Es eint Donald Trump mit Boris Johnson („We will take back control“) und anderen nationalen Populisten, wenn sie die Rückeroberung nationaler Souveränität als Lösung für innenpolitische Probleme versprechen. Auch wenn bereits vielfach nachgewiesen ist, dass eine Re-Nationalisierung weder gut funktioniert noch die erhofften Wohlstandsgewinne bringt, scheint diese populistische Forderung ein Dauerbrenner in nationalen Wahlkämpfen zu sein – selbst bei Regionalwahlen, obschon Regionalregierungen nahezu keinen Einfluss auf Globalisierungsprozesse haben. Die Haltung „Ich regle das national!“ ist wohl verführerischer als der Fakt, dass weder innere noch äußere Sicherheit im nationalen Alleingang gewährleistet werden können, auch Migrationsbewegungen kaum regional kontrollierbar sind. Das gilt auch für Energiesicherheit, Gesundheitsvorsorge, den Kampf gegen den Klimawandel, Wohlstandsmehrung und die Versorgung der Bevölkerung mit zentralen Gütern und Dienstleistungen.

In Anlehnung an das dänische Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ aus dem frühen 19. Jahrhundert muss man wohl unermüdlich auf die irreführende Polemik von Problemlösungen durch Re-Nationalisierung hinweisen, wenn der nationale Mainstream in vielen Ländern nationalistisch zu blinken beginnt: Denn es ist wie beim Kaiser im Märchen, der keine Kleider trägt. Jeder sieht es, aber nur ein unschuldiges Kind traut sich, es auszusprechen. Re-Nationalisierung führt eher zur Vergrößerung von Problemen und nicht zu deren Lösung. Wer glaubt, dass man sich abkoppeln sollte von Weltwissen und Kultur, einem internationalen Arbeitsmarkt und globalen Handelsströmen, der denkt auch, dass man beim Verstecken-Spielen am besten die Augen zuhält, um nicht gefunden zu werden.

Denn Re-Nationalisierung führt eher zur Vergrößerung von Problemen und nicht zu deren Lösung.

Dass das keine theoretische Debatte ist, konnte zuletzt in England besichtigt werden, wo es nach dem Brexit nicht etwa mehr Unabhängigkeit und Wohlstand gibt, sondern im Gegenteil: London versinkt immer mehr in einem ökonomischen Chaos, das sich negativ auf Arbeitsplätze, Kaufkraft, die Kultur und letztlich auf die politische Stimmung im Land auswirkt. Entgegen allen Versprechungen, die in der Brexit-Kampagne gegeben wurden, leidet auch das Gesundheitssystem unter der britischen Re-Nationalisierung. Ein kurzer Blick zum Beispiel auf das deutsche Gesundheitssystem sollte genügen: Es sind vielfach Menschen mit Migrationshintergrund, die in Krankenhäusern, Altenheimen und Pflegeeinrichtungen arbeiten, weil ohne sie der Bedarf kaum gedeckt werden kann.

Wenn man sich allein vergegenwärtigt, dass ein Auto aus mehr als 10 000 einzelnen Bauteilen besteht, die in einer Vielzahl von Ländern produziert werden, dass eine moderne Volkswirtschaft abhängig ist von Menschen und ihrem Wissen auf der ganzen Welt, kann dieses negative Resultat des Brexits nicht überraschen, ja, es war sogar im Vorfeld absehbar. Multilateralismus und internationaler Austausch führen zu einer Win-Win-Situation, während eine Rückkehr zum Nationalismus zu einem machtpolitischen Nullsummenspiel oder sogar zu einem Regress in der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung führt.

„Me first“ ist dabei offensichtlich kein tragfähiges Konzept – es funktioniert noch nicht einmal in kleinen sozialen Gruppen, die keiner Gewaltherrschaft unterworfen sind.

Wie schon in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert ist eine globale Interdependenz analytischer Kern für Souveränität, es geht also um „verschränkte Souveränität“. Dieser Befund sollte auch in Wahlkämpfen ehrlich benannt werden – und er muss institutionelle Konsequenzen haben. Denn die Wahrheit ist: Die Herausforderungen mit oft heftigen Ausschlägen in den Nationalstaaten und Regionen sind im 21. Jahrhundert ursächlich oft global. Darum müssen multilaterale Strukturen dort gestärkt werden, wo die entscheidenden Spieler zur Lösung der globalen Probleme zusammensitzen.

Jeder ehrliche Wahlkämpfer sollte die begrenzte nationale Lösungskompetenz eingestehen und den anspruchsvollen Weg des Multilateralismus verdeutlichen, beziehungsweise seinen Vorsatz, wie das Erreichen einer internationalen Lösung befördert werden kann. Me first ist dabei offensichtlich kein tragfähiges Konzept – es funktioniert noch nicht einmal in kleinen sozialen Gruppen, die keiner Gewaltherrschaft unterworfen sind.

Auch wenn es bereits ein UN-System gibt, das an vielen Stellen tagtäglich gute Arbeit leistet und trotzdem oft unberechtigt harsch kritisiert wird, sollte – in Ergänzung – das G20-System gestärkt werden, um Armutsüberwindung, Bekämpfung des Klimawandels, Regulierung der digitalen Welt, fairen Handel und Migrationsregulierung effektiv im Sinne eines globalen Gemeinwohls zu beschleunigen. Die G20 haben in den letzten Jahren vieles unternommen, um ihre globale Akzeptanz zu erhöhen, auch indem sie inhaltlich sachgerechte Vorschläge vorgebracht haben. Zwar besteht die „Group of 20“ auch nach der Aufnahme der Afrikanischen Union nur aus 21 Mitgliedern und ist damit weit entfernt von der nahezu universellen Repräsentanz der UN; aber auch die Vereinten Nationen sind in ihrem wichtigsten Gremium, dem Sicherheitsrat, völlig anachronistisch und wenig repräsentativ zusammengesetzt.

Die Regierungen der G20 repräsentieren nahezu zwei Drittel der Weltbevölkerung, vier Fünftel des globalen Bruttosozialprodukts und alle Kontinente sind vertreten: Selbst die Zivilgesellschaften sind über sogenannte engagement groups eingebunden, etwa weltweit führende Thinktanks, Gewerkschaften, Frauen- und Jugendverbände, Wirtschaftsvertreter und Kommunen. Gleichzeitig können die G20 immer noch effizient arbeiten, sind gut koordiniert und bei politischen Vorschlägen oft innovativ.

Aber nicht nur der allgemeine, institutionelle Aufbau der G20 beeindruckt. Die Vielzahl fundierter Vorschläge etwa zur besseren Finanzierung nationaler Haushalte, zur Regulierung der internationalen Migration und des digitalen Zeitalters oder zum Kampf gegen den Klimawandel lässt wünschen, dass Regierungen, Parlamente und Medien intensiver aus dem Füllhorn der problemorientierten Lösungsvorschläge schöpfen. Wenn aber mehr von den interessanten Vorschlägen aus den G20 in den nationalen Hauptstädten und den Öffentlichkeiten ankommen soll, muss das System an einigen Stellen reformiert werden.

Es ist höchste Zeit, dem Multilateralismus im Sinne einer Weltinnenpolitik einen kräftigen Schub zu verleihen.

In mindestens drei Bereichen ist der Reformbedarf offensichtlich: Erstens müssen die G20 vom Beratungs- zum Beschlussgremium werden. Bislang sind die G20 ein informelles Gremium, das keine rechtsverbindlichen Beschlüsse fasst. Allerdings drängt bei vielen globalen Herausforderungen offensichtlich die Zeit, sodass es kaum noch zu vermitteln ist, warum es vieler Umwege bedarf, um zu einer rechtsverbindlichen Regulierung zu kommen, wenn sich die G20-Mitglieder bereits auf ein Vorgehen verständigt haben. Das bedeutet konkret, dass die G20 in eine internationale Organisation überführt werden sollte – ähnlich wie die KSZE in den 1990er Jahren zur OSZE wurde.

Zweitens, die Repräsentanz der G20 muss weiter verbessert werden. Auch wenn durch die Aufnahme neuer Mitglieder und durch die regelmäßige Einladung von Gästen die G20 wichtige Schritte zur besseren Repräsentanz unternommen hat, könnte zum Beispiel durch die Mitgliedschaft der Staaten, die am stärksten vom Klimawandel betroffen sind, ein deutliches Zeichen gesetzt werden, dass die Verursacher von Krisen die Betroffenen bei der Lösung einbeziehen. Auch gilt es, die Einbeziehung der zivilgesellschaftlichen Gruppen festzuschreiben und ihre Partizipation zu ermöglichen. Das mag finanzielle Implikationen haben. Ob die nationalen Parlamente und das Europaparlament die G20 institutionell begleiten wollen, werden sie selbst entscheiden müssen. Parlamentarische Versammlungen von anderen internationalen Organisationen könnten als Beispiel dienen. Diese stärken inhaltlich und durch bessere Repräsentanz schon jetzt die Regierungsorganisationen.

Drittens, die Organisation der G20 muss verstetigt und professionalisiert werden. Bislang obliegt es der jährlich wechselnden G20-Präsidentschaft, ihre Prioritäten zu benennen und die entsprechenden Sitzungen vorzubereiten. Länder, die eine funktionierende Administration und eine lebendige Zivilgesellschaft besitzen, können eine G20-Präsidentschaft kompetent und zielorientiert durchführen. Das ist aber nicht immer gewährleistet. Deshalb sollte ein permanentes Sekretariat die unzähligen G20-Sitzungen vorbereiten, also Prioritäten, Beschlussvorlagen und Tagesordnungen entwerfen, die Einhaltung der Beschlüsse überwachen und die stetige Einbeziehung der Zivilgesellschaft sicherstellen.

Mitte November findet in Rio de Janeiro der nächste G20-Gipfel unter brasilianischer Präsidentschaft statt. Es ist höchste Zeit, dem Multilateralismus im Sinne einer Weltinnenpolitik einen kräftigen Schub zu verleihen. Die G20 zu stärken, könnte angesichts der immer sichtbarer werdenden Spaltung der Welt das notwendige Signal hierfür sein.