Als Präsident Trump am 5. Mai über Twitter erklärte, das Handelsabkommen mit China sei geplatzt, fiel das Echo in Peking laut und deutlich. Und es hatte starke historische Bezüge. Fast genau 100 Jahre zuvor hatte China 1919 mit der „Bewegung des 4. Mai“ unmittelbar auf Entscheidungen von US-Präsident Woodrow Wilson reagiert. Wilson hatte nach dem Ende des Ersten Weltkriegs dem verbündeten China versprochen, dass deutsche Niederlassungen in der Provinz Shandong wieder in chinesische Souveränität überführt würden. Stattdessen aber wurden sie Japan überlassen. In China löste das eine anti-amerikanische nationalistische Welle aus. Eine der Folgen dieses Ereignisses war letztlich die Gründung der Kommunistischen Partei Chinas, die seit nunmehr 70 Jahren das Land regiert.
Präsident Trump hat es Xi Jinping ermöglicht, wirkungsvoll die nationalistische Karte zu spielen, und das in einer Zeit, in der Xi wegen der Abschwächung der Wirtschaft im Inland unter Druck steht. Die chinesischen Medien heben in ihren Berichten nun vornehmlich die ökonomische Belastbarkeit des Landes hervor und appellieren an den Patriotismus, ja, sie beschwören gar den Geist des Koreakriegs herauf, in dem China der offiziellen Version zufolge das stark überlegene US-Militär bezwungen hat. Und für den Fall, dass die Botschaft bei den Bürgerinnen und Bürgern noch nicht angekommen sein sollte, besuchte Xi kürzlich Jiangxi. Der Ort war 1934 Ausgangspunkt des „Langen Marsches“, der der Kommunistischen Partei große Entbehrungen auferlegte, sie letztlich jedoch zum Sieg führte.
Ich kann die Mitglieder der Regierung Trump förmlich stöhnen hören. Warum, um Himmelswillen, sollten sie sich den Kopf über die chinesische Geschichte zerbrechen? Die Antwort hängt davon ab, worauf Trump es eigentlich abgesehen hat. Wenn er seiner US-Wählerschaft zuliebe einen harten Ton anschlägt, könnte seine Strategie erfolgreich sein. Anders sieht es aus, wenn er Chinas Verhandlungsposition für ein bilaterales Handelsabkommen so beeinflussen will, dass sich die chinesische Handelspolitik künftig ändert, etwa in Hinblick auf erzwungenen Technologietransfer, den Diebstahl geistigen Eigentums, Industriesubventionen, Währungsmanipulation und eine Vielzahl weiterer nicht zollbedingter Handelsschranken.
Die chinesische Staatsführung hatte ihrem Verhandlungsteam bislang große Flexibilität eingeräumt. Damit ist es vorbei.
Tage nach den Tweets des Präsidenten benannten die Chinesen drei „rote Linien“ - Positionen der USA in den Verhandlungen über das Abkommen, die sie als inakzeptabel betrachten: Erstens die Beibehaltung von Zöllen über einen bestimmten Zeitraum nach Unterzeichnung des Handelsabkommens hinaus. Zweitens die Einführung von Strafzöllen durch die USA, sollten diese zu dem Schluss gelangen, dass China gegen das Abkommen verstößt. Drittens die ausufernden Erwartungen der USA, was eine bilaterale Vereinbarung über den Kauf amerikanischer Güter durch die Chinesen angeht.
Diese „roten Linien“ waren neu. Die chinesische Staatsführung hatte ihrem Verhandlungsteam bis dahin große Flexibilität eingeräumt. Doch damit ist es vorbei. Nun, da diese drei roten Linien in der Öffentlichkeit sind, können die Chinesen in diesen Punkten nicht mehr nachgeben. Dass zudem große Teile des Verhandlungstextes an US-Nachrichtenmedien durchgestochen wurden, vergiftete die Atmosphäre zusätzlich und machte es praktisch unmöglich, den Ursprungstext wieder als Verhandlungsgrundlage heranzuziehen. Dies und die jüngsten Maßnahmen gegen das chinesische Telekommunikationsunternehmen Huawei, mit denen der Druck auf Peking wohl verstärkt werden sollte, schränken die Chancen auf ein verändertes Abkommen, das den US-Interessen entgegenkäme, erheblich ein.
So, wie ich es in den letzten Wochen beobachtet habe, bewegt sich Peking stattdessen in genau die entgegengesetzte Richtung. Wirtschaftsanalysten haben mittlerweile die Folgen eines ausgewachsenen Handelskrieges berechnet; nach ihrer Schätzung würde das chinesische Wirtschaftswachstum um 1,2 Prozent geringer ausfallen. Diese Zahl wird in den chinesischen Medien nun als vollkommen vertretbar dargestellt, da China mittels geld- und fiskalpolitischer Maßnahmen die Inlandsnachfrage stützen und das Wachstum über 6 Prozent halten könne.
Könnte es aus chinesischer Sicht nicht besser sein, die Verluste abzuschreiben und sich auf den nächsten Kalten Krieg vorzubereiten?
Selbst wenn der Abschluss eines Handelsabkommens mit den Vereinigten Staaten nach wie vor möglich sein sollte - in der chinesischen Führung fragt nun manch einer, warum man sich eigentlich damit herumschlagen solle? Schließlich habe die Regierung Trump in den Bereichen Technologie, Investitionen, Außenpolitik, nationale Sicherheit und Menschenrechte gegenüber China eine klar konträre Position bezogen. Warum also sollte Peking noch politisches Kapital in ein Handelsabkommen investieren? Könnte es aus chinesischer Sicht nicht besser sein, die Verluste abzuschreiben und sich auf den nächsten Kalten Krieg vorzubereiten?
Wenn die Regierung Trump diese Reaktion bezweckt hat, ist ihre Strategie enorm erfolgreich. Wenn aber der Präsident wirklich ein Handelsabkommen anstrebt, mit einer angemessenen Absenkung des bilateralen Handelsdefizits und substanziellen Veränderungen im Wirtschaftsgebaren der Chinesen, muss die US-Verhandlungsstrategie eindeutig neu justiert werden. Natürlich vertritt China in der Öffentlichkeit die Position, dass die Verhandlungen fortgesetzt werden können. Auch unter Beibehaltung der neuen „roten Linien“ könnte es noch Raum für ein Abkommen geben. China könnte sich bereit erklären, mehr amerikanische Waren zu kaufen, wenn die USA bei der Beibehaltung von Zöllen und dem unilateralen Recht auf eine spätere Erhebung von Zöllen nachgibt. Doch die Hürden für eine Vereinbarung haben sich deutlich erhöht.
Unter dem Strich heißt das, dass der Nationalismus nicht nur in Trumps Amerika eine große Rolle spielt. Er ist auch in Xi Jinpings China ein wichtiger Faktor, der sich mit dem Blick in die chinesische Geschichte nur noch verstärkt. In den Beziehungen zwischen China und den USA, wie sie über die letzten 100 Jahre vorherrschten, sah sich Peking stets als der schwächere Partner. Heute aber ist das Land nach Ansicht der Führung in Peking alles andere als schwach.
Aus dem Englischen von Anne Emmert.
(c) The New York Times 2019