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Singapur

„Goldstandard“, so beschrieb eine Studie der Harvard-Universität bereits in der Frühphase der Coronakrise den beispielhaften Ansatz Singapurs. Auch WHO-Generalsekretär Tedros Adhanom Ghebreyesus zeigte sich beeindruckt vom Krisenmanagement des kleinen Stadtstaates. Die Zutaten des Singapurer Erfolgsrezeptes: rigoroses Testen, konsequentes Isolieren, detailliertes Clustern und Rekonstruieren von Kontakt- und Infektionsketten, moderne, schnelle und transparente Kommunikation und hartes Durchgreifen bei Regelverstößen.

Zwei Monate nach dem ersten bestätigten Coronafall in Singapur steht die Zahl zum heutigen Tag bei 509. Bislang gibt es zwei Tote zu beklagen. Mehr als 21 000 Personen befinden sich in Selbstisolation daheim und müssen regelmäßig per Foto oder der GPS-Funktion ihrer Telefone nachweisen, dass sie die Wohnung nicht verlassen. 152 Personen konnten das Krankenhaus bereits wieder verlassen.

Es gehört längst zum Alltag, die jüngsten Fallzahlen und Updates zu studieren, die über den Regierungsinformationsdienst Gov.sg per WhatsApp mehrmals täglich verschickt werden. Korrespondierende Diagramme zeigen die Infektionscluster, die es in Singapur aktuell gibt, wie sie miteinander verbunden sind und welche Fälle importiert wurden. Ein gigantisches Spinnennetz aus Datenpunkten, verständlich aufbereitet, an welchem sich der zeitliche Verlauf der Ausbreitung von Covid-19 vom ersten Fall bis heute nachvollziehen lässt.  

Singapur erlebt aktuell die dritte und bisher schwerste Welle an Covid-19-Erkrankungen mit nun deutlich schneller wachsenden Fallzahlen. Im Mittelpunkt der ersten Fälle Ende Januar standen zunächst Personen aus Wuhan oder solche mit Reisen in die Provinz Hubei. Im Februar folgten lokale Infektionen und vermehrt Cluster ohne unmittelbaren China-Bezug. Den März dominieren jetzt importierte Fälle. Zahlreiche Rückkehrer aus Europa, Nordamerika und den ASEAN-Staaten werden positiv getestet. Vor allem in Singapurs Nachbarländern Malaysia und Indonesien, aber auch in Thailand und den Philippinen steigen die Zahlen derart sprunghaft an, dass sich die WHO dazu veranlasst sah, die Staaten Südostasiens zu „entschlossenem Handeln“ aufzurufen. 

Die teilweise drastischen Strafen für Regelverletzungen würden in Deutschland wohl nur schwer auf breite Zustimmung stoßen.

Die Reaktion der Singapurer Behörden? Schnell und bestimmt. Ein- und Durchreisen von Besuchern werden grundsätzlich verboten. Jeder Singapurer, der zurückkommt ins Land, muss sich in eine zweiwöchige Selbstisolation begeben. Ausländer mit Arbeitserlaubnissen dürfen nur noch zurückkehren, wenn sie in essentiellen Bereichen des Dienstleistungssektors wie Medizin und Logistik arbeiten. Singapurer sollen das Land nach Möglichkeit nicht verlassen. Gleichwohl bleiben Schulen, Einkaufsmeilen und Restaurants weiter geöffnet, wenn auch unter deutlich verschärften Richtlinien. Das öffentliche Leben kommt bisher nicht zum Erliegen. Eine Ausgangssperre gibt es noch nicht. 

Auch in dieser zugespitzten Lage zeigen sich die Kernbestandteile des Singapurer Modells.  

  1. Technisches Know-How: Eine neue App der Regierung namens „TraceTogether“ soll die Identifizierung enger Kontakte von infizierten Personen erleichtern. Mittels Bluetooth und zufallsgenerierter IDs werden Handys anderer Nutzer im Umkreis von zwei Metern gespeichert. So können Kontaktketten im Ernstfall schnell rekonstruiert werden. 

  2. Harte Strafen: Ausländer, welche die Heimquarantäneauflage verletzen oder ohne vorherige Genehmigung nach Singapur zurückkehren, können ihre Arbeitsgenehmigung verlieren. Ebenso strafbar sind bewusst falsche Angaben über Gesundheit, Reisen und Personenkontakte.

  3. Gesamtgesellschaftliche Akzeptanz und die Unterstützung der Bevölkerung für die ergriffenen Maßnahmen. Ein umfassender „Whole-of-Society-Approach“ unter der Kampagne #SGunited, dem dazugehören Song „The Light“ und einer gemeinsamen Kraftanstrengung von Regierung, Arbeitgebern, Gewerkschaften und Personen des öffentlichen Lebens.  

Eine historisch gewachsene Verwaltungs- und Organisationskultur, innovative Unternehmen und Exzellenz in der Forschung zählen zu den vielen Gemeinsamkeiten Deutschlands und Singapurs. Gleichwohl sind die Rahmenbedingungen andere, ob in der Güterabwägung zwischen individuellen Freiheiten und staatlichen Durchgriffsrechten oder auch in der Kultur des kollektiven Miteinanders. Die teilweise drastischen Strafen für Regelverletzungen würden in Deutschland wohl nur schwer auf breite Zustimmung stoßen. 

Eine jüngst veröffentliche Studie des Imperial College in London fasst den Hauptunterschied in den Ansätzen wie folgt zusammen: Während Europa sich auf Minderung (Mitigation) konzentriert, ist der Ansatz in Asien Unterdrückung (Suppression) – definiert als das konsequente Testen von so vielen Fällen wie möglich, auch Personen ohne Symptome und jenseits der Risikogruppen. Die wichtigste Formel der Rezepte in jenen asiatischen Ländern, die im Umgang mit Covid-19 erfolgreich sind, heißt: Testen, testen, testen! 

Singapur hat aus der SARS-Krise 2003 und dem Ausbruch von H1N1 2009 viel gelernt. Trotz nachweislicher Erfolge und breitem internationalen Lob bleibt aber auch für Singapur der Ausgang der Coronakrise ungewiss. Und so bereitete Singapurs Premierminister Lee Hsien Loong seine Bevölkerung in einer TV-Ansprache auch jüngst auf einen langen Kampf von einem Jahr oder länger vor.

Mirco Günther, FES Asien mit Sitz in Singapur

Bulgarien

Europäische Trends kommen in Bulgarien häufig mit etwas Verzögerung an. Während sich Ende Februar im übrigen Europa die beklommene Erkenntnis durchsetzte, dass das Coronavirus auch hier epidemische Ausmaße annehmen könnte, schien Bulgarien eine Weile lang die Insel der Seligen zu sein. Fälle: Null. Wie sehr die Bulgaren dieser Zahl allerdings trauten, zeigte sich in den Apotheken: Masken, Desinfektionsmittel und Wegwerfhandschuhe waren ausverkauft, ehe es in Bulgarien einen einzigen bestätigten Fall gab.

Erst am 8. März meldete auch Bulgarien offiziell die ersten vier Corona-Erkrankten – in den abgelegenen Städtchen Gabrovo und Pleven. Die Infektionskette kann nicht nachvollzogen werden, die Fälle kommen scheinbar aus dem Nichts. Schon zuvor waren landesweit die Schulen geschlossen worden; angeblich wegen gehäufter Grippeerkrankungen. Mitte März – mittlerweile sind 23 Fälle bestätigt – wird der nationale Notstand beschlossen, werden Schulen und Kitas geschlossen, nach und nach kommen Geschäfte, öffentliche Gebäude und Anlagen hinzu.

Es passt einiges nicht zusammen in der Corona-Geschichte Bulgariens. Aber die Erklärung ist leicht: keine Tests, keine Fälle. 2 000 Tests hatte die bulgarische Regierung ursprünglich angeschafft – für eine international sehr mobile Sieben-Millionen-Bevölkerung. Inzwischen sind private Geldgeber eingesprungen und insgesamt 5 000 Personen in Bulgarien auf Corona getestet worden – immer noch viel zu wenig, um ein auch nur annähernd realistisches Bild der Lage zu bekommen. Spätestens mit der Rückkehr der bulgarischen Saisonarbeiter aus den geschlossenen norditalienischen Urlaubsorten dürfte die Dunkelziffer enorm sein.

Die Bulgaren reagieren teils zynisch, teils mit landestypischem Fatalismus: eine weitere Krise, die sich in die lange Kette bulgarischer Katastrophen einreiht.

Die Bulgaren reagieren teils zynisch – Bulgarien habe mit seinen ersten Fällen eben darauf gewartet bis es einen europäischen Hilfsfonds gebe – teils mit landestypischem Fatalismus: eine weitere Krise, die sich in die lange Kette bulgarischer Katastrophen einreiht. Zuversicht ist derzeit wenig vorhanden – kaum jemand traut der Regierung oder dem Gesundheitssystem das Management der Krise tatsächlich zu. Das Vertrauen in die bulgarischen Institutionen ist gering: Entsprechend blühen auch Fake News und Verschwörungstheorien, aber vor allem die bulgarische Überzeugung, dass man sich nur auf sich selbst verlassen kann.

Während allenthalben vor Panik gewarnt wird, wirkt niemand panisch. Die Menschen sorgen vor. In der Erinnerung vieler hier sind Engpässe bei der Lebensmittelversorgung bis in die 90er Jahre hinein präsent. Die Versicherung der Regierung, Vorratskäufe seien nicht nötig, in Frage zu stellen, ist eher nüchterner Kalkulation geschuldet als kopfloser Furcht. Und die meisten Menschen setzen darauf, die Krise krank oder gesund zuhause aussitzen zu können.

Schon im Normalzustand ist das Gesundheitssystem defizitär bei Ausstattung und Personal. „Wenn man kein Geld hat, muss man sterben“, sagen sie hier. Was früher die Korruption war, ist heute die Privatisierung – die staatliche Krankenversicherung deckt kaum das Allernötigste ab. Der Rest: Privatleistungen, die man sich leisten können muss.

Und je länger der Shutdown andauert, desto weniger können sich noch etwas leisten. Im ärmsten Land der EU bedeuten zwei Wochen Schließung den Bankrott für viele Kleinbetriebe, den unbezahlten Urlaub für zahllose Angestellte. Bei einem Durchschnittseinkommen von 671 Euro im Monat hat auch die Mittelschicht keine Rücklagen für einen solchen Fall. 

Präsident Rumen Radev warnte zuletzt, die Krise könne Hunderttausende Bulgaren an den Rand des Überlebens bringen: „Der Hunger wird größer werden als die Angst, und die Folgen werden verheerend sein.“

Helene Kortländer, FES Bulgarien

Kolumbien

Kolumbien liegt, was die Ausbreitung des Virus angeht, im lateinamerikanischen Mittelfeld. Die Krise trifft hier auf strukturelle Grundprobleme, die auch in anderen Ländern des globalen Südens auftreten. Dazu gehören vor allem ein weitgehend privatisiertes und überlastetes Gesundheitssystem, sozialstaatliche Unterversorgung in vielen Regionen des Landes und die Vulnerabilität großer Bevölkerungsteile, die von Armut betroffen sind, knapp über der Armutsgrenze leben, im informellen Sektor arbeiten oder schlecht bezahlte Care-Arbeit leisten. Die Gefängnisse sind, wie auch im Rest Lateinamerikas, wegen der Sicherheitspolitik der harten Hand bis zu 200 Prozent überbelegt und weisen mangelnde sanitäre und humanitäre Standards auf. Das führte bereits zu Rebellionen, die am Wochenende mit 23 Toten endeten. 

Präsident Ivan Duque hätte auch ohne Corona-Krise alle Hände voll zu tun. Drei Jahre nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens mit den FARC sind viele Regionen des Landes von gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen bewaffneten Gruppen betroffen, und es gibt eine anhaltende Mordserie an Aktivistinnen und Aktivisten sowie Ex-FARC-Kämpfern. 100 Gemeinden und ethnische Organisationen baten nun wegen des Coronavirus bewaffnete Kämpfer und die Regierung um Waffenruhe.

Ende letzten Jahres war das politische Leben nicht nur in der Hauptstadt von einer Protestwelle geprägt. Hundertausende, quer durch alle Schichten und politischen Richtungen, gingen wochenlang auf die Straße. Sie forderten politische und soziale Reformen, geeint durch die Kritik am harten, in vielen Politikfeldern rückwärtsgewandten Kurs der Regierung. Gäbe es das Virus nicht, müsste Duque sich derzeit mit den skandalösen Vorwürfen beschäftigen, bei seiner Wahl Stimmen gekauft zu haben.  

Zwar hat Duque – als Technokrat mit 13 Jahren Erfahrung bei der Interamerikanischen Entwicklungsbank – die Krise im Blick. Sein Pech ist, dass die 2019 gewählten regionalen Regierungschefinnen und -chefs ihm immer einen Schritt voraus sind. Allen voran die Bürgermeisterin von Bogotá Claudia López. Mit einer Mischung aus kümmernder Vorsorge und knallharter Pädagogik probte sie bereits am vergangenen Wochenende die Ausgangssperre, die der Präsident erst Samstagnacht für das gesamte Land verhängte. Während der politischen Turbulenzen kam es jedoch auch zum erstaunlichen Schulterschluss zwischen Erzfeinden wie dem linken Präsidentschaftskandidaten Gustavo Petro und dem rechten Ex-Präsidenten Álvaro Uribe, die beide in gleichem Maße für schnell wirksame Maßnahmen der Regierung warben.

Besonders problematisch ist die Schließung der Grenze zu Venezuela, das bereits vor dem Ausbruch des Virus unter einer eklatanten wirtschaftlichen und sozialen Notlage litt.

Rüsten die Ausgangssperre und die landesweiten Erfahrungen mit Dengue-, Zika- und Chikungunyafieber-Epedemien zum Kampf gegen die Pandemie? Die anfängliche Ansteckungskurve verläuft steiler als in Italien. Und es gibt noch mehr Grund zur Sorge. Bei der Corona-Pandemie handelt es sich nicht um ein nationales öffentliches Gesundheitsproblem. Es geht jetzt darum, eine vielschichtige humanitäre Krise in einer Situation abzuwenden, in der die Wirtschaft in schlechter Verfassung ist. Die Arbeitslosigkeit hatte 2020 mit 13 Prozent einen historischen Höchststand der letzten zehn Jahre erreicht und der kolumbianische Peso ist aufgrund der gesunkenen Rohstoffpreise stark eingebrochen. Die Armutsbevölkerung und die im informellen Sektor Tätigen dürften nicht zur Telearbeit fähig sein, und selbst wenn, haben sie keine Krankenversicherung, falls sie erkranken. Dies betrifft Frauen in besonderem Maße. Sie haben keinerlei Rücklagen und müssen häufig teure Mikrokredite abzahlen.

Selbst die 9,8 Millionen formell Beschäftigten sind zurzeit gefährdet. Seitdem die Regierung Maßnahmen gegen die Verbreitung des Virus ergreift, reagieren kolumbianische Unternehmer unterschiedlich, Massenentlassungen sind keine Seltenheit. Universitäten und Gewerkschaften rufen nach tripartiten Schlichtungskommitees zwischen Staat, Unternehmensverbänden und Gewerkschaften, bisher aber ohne Erfolg.

Die Grenzen zu den Nachbarländern sind dicht, nationale und internationale Flüge gestrichen. Besonders problematisch ist die Schließung der Grenze zu Venezuela, das bereits vor dem Ausbruch des Virus unter einer eklatanten wirtschaftlichen und sozialen Notlage litt. Bis zur Schließung der Grenze passierten sie täglich 60 000 Menschen, versorgten sich mit Lebensmitteln und Medikamenten. Viele der Migrierenden leben auf der Straße. Sie sind besonders in den Grenzregionen abhängig von temporären Hilfseinrichtungen, die ihnen Nahrung, Unterkunft und Medizin vermitteln. Viele dieser nationalen und internationalen Einrichtungen wurden allerdings schon geschlossen. Hilfsorganisationen berichten, dass Venezolaner bereits jetzt hungern.

Kristina Birke-Daniels, FES Kolumbien