Zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt haben die denkbar schlechtesten Akteure das Sagen. In Großbritannien, den USA und Australien setzt die Politik der Regierungsparteien darauf, Gefahren zu leugnen und sich über Risiken hinwegzusetzen. Dieselben Politiker, die sich weigern, rechtzeitig und angemessen auf die Klimakatastrophe, den ökologischen Kollaps, auf Luft- und Wasserverschmutzung, Fettsucht und die Überschuldung privater Haushalte zu reagieren, schieben jetzt wirksame Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19 vor sich her.
Es ist gewiss kein Zufall, dass gerade diese drei Regierungen später als vergleichbare Staaten auf das Coronavirus reagierten und dann auch noch zu Maßnahmen griffen, die auf klägliche Weise hinter der Dimension der Krise zurückblieben. Dass Großbritannien auffallend langsam in die Gänge kam und dann eine Strategie der Herdenimmunität fuhr, die in die Katastrophe hätte führen können und nach harscher Kritikvon unabhängigen Experten ad acta gelegt wurde, und dass das Land es lange versäumte, Verdachtsfälle zu testen und Infizierte und Kontaktpersonen wirksam zu isolieren oder das medizinische Personal mit Schutzausrüstung auszustatten, trug möglicherweise zu einer Vielzahl unnötiger Todesfälle bei. Hätten die Regierungen in Großbritannien, den USA und Australien sofort und mit angemessenen Maßnahmen reagiert, hätten sie dafür das ganze politische Gedankengebäude über Bord werfen müssen, das sich in den vergangenen 50 Jahren in diesen Ländern etabliert hat.
Politik versteht sich vor allem als Öffentlichkeitsarbeit für Partikularinteressen. Das Primäre sind die Interessen, und die Politik ist das Instrument, mit dem diese Interessen gerechtfertigt und bedient werden. Auf der linken Seite des politischen Spektrums können die dominierenden Interessengruppen sehr groß sein. Dort umfasst eine Interessengruppe zum Beispiel alle Menschen, die Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge in Anspruch nehmen. Auf der rechten Seite sind die Interessengruppen meist viel kleiner. In den USA, Großbritannien und Australien sind sie ganz besonders klein und bestehen vor allem aus Multimillionären und einem handverlesenen Kreis von Unternehmen, die ihre Profite damit erwirtschaften, dass sie ohne Rücksicht auf Verluste den Menschen und dem Planeten zusetzen.
Seit 20 Jahren befasse ich mich mit der frappierenden Macht der Tabakunternehmen und Ölkonzerne, die der Politikgestaltung in diesen drei Ländern – weitgehend im Verborgenen – ihren Stempel aufdrücken. Dabei stellte sich heraus, dass Tabakkonzerne insgeheim eine Infrastruktur finanzieren, die dazu dient, die Auswirkungen des Rauchens zu leugnen. Genau diese Infrastruktur wurde später – oft von denselben Profi-Lobbyisten – genutzt, um die Erkenntnisse der Klimaforschung in Zweifel zu ziehen oder über Wissenschaftler und Umweltaktivisten herzufallen.
Der Brexit lässt uralte Mythen von imperialer Macht, Schicksal und britischer Einzigartigkeit aufleben und wird womöglich dafür sorgen, dass den Briten im internationalen Handel extremer Gegenwind ins Gesicht bläst.
Ich konnte zeigen, dass diese Unternehmen rechtsgerichtete Denkfabriken und Hochschulprofessoren dafür bezahlen, dass sie die staatliche Gesundheitspolitik unter Beschuss nehmen und an einem neuen Gefahrennarrativ stricken, das an Fokusgruppen getestet und in den Medien rundgeschliffen wurde. Sie deuteten den verantwortungsbewussten Staat zum „Bevormundungsstaat“, zur „Gesundheitspolizei“ und zum „Regulierungsfanatiker“ um. Wissenschaftliche Erkenntnisse und Prognosen wurden als „unbegründete Ängste“, „risikoscheu“ und „Panikmache“ abgetan. Schutzmaßnahmen des Staates wurden als „Behördenkram“, „Einmischung“ und „staatliche Kontrolle“ geschmäht. Der Staat als solcher wurde als tödliche Bedrohung für unsere Freiheit dargestellt.
Damit sollten die Bereitschaft und die Fähigkeit des Staates, auf Krisen des Gesundheitswesens und auf Umweltkrisen zu reagieren, geschwächt werden. Die Organisationen, die von diesen Konzernen mitfinanziert wurden – Thinktanks und Beraterstäbe, Lobbyisten oder auch die „Political Action Committees“, die in den USA Gelder für den Wahlkampf sammeln –, wurden anschließend für andere Interessen eingespannt: von der privaten Gesundheitswirtschaft, die auf die Zerschlagung des staatlichen britischen National Health Service hoffte, von Pestizidproduzenten, die sich gegen gesetzliche Auflagen wehrten, von Junkfood-Produzenten im Kampf gegen Werbebeschränkungen und von Milliardären, die sich der Steuerpflicht entziehen wollten. In diesem Aktionsfeld wurde an einer immer raffinierteren Rechtfertigungsideologie gefeilt, die die Begründungen für die Zerlegung und Privatisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge, die Schrumpfung des Staates und die Lähmung seiner Lenkungsfähigkeit lieferte.
In den USA, Großbritannien und Australien ist diese Infrastruktur mittlerweile mit der Regierung identisch. Viele Akteure in Downing Street Nr. 10 etwa stammen aus Organisationen, die mit großem Einsatz gegen Regulierung und staatliche Eingriffe kämpfen – zum Beispiel Munira Mirza, der Mitbegründer des Manifesto Club, Chloe Westley vom britischen Steuerzahlerbund „Tax Payers’ Alliance“ und natürlich Dominic Cummings, den Tax-Payers’-Alliance-Gründer Matthew Elliott einst als Chefstrategen der Vote-Leave-Kampagne rekrutierte.
Als Boris Johnson seine erste Regierungsmannschaft zusammenstellte, verkündete das von der Tabakindustrie finanzierte Institute of Economic Affairs (IEA) stolz, dass 14 Regierungsmitglieder – darunter die Innenministerin, der Außenminister und der Schatzkanzler – „bereits an IEA-Initiativen mitgewirkt haben“. Außenminister Dominic Raab hat ein Buch mit Unterstützung des IEA veröffentlicht und ein anderes dort vorgestellt und dankte dem Institut dafür, dass es ihm beim „Krieg der Ideen“ zur Seite gestanden habe. Gesundheitsminister Matt Hancock versuchte in einer früheren Funktion, ein IEA-Papier in Regierungspolitik umzumünzen, und wurde von IEA-Präsident Neil Record mit großzügigen Spenden bedacht. Innenministerin Priti Patel betätigte sich früher als Lobbyistin für die Tabakindustrie. Ein Fünftel aller konservativen Parlamentsabgeordnete betrieb zuvor Lobby- oder Öffentlichkeitsarbeit für Konzerninteressen.
Wenn das Unheil heraufzieht, stapfen die Regierenden mit betretener Miene durch die Katastrophengebiete und trauen ihren Augen nicht.
Wer moderne Politik verstehen will, kommt am Pollution Paradox nicht vorbei. Dieses „Verschmutzungsparadox“ besagt: Je mehr Gefahren ein Unternehmen für die öffentliche Gesundheit und für das Wohl der Allgemeinheit produziert, umso mehr Geld muss dieses Unternehmen für Politik ausgeben, wenn es nicht wegreguliert werden will. Auf diese Weise werden die schmutzigsten Unternehmen immer mehr zu den wichtigsten Geldgebern der Politik, sichern sich den größten Einfluss und verdrängen ihre sauberer wirtschaftenden Konkurrenten. Zwar hat niemand ein kommerzielles Interesse an der Ausbreitung des Coronavirus, aber die seit Jahrzehnten etablierte Interessenpolitik hat die Regierungen in ihrem Wesen und in ihrer Grundhaltung so geprägt, dass sie kaum mehr in der Lage sind, schnell und angemessen zu reagieren.
Der Brexit ist nicht zuletzt der Versuch, die tiefe innere Spaltung des konservativen Lagers zu überwinden, die durch die wachsende Macht des schmutzigen Geldes entstanden ist. Die Partei zerfällt zusehends in eine ältere, konservative Basis mit einer heftigen Aversion gegen Neuerungen und Wandel und eine risikofreudige radikale Rechte, die genau das Gegenteil vertritt. Mit dem Austritt aus der Europäischen Union bietet sich die Chance, diese konträren Interessen unter einen Hut zu bringen – also zum einen, Lebensmittelstandards, Umweltschutzvorgaben und die Preisbindung von Arzneimitteln zu schleifen, und sich zum anderen gegen die Einwanderung abzuschotten und die Anbindung an andere Länder zurückzufahren. Der Brexit lässt uralte Mythen von imperialer Macht, Schicksal und britischer Einzigartigkeit aufleben und wird womöglich dafür sorgen, dass den Briten im internationalen Handel extremer Gegenwind ins Gesicht bläst. Dies dürfte die Reaktionsfähigkeit des Staates in den vielen Krisen, die wir zu bewältigen haben, noch weiter schwächen.
Die Theorien, die den Unterbau für diese Art des Regierens bilden, mögen ja noch plausibel und logisch stimmig erscheinen. Doch wenn es ernst wird und die Realität zuschlägt, müssen wir feststellen: Mit Regierungen, die die öffentliche Sicherheit ignorieren und reflexartig jede Gefahr leugnen, sind wir denkbar schlecht gerüstet, wenn es darum geht, auf Krisen zu reagieren. Wenn das Unheil heraufzieht, stapfen die Regierenden mit betretener Miene durch die Katastrophengebiete und trauen ihren Augen nicht, wie man an Scott Morrisons Reaktion auf die Brände in Australien und Boris Johnsons viel zu später Beschäftigung mit den Überschwemmungen in Großbritannien sehen konnte. Dasselbe beobachten wir jetzt erneut, wenn Trump, Johnson und Morrison angesichts der Pandemie ins Schwimmen geraten. Sie sind aufgerufen, den Staat zu führen, aber die einzige Maxime, die sie kennen, lautet: Der Staat ist der Feind.
Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld