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„Wo ist Batse?“ lautet der Hashtag, unter dem in Bulgarien derzeit Hinweise zum Aufenthalt des Ministerpräsidenten entgegengenommen werden. Denn der sonst medial überpräsente „Batse“ („großer Bruder“) Boyko Borissov ist buchstäblich vom Bildschirm verschwunden. Vor allem ist er nicht dort, wo das Land gerade politisch überkocht.

Seit vier Wochen gehen die Bulgaren zu Tausenden allabendlich auf die Straße und fordern den Rücktritt ihrer Regierung und des Generalstaatsanwalts. Der Austausch von vier sehr austauschbaren Ministern hat die Massen nicht beschwichtigen können. Im Gegenteil: Es herrscht Unglauben und Empörung darüber, dass die Regierung glaubt, so billig davonzukommen.

Es sind nicht nur Proteste gegen die Regierung Borissov. Die Wut richtet sich gegen die dubiosen Spielregeln der Politik Bulgariens, gegen mächtige Netzwerke aus Politikern und Privatunternehmern, die sich öffentliche Gelder und Aufträge gegenseitig zuschanzen und gegen eine Justiz, die diese Vorgänge deckt. Es geht um die Gängelung unabhängiger Journalisten und Korruption auf höchster Ebene.

Es geht aber auch um die EU und um die Hoffnungen, die mehr als zehn Jahre EU-Mitgliedschaft nicht erfüllt haben – ein Versprechen von steigendem Wohlstand, aber auch von funktionierenden Institutionen, von Rechtsstaatlichkeit und einem modernen Staatswesen. Hoffnungen, dass Brüssel nicht nur der freundliche Onkel sein sollte, der Geld schickt, sondern auch eine Kontrollinstanz für die korrupten Eliten. Das Geld floss, aber die Kontrolle blieb aus. Es liegt eine bittere Ironie in der Tatsache, dass die europäischen Gelder die Korruption in Bulgarien noch verschärft haben – denn die blüht dort, wo es etwas zu verteilen gibt.

Das Geld floss, aber die Kontrolle blieb aus.

Die Bulgaren sind ein pro-europäisches Volk; keine nationale Institution erhält hier so viel Zustimmung wie die EU, besonders unter jungen Leuten. Und lange galt die Erwartung, dass die EU die Bulgaren vor dem retten könne, was sie hier Mafia nennen: ein Kartell aus politisch bestens vernetzten Oligarchen mit Verbindungen ins organisierte Verbrechen. Doch nun wird zunehmend klar, dass in Brüssel niemand die Zustände in Bulgarien wahrnimmt. Schlimmer noch: Niemand sie wahrnehmen will. Und dass das Geld aus Brüssel weiterfließt, trotz Skandal nach Skandal.

„EU – are you blind?“ und „EU, come and look how they spend your money!“ skandieren die Demonstranten. Dabei dürften bei den Partnern in der EU wenig Illusionen über Borissovs Regierung und die Verwendung von EU-Fonds in Bulgarien vorherrschen – zu offensichtlich und kontinuierlich sind die Missbräuche. Nicht ohne Grund zögern die Mitgliedsstaaten den Schengen- und Eurobeitritt Bulgariens immer wieder hinaus. Das „Kooperations- und Kontrollverfahren“ der Kommission, das eine kontinuierliche Entwicklung hin zu mehr Rechtsstaatlichkeit in Bulgarien sicherstellen sollte, hat sich als stumpfes Schwert erwiesen. Die halbjährlichen Fortschrittsberichte haben nur wenig mit den tatsächlichen Geschehnissen in Bulgarien zu tun. Brüssel lässt sich allzu gern täuschen.

Aus guten Beziehungen in die EU lässt sich in Bulgarien durchaus politisches Kapital schlagen; Borissov zeigte sich stets gerne mit seinen Kollegen, insbesondere auch mit Angela Merkel, die er als seine „große Schwester“ bezeichnete. „Ist Ihnen der korrupte Typ nicht peinlich, Frau Merkel?“ fragt nun ein Plakat an der Adlerbrücke in Sofia, eins der Zentren des Protests. Offenbar nicht peinlich genug: Ein Statement von Manfred Weber, Fraktionschef der konservativen Europäischen Volkspartei, „Boyko Borissov habe in seinem Kampf gegen die Korruption seine volle Unterstützung” klang den Protestierenden wie Hohn – Borissov gilt vielen als der Frontmann der „Mafia“.

Sonst bleibt es still aus Brüssel und Berlin. Die europäischen Parteienfamilien tun sich schwer im Umgang mit problematischen Mitgliedern innerhalb der eigenen Reihen – die ideologischen Unterschiede sind oft enorm, aber im Europaparlament werden alle Stimmen gebraucht. Nur zögernd und nach reichlich Provokationen fand die Europäische Volkspartei zu klaren Worten gegenüber Viktor Orbans Fidesz. Im Vergleich zur Fidesz jedoch ist Borissovs GERB ein Musterbeispiel: pro-europäisch, konstruktiver Partner bei der Suche nach einer europäischen Lösung der Flüchtlingsfrage und weitgehend frei von Hetze gegen Minderheiten. Zudem hält Bulgarien eine EU-Außengrenze dicht – wenn auch zuweilen mit fragwürdigen Mitteln – und pflegt gute Beziehungen zur Türkei.

Das „Kooperations- und Kontrollverfahren“ der Kommission, das eine kontinuierliche Entwicklung hin zu mehr Rechtsstaatlichkeit in Bulgarien sicherstellen sollte, hat sich als stumpfes Schwert erwiesen.

Borissov ist ein bequemer Partner in der EU, denn er wirkt ohne das große Getöse eines Viktor Orban, ohne außenpolitischen Machismo. Unter seiner Regierung werden die Demokratie Bulgariens und ihre Institutionen jedoch leise aber kontinuierlich ausgehöhlt: die unabhängige Justiz, die freie Presse, die kritische Zivilgesellschaft, sogar das Parlament als Korrektiv. Es bleibt die Fassade einer Demokratie – zur Besichtigung für die europäischen Partner.

Aber Bulgarien muss nicht immer bequem bleiben: Ohne die notwendigen Korrektive ist der wichtigste Grund dafür, dass Bulgarien bisher nicht denselben Weg geht wie Ungarn, dass Boyko Borissov das nicht so entschieden hat. Noch nicht zumindest.

Die andauernden Proteste bieten einen schmalen Hoffnungsschimmer, dass es Bulgarien gelingen könnte, seine Probleme aus eigener Kraft zu lösen. Der Ministerpräsident erklärt zwar, er sei zum Rücktritt bereit, aber legt die Entscheidung in die Hände seines Kabinetts und der eigenen Parteistrukturen. Die Demonstranten wiederum misstrauen einer Wahl, die von der amtierenden Regierung vorbereitet wird, mit oder ohne Borissov. Gleichzeitig liegt keine Alternative auf der Hand: Auf die Frage, welche der etablierten Parteien ihrer Meinung nach mit der „Mafia“ zusammenarbeitet, antwortet in einer aktuellen Umfrage fast die Hälfte der Bevölkerung: „alle“.  Bulgarien kann jede Hilfe gebrauchen.

Es könnte daher zum Schwur für die Partner aus Brüssel kommen. Eine Ernüchterung gegenüber der EU unter den Bulgaren ist bereits Kollateralschaden ihres Schweigens. Neben allgemeinen und unkonkreten Bekenntnissen zu Rechtsstaatlichkeit, Antikorruption und Gewaltenteilung wird es dann auch notwendig zu fragen: Wo steht Batse?