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Im einleitenden Kapitel ihres Buches Twilight of Democracy (die deutsche Ausgabe Die Verlockung des Autoritären erscheint Anfang 2021) erzählt Anne Applebaum von einer Silvesterparty, die sie und ihr Mann 1999 bei sich zu Hause in der polnischen Provinz ausrichteten. Unter den Gästen befanden sich viele der führenden Liberalen und Konservativen des Landes. Die Stimmung war gut, die Zukunft schien rosig, alles wies in Richtung Freiheit und offene Märkte.
Zwei Jahrzehnte später ist dieser Traum zusammengeschrumpft wie ein vertrockneter Apfel. Polen wird von der rechtsnationalistischen Partei Recht und Gerechtigkeit regiert, der Liberale wie das Ehepaar Applebaum ein Gräuel sind. Die Hälfte der Freunde, die 1999 ihre Party besuchten, spricht nicht mehr mit ihnen. Das Buch ist eine melancholische Ode an eine verlorene Welt und der Versuch nachzuvollziehen, was eigentlich geschehen ist.
Die Verlockung des Autoritären ist flott geschrieben und in den Passagen, die sich mit dem Verlust von Freundschaften beschäftigen, hochinteressant. Doch man mag kaum glauben, dass eine der renommiertesten Intellektuellen der Welt eine so schwache Analyse des Aufstiegs von Populismus und Autoritarismus abliefert.
Bekannt wurde Applebaum mit Büchern über den Gulag und das Leben hinter dem „Eisernen Vorhang“. Sie arbeitet für liberale und konservative Zeitungen wie den Economist und den Spectator und lebt seit vielen Jahren in Polen. Politisch steht sie den Republikanern in den Vereinigten Staaten nahe – bevor diese sich von Donald Trump vereinnahmen ließen. Applebaum gehört zum politischen Establishment, das nach dem Fall der Mauer das „Ende der Geschichte“ konstatierte; die Deregulierung im Zuge der „Reaganomics“ und die NATO-Erweiterung waren wichtige Bausteine ihrer zentristischen Utopie.
Wie die Logik von Twitter und Facebook ist auch Applebaums Sicht auf die Welt.
In ihrem Buch geht Applebaum nun der Frage nach, warum der politische Druck gegen dieses alte Establishment – ihre Freunde – so heftig ausfällt. Über Mitteleuropa weiß ich zu wenig, um ihre Schilderung der dortigen Entwicklungen bewerten zu können, aber in den Teilen, die sich mit Westeuropa und den USA befassen, ist ihre Analyse banal und ideologisch blind.
Applebaum ist entsetzt über die „extreme Linke“, die so bekannten Instanzen wie dem US Federal Bureau of Investigation und der Central Intelligence Agency nicht bedingungslos vertraut. Jede Bewegung, jede Person, die den Status quo kritisiert, trägt ihr zufolge zur „Polarisierung“ bei und ist ein Feind der Demokratie; wer amerikanischen Idealen misstraut, ist ein „Zyniker“. In Applebaums idealisierter Darstellung der USA kommen weder illegale Kriege, Armut oder Korruption vor noch Unzulänglichkeiten im deformierten Kapitalismus des Landes.
Warum aber haben einige von Applebaums Freunden die Demokratie verraten? Sie führt das, kurz gesagt, auf persönliche Fehlentscheidungen zurück. Wie der Politikwissenschaftler Ivan Krastev in einer Rezension des Buches für Foreign Policy anmerkt, drehen sich in Applebaums Welt Konflikte nie um Interessen oder Macht, sondern immer nur um Werte.
Die einzige relevante Erklärung, die Applebaum für die Schwächung der Demokratie anführt, sind die „sozialen Medien“, in denen sich Propaganda verbreitet und Menschen radikalisiert werden. Natürlich gibt es diese Mechanismen, die nicht selten unterschätzt werden. Aber wie die Logik von Twitter und Facebook ist auch Applebaums Sicht auf die Welt: Die moralischen und emotionalen Narrative unserer Zeit werden verstärkt, und die Plattformen eignen sich wunderbar als Sündenbock, damit man über andere tieferliegende Faktoren nicht weiter nachdenken muss.
Der Markt will immer mehr, und da er im Zuge der wachsenden Kommodifizierung immer größere Teile der Gesellschaft verschlingt, verliert die Demokratie an Kraft. Das provoziert irgendwann eine Gegenreaktion.
Der britische Politikwissenschaftler Jonathan Hopkin geht in seinem neuen Buch Anti-System Politics derselben politischen Entwicklung auf den Grund, allerdings mit anderen Instrumenten als Applebaum.
Hopkin untersucht die Ursachen für den wachsenden Einfluss systemkritischer politischer Parteien im linken wie auch im rechten Spektrum. Sein Ausgangspunkt ist Karl Polanyi, dem zufolge der Kapitalismus die Saat seiner eigenen Zerstörung in sich trägt. Der Markt will immer mehr, und da er im Zuge der wachsenden Kommodifizierung immer größere Teile der Gesellschaft verschlingt, verliert die Demokratie an Kraft. Das provoziert irgendwann eine Gegenreaktion.
Hopkin stellt dar, dass sich in Europa der Durchbruch vieler systemkritischer Parteien nach der Finanzkrise einstellte. Dieses wirtschaftliche und soziale Erdbeben wurde im öffentlichen Diskurs mit der Fokussierung auf „soziale Medien“, „Kulturkriege“ und „Einwanderung“ gern heruntergespielt.
Der Unterschied zwischen den beiden Erklärungsmodellen – dem moralischen und dem materiellen – wird deutlich, wenn man vergleicht, wie Applebaum und Hopkin die politische Entwicklung in einem Land wie Spanien beurteilen.
Laut Applebaum lässt sich der Erfolg der rechtsnationalistischen Partei Vox vor allem auf die Unzufriedenheit mit den katalanischen Separatisten und den Einfluss von Trumps digitalen Kampagnen zurückführen. Hopkin dagegen stellt dar, dass die Finanzkrise 2008 für große Wählergruppen schwere finanzielle Einbußen mit sich brachte, was dazu führte, dass sie den etablierten Parteien nicht mehr vertrauten.
Die Grundannahme erwies sich als falsch: Mehr Markt bringt nicht mehr Demokratie – im Gegenteil.
Nach dem Fall der Mauer waren die Menschen, die in Applebaums Kreisen verkehrten, – wie die Liberalen generell und viele Sozialdemokraten – davon überzeugt, dass mehr Markt mehr Demokratie mit sich bringen werde. In Wahrheit aber braucht der Kapitalismus starke Gegengewichte.
In der Nachkriegszeit waren in Westeuropa und in den USA solche Gegengewichte vorhanden: mitgliederstarke politische Volksparteien, mächtige Gewerkschaften und ein mehr oder weniger umfassender Sozialstaat. In den letzten Jahrzehnten haben sich diese Mechanismen abgeschwächt. Und auch die Grundannahme erwies sich als falsch: Mehr Markt bringt nicht mehr Demokratie – im Gegenteil.
Heute sehen wir, wie das Kapital Partner verändern kann, die sich statt mit liberalen Demokraten wahllos mit autoritären Kräften einlassen. Politikern wie Trump und Viktor Orbán in Ungarn ist nicht an Freiheit und Bürgerrechten gelegen: Sie wollen Macht um ihrer selbst willen und schützen ihre persönlichen Geschäftsinteressen ebenso wie die ihrer Kapitalistenkumpane.
Liberale und Konservative auf Applebaums Silvesterparty einte die Erinnerung an einen gemeinsamen Feind, den Kommunismus. Dessen Funktion hat in den letzten Jahren der Autoritarismus übernommen: Alle hassen Trump, von Cindy McCain (Witwe des republikanischen Präsidentschaftskandidaten 2008, John McCain) bis Noam Chomsky.
Auch ich habe mich in den letzten Jahren politisch radikalisiert. In den 90er Jahren hätte ich möglicherweise eine Koalition mit Anne Applebaum unterstützt – wenn auch nicht mit ihrem guten Freund Boris Johnson. Aber heute ist mir völlig unverständlich, dass Menschen, die die Ideale der Demokratie, ja, der Gleichheit hochhalten, verkennen können, was seither geschehen ist.
Demokratie ist mehr als das Wahlrecht. Langfristig fußt sie auf Gerechtigkeit, und Gerechtigkeit stellt sich nur ein, wenn die materiellen Lebensbedingungen von Menschen verändert werden. Die Trennlinie in der Politik kann nicht zwischen „gut“ und „böse“, moralisch und unmoralisch verlaufen. Wenn wir die Demokratie retten wollen, müssen wir zum Kapitalismus von heute, der die Demokratie schwächt, neue Gegengewichte schaffen.
Dieser Artikel ist eine gemeinsame Publikation von Social Europe und IPS-Journal. Eine schwedische Version erschien in Aftonbladet.
Aus dem Englischen von Anne Emmert