Störfall, wenn die USA in nur fünf Stunden der gemeinsamen Position mit den Staaten der EU (und dem Vereinigten Königreich) den Rücken kehrt.

Wie auch immer die aktuelle Regierungskrise ausgehen wird – Kurti bleibt zunächst kommissarisch im Amt bis entweder Neuwahlen ausgerufen werden oder er mit der erneuten Regierungsbildung beauftragt wird. Die USA und die Europäische Union, allen voran Deutschland, stehen sich weiterhin gegenüber.

Obschon nicht zu erwarten ist, dass das Phänomen von „Westlessness“ am Balkan verschwinden wird – zu unterschiedlich erscheinen die amerikanische und europäische Positionen im Hinblick auf den kosovarisch-serbischen Dialog – so kann man dochhoffen, dass die Europäische Kommission dem etwas entgegensetzt. Ein gewisses Gegengewicht, welches letztendlich wieder Handlungsräume für die nationale Regierung schafft, kann jedoch nur gelingen, wenn das Engagement der EU über Erklärungen hinausreicht. Ein erster Schritt ist die Unterstützung der EU zur Bekämpfung der Corona-Pandemie. Diese hat dem Kosovo bereits medizinische Gerätschaften im Wert von fünf Millionen Euro geliefert. Wichtiger wird jedoch die langfristige Perspektive sein. Sowohl die Frage, ob sich der Europäische Rat der für den Kosovo herausragenden Frage der Visa-Liberalisierung annimmt, als auch wie man einen von der EU begleiteten strukturierten Dialog zum kosovarisch-serbischen Konflikt gestalten kann, wird entscheidend sein.