Tausende protestierten am 27. Juli friedlich in der Moskauer Innenstadt gegen den Ausschluss von Oppositionskandidaten von den anstehenden Regionalwahlen. Es war die bedeutendste oppositionelle Kundgebungen der vergangenen Jahre, das zeigte die hohe Anzahl der Protestierenden, die Repression durch Polizeikräfte sowie die Verhaftung von mehr als 1 300 Bürgerinnen und Bürgern. Die Szenen in Moskau erinnerten an die große Protestwelle der Jahre 2011/12, die auf die Rückkehr Präsident Putins in den Kreml folgte. Was ist der Grund für die Unzufriedenheit der Bevölkerung?

Die ersten beiden Amtszeiten Putins standen im Zeichen von Stabilität und Prosperität. Nach den chaotischen 1990er Jahren waren viele russische Bürgerinnen und Bürger bereit, für mehr Wohlstand und einen funktionierenden Staat auf politische Teilhabe zu verzichten. Übergangspräsident Dmitrij Medwedjew versprach 2008 eine gesellschaftliche Modernisierung. Diese fand aber nicht statt, und nach Putins Rückkehr an die Staatsspitze setzte der Kreml ab 2012 auf Patriotismus als neuen Kitt, der die Gesellschaft zusammenhalten soll.

Ihren Höhepunkt erreichte diese Strategie 2014/15 mit der Annexion der Krim und der Intervention in Syrien. Tatsächlich verhalf die außenpolitische Offensive, die von aggressiver Rhetorik gegen den Westen und innere „Feinde“ begleitet wurde, Putin nochmals zu beträchtlicher Popularität. Seit 2014 speist sich seine Legitimation aus der Konfrontation mit Europa und den USA. Doch schon seit einiger Zeit lässt die Wirkung dieser Patriotismus-Strategie auf die Gesellschaft nach. Die langen Jahre der wirtschaftlichen Stagnation haben zudem den Lebensstandard für viele Moskauer einbrechen lassen. Politische und wirtschaftliche Unzufriedenheit sind die Voraussetzungen für den Protest vom Wochenende.

Der Gewalteinsatz der Moskauer Polizei zeigt, wie nervös die Herrschenden sind – und das obwohl es nur um Regionalwahlen geht.

Einiges spricht dafür, dass dieser Protest Kardinalfragen der russischen Politik berührt. Putins Regime hat es stets verstanden, sich als populäre Herrschaft zu inszenieren. Trotz aller Einschränkungen stellten die Wahlen mit ihren hohen Ergebnissen – allen voran für Putin selbst – ein wichtiges Instrument zur Herrschaftslegitimation dar. Bereits die Proteste gegen den Ausgang der Dumawahlen 2011 zeigten, dass große Teile der Öffentlichkeit die Einschränkung des politischen Wettbewerbs ablehnten. Doch eine durch Wahlen legitimierte Opposition, die auch noch Zugang zu den Massenmedien hätte, ist im System Putin nicht vorgesehen. Seine Legitimität basiert auf dem Mythos, dass es keine Alternative zu ihm gibt und er persönlich der Garant für innere Stabilität und äußere Stärke Russlands sei. Wenn es zukünftig nicht mehr gelingt, Wahlerfolge zu erzielen, wäre das ein harscher Rückschlag für den autoritären Staat. Ohne Wahlen, selbst wenn sie unter dem Verdacht der Manipulation stehen, gibt es auch hier keine legitime Herrschaft.

Der Gewalteinsatz der Moskauer Polizei zeigt, wie nervös die Herrschenden sind – und das obwohl es nur um Regionalwahlen geht. Selbst in der Lokalpolitik ist die Elite offenbar nicht zu Konzessionen an die Opposition bereit. Im Gegenteil: Die Regierung versucht mit der geballten Macht des Staates, seiner Medien und der Justiz, ihre Gegner zu marginalisieren. Die Frage nach dem 27. Juli ist nun, ob dieser harte Kurs auch zukünftig durchgehalten wird und was die politischen Alternativen für den Kreml sind. Konzessionen und Repressionen können beide problematische Folgen haben. Die gewaltsame Unterdrückung würde die demokratische Fassade zum Einsturz bringen. Die Legalisierung der politischen Opposition hingegen könnte als Zeichen der Schwäche gewertet werden und weitergehende Forderungen nach einem demokratischen Umbau nach sich ziehen. Beides ist aus der Sicht der Herrschenden nicht erstrebenswert. Auch der Ausweg von 2014 scheint versperrt: Die Kriege in Syrien und im Donbass sind noch nicht zu Ende, und es ist fragwürdig, ob ein weiterer Konflikt populär wäre.

Die Krisenstimmung und die Verunsicherung in Moskau resultieren letztlich daraus, dass vielen klar ist, dass der autoritäre Status quo an seine Grenzen stößt. Vor allen anderen Problemen beschäftigt die Russen – an der Spitze des Staates, aber auch in der Gesellschaft – die Frage, was nach dem Jahr 2024 passieren wird: Tritt Putin ab oder macht er weiter? Befinden wir uns bereits in einem Szenario, das an die Stagnation der späten Breschnew-Jahre erinnert? Je länger die Nachfolgefrage ungelöst bleibt, desto mehr besteht die Gefahr, dass die sprichwörtliche Stabilität ins Wanken gerät. Machtkämpfe sind für die Zukunft nicht ausgeschlossen. Wenn Legitimität und Stabilität erodieren, ist der Weg in die Staatskrise nicht mehr weit. Die russische Elite muss sich entscheiden, in welche Zukunft sie das Land führen will – doch ihr fehlt gegenwärtig der öffentliche Raum, in dem diese Probleme überhaupt diskutiert werden können.

Die Putin-Jahre haben ein politisches Vakuum geschaffen, das erst wieder mit konkurrierenden Inhalten und Personen gefüllt werden müsste.

Noch ist die politische Opposition in Russland vergleichsweise schwach und schlecht organisiert. Ihr fehlen überregionale Strukturen und – mit der Ausnahme von Alexei Navalny – auch Köpfe, hinter denen sie sich sammeln kann. Die Putin-Jahre haben ein politisches Vakuum geschaffen, das erst wieder mit konkurrierenden Inhalten und Personen gefüllt werden müsste. Doch die Bilder aus Moskau zeigen, dass die Herrschenden einen Teil der Jugend, insbesondere in den Großstädten, verloren haben. Es wird kaum möglich sein, die Protestierenden erneut für den autoritären Staat zu begeistern. Sie stellen eine bedeutsame Minderheit, die sich Veränderungen in Russland wünscht. Zudem sollte man die Strahlkraft der Demokratisierungsversuche im post-sowjetischen Raum – etwa in Georgien oder in der Ukraine – nicht unterschätzen. Heute lebt die russische Bevölkerung in einem Staat, der sie entmündigt. Ist dieser Paternalismus noch zeitgemäß?

Derzeit ist unklar, wie die Proteste weitergehen. Doch schon jetzt lässt sich festhalten, dass die Stabilität und Legitimität der politischen Ordnung in Russland zunehmend prekär erscheint. Das bedeutet nicht, dass die Protestierenden schnelle Erfolge verzeichnen werden. Der Staat verfügt, wie die Sowjetunion in der Vergangenheit, über große Ressourcen und gewaltige Sicherheitsapparate. Gerade das sowjetische Beispiel zeigt jedoch, wie fragil eine Macht sein kann, der es an Legitimität mangelt.

In der ersten post-sowjetischen Generation gibt es Dialogpartner für eine konstruktive Beziehung und eine Zukunft, die ohne Konfrontation auskommt. Diesen jungen Russinnen und Russen sollten wir den visafreien Zugang nach Europa ermöglichen. Die Moskauer Proteste vom letzten Wochenende sind noch kein Wendepunkt, aber sie sind Teil eines Prozesses, an dessen Ende gewichtige Veränderungen stehen können.