Verschieben sich tektonische Platten, bebt die Erde. Tsunamis rasen als Schockwellen rund um den Globus. Die Weltwirtschaft hat in den letzten Jahren gleich drei solcher Beben erlebt. Die Covid-19-Pandemie hat uns die Verwundbarkeit einer global integrierten Wirtschaft vor Augen geführt. Stecken in China wichtige Bauteile in der Quarantäne fest, stehen in Deutschland die Bänder still. Bei der Organisation der globalen Lieferketten, jahrzehntelang auf Effizienz („Just in Time“) getrimmt, spielt daher künftig die Resilienz („Just in Case“) eine wichtigere Rolle.
Nach dem Ende des unipolaren Moments wetteifern größere und kleinere Mächte um die besten Positionen in der neuen Weltordnung. Im Hegemoniekonflikt zwischen China und den Vereinigten Staaten hat die US-Regierung unter Joe Biden zwar verbal abgerüstet, ihre Exportkontrollen im High-Tech-Bereich haben dafür umso mehr Biss. Damit politisieren sich die Rahmenbedingungen von Investitionsentscheidungen. Marktzugänge, Infrastrukturprojekte, Handelsverträge, Energielieferungen und Technologietransfers werden stärker durch die geopolitische Brille bewertet. Unternehmen werden immer öfter vor die Entscheidung gestellt, sich für die eineIT-Infrastruktur, den einen Markt, das eine Währungssystem oder für die Gegenseite zu entscheiden. Die großen Volkswirtschaften werden sich vielleicht nicht in der Breite voneinander entkoppeln, doch die Diversifizierung („Not all eggs in one basket“) vor allem im Hochtechnologiebereich nimmt an Fahrt auf. Es ist nicht auszuschließen, dass am Ende dieser Entwicklung die Formierung von Wirtschaftsblöcken steht.
Die Erfahrungen mit dem „Unsicherheitsfaktor Mensch“ in der Pandemie beschleunigen zudem die digitale Automatisierung. Roboter und Algorithmen erleichtern es auch, sich vor geopolitischen Risiken zu schützen. Um diese Verwundbarkeiten in den Griff zu bekommen, organisieren die alten Industrieländer ihre Lieferketten neu. Offen ist, ob das allein aus wirtschaftlichen oder logistischen Überlegungen heraus geschieht (re-shoring oder near-shoring), oder ob dabei auch geopolitische Motive eine Rolle spielen (friend-shoring).
Für ganz Asien als das neue Zentrum der Weltwirtschaft kommen diese geoökonomischen Disruptionen einem Tsunami gleich.
Auf diese Herausforderungen muss China reagieren. Das Schicksal der Volksrepublik wird davon abhängen, ob es gelingt, auch ohne ausländische Technologie und Knowhow an die technologische Weltspitze zu stürmen. Wer allerdings glaubt, Peking hätte keine Gegenmaßnahmen im Köcher, dürfte schon bald eines Besseren belehrt werden. Um die Schließung der entwickelten Exportmärkte zu kompensieren, werden über die Seidenstraßeninitiative bereits seit Jahren neue Absatzmärkte und Rohstoff-Lieferanten erschlossen. Auf dem letzten Parteikongress hat die Kommunistische Partei Chinas nun offiziell eine Kehrtwende ihrer Entwicklungsstrategie abgesegnet. Motor der „dualen Kreislaufwirtschaft“ soll fortan der gigantische Heimatmarkt sein. Exporterlöse sind weiter erwünscht, rutschen strategisch aber auf die unterstützende Ebene ab. Der massive Aufbau von Goldreserven dient unter anderem dem Ziel, mit einer eigenen (digitalen) Währung dem US-Dollar den Rang der Weltreservewährung abzulaufen. Weil es mehr als alle anderen von offenen Weltmärkten profitiert, setzt China zunächst weiter auf eine global vernetzte Weltwirtschaft. Alternativ könnte Peking aber auch versucht sein, einen eigenen Wirtschaftsblock zu schaffen. Mit der Regionalen Umfassenden Wirtschaftspartnerschaft (RCEP), der BRICS-Entwicklungsbank (NDB), der Asiatischen Infrastruktur-Investitionsbank (AIIB), der Seidenstraßeninitiative (BRI) und den bilateralen Kooperationen in Afrika, Lateinamerika und dem Mittleren Osten sind die Fundamente dafür bereits gelegt. Die Schwierigkeiten westlicher Unternehmen auf dem chinesischen Markt dürften einen Vorgeschmack auf das liefern, was droht, wenn China den Markteintritt in einen solchen Block an politisches Wohlverhalten knüpft.
Doch es ist nicht nur China, generell für ganz Asien als das neue Zentrum der Weltwirtschaft kommen diese geoökonomischen Disruptionen einem Tsunami gleich. Besonders gravierend könnten die geoökonomischen Disruptionen die Entwicklungsländer treffen. Ob sie nun aus Resilienz- oder aus geopolitischen Gründen aus den globalen Lieferketten herausgeschnitten werden – das Ergebnis ist gleichermaßen verheerend. Natürlich machen sich einige Volkswirtschaften Hoffnungen, von den Diversifizierungsstrategien der Industrieländer („China plus eins“) zu profitieren. Aber die digitale Automatisierung neutralisiert ihren meist einzigen komparativen Vorteil, die billigen Lohnkosten. Warum sollte sich ein europäischer Mittelständler mit Korruption und Stromausfällen, Qualitätsproblemen und wochenlangen Seerouten herumschlagen, wenn die Roboter zuhause besser und billiger produzieren? Algorithmen und Künstliche Intelligenz dürften zudem Millionen von Dienstleistern in den outgesourcten Backoffices und Callcentern ersetzen. Wie sollen Entwicklungsländer ihre (mitunter explosiv) wachsenden Bevölkerungen ernähren, wenn einfache Tätigkeiten zukünftig von Maschinen in den Industrieländern verrichtet werden? Und was bedeuten diese geoökonomischen Verwerfungen für die soziale und politische Stabilität dieser Länder?
Nicht anders als Europa sind auch die meisten Staaten Asiens für ihre wirtschaftliche Entwicklung auf die Dynamik Chinas, und für ihre Sicherheit auf die Garantien der USA angewiesen. Zu unterschiedlichen Graden widersetzen sie sich daher dem Druck, sich für eine Seite entscheiden zu müssen. Ob es allerdings langfristig gelingt, sich dem Sog der geoökonomischen Bipolarisierung zu entwinden, ist offen. Setzt sich die Gabelung der IT-Infrastrukturen fort, könnte es zu kostenintensiv sein, in beiden Technologiewelten mitzuspielen. Amerikanische Regulierungen verwehren den Markteintritt für Produkte mit bestimmten chinesischen Komponenten; wer aber auf dem chinesischen Markt mitspielen will, wird um einen stetig steigenden Anteil chinesischer Bauteile nicht herumkommen. Aber auch Staaten, die sich für eine kritische Infrastruktur wie Kommunikationsnetze oder Energieversorgung entscheiden, können nicht von heute auf morgen den Anbieter wechseln.
Weder Staaten noch Unternehmen werden sich dem Druck aus Washington und Peking entziehen können.
Für die Exportnation Deutschland wäre eine solche Weltwirtschaft eine existentielle Herausforderung. Bereits die kurzfristige Abnabelung von russischer Energie ist eine Herkulesaufgabe. Sich zugleich von China zu entkoppeln, erscheint schwer vorstellbar. Aber auch den Kopf in den Sand zu stecken, wird nicht genügen. Weder Staaten noch Unternehmen werden sich dem Druck aus Washington und Peking entziehen können. Zukünftig werden wichtige wirtschaftliche, technologische und infrastrukturelle Weichenstellungen immer stärker geopolitischen Überlegungen unterliegen. Es ist daher richtig, einseitige Verwundbarkeiten durch Diversifizierung abzubauen. Andererseits erscheint manche Lehre, die gerade aus der übergroßen Abhängigkeit von russischer Energie vor dem Krieg gezogen wird, zu kurz gedacht. Die deutsche Volkswirtschaft – die sich jahrzehntelang mit dem friedenspolitischen Ziel, Gewaltkonflikte durch Interdependenz zu vermeiden, tiefer als viele andere in die Weltwirtschaft integriert hat – kann man nicht von heute auf morgen aus diesen Verflechtungen herausbrechen. Wirtschaftliche Verwundbarkeiten durch Diversifizierung abzubauen ist daher richtig, eine Entkopplung aus ideologischen Gründen dagegen falsch. Deutschland sollte sich also davor hüten, seine wirtschaftliche Zukunft einer überambitionierten Werte-Außenpolitik zu opfern. Denn Wohlstandsverluste übersetzen sich in Zukunfts- und Abstiegsängste zuhause – ein fruchtbarer Nährboden für Rechtspopulisten und Verschwörungstheoretiker.
Der geopolitische Wettlauf, die digitale Automatisierung und die Neuordnung der Lieferketten nach Resilienzkriterien verstärken sich gegenseitig. Nicht nur Unternehmen müssen ihre Geschäftsmodelle überdenken, ganze Volkswirtschaften müssen ihre Entwicklungsmodelle anpassen, um in einer sich rasant verändernden Weltwirtschaft bestehen zu können. Die besondere Schwierigkeit besteht darin, bereits heute Investitionsentscheidungen treffen zu müssen, ohne absehen zu können, wie die Welt von Morgen genau aussehen wird. Beim Blick in die Glaskugel meinen einige, ein Zeitalter der De-Globalisierung erkennen zu können. Und tatsächlich wurde der Höhepunkt der Globalisierung, gemessen am Volumen des Welthandels und der Kapitalexporte, bereits seit der Finanzkrise 2008 überschritten. De-Globalisierung ist aber nicht gleichbedeutend mit dem Rückfall in autarke Nationalökonomien. Wahrscheinlicher ist eine stärkere Regionalisierung der weiter vernetzten Weltwirtschaft. Mit Blick auf die politischen, sozialen und kulturellen Verwerfungen der Turbo-Globalisierung muss das nicht das Schlechteste sein.
Auch die Organisation einer regionalisierten Weltwirtschaft braucht globale Spielregeln, an die sich alle halten.
Denn eines es sicher: Ein geoökonomischer Tsunami rollt um den Globus und zermalmt auf seinem Weg alte Strukturen. Mit Joseph Schumpeter gesprochen besteht die Hoffnung, dass aus der kreativen Zerstörung eine widerstandsfähigere, nachhaltigere, und diversifiziertere Weltwirtschaft entsteht. Ohne politische Gestaltung der neuen Weltwirtschaftsordnung könnte jedoch auch das Gegenteil entstehen. Politisch bedeutet das, die regelbasierte Weltordnung so anzupassen, dass sie als stabiler Rahmen für eine offene Weltwirtschaft erhalten bleibt. Denn auch die Organisation einer regionalisierten Weltwirtschaft braucht globale Spielregeln, an die sich alle halten. Daher haben bis auf wenige Ausnahmen fast alle Staaten ein großes Interesse am Funktionieren des regelbasierten Multilateralismus. Allerdings gibt es im Globalen Süden auch viel Misstrauen gegenüber der bestehenden Weltordnung. In Wirklichkeit, so hört man oft, sei diese doch die Schöpfung der alten und neuen Kolonialmächte, deren angeblich universelle Normen eben nicht für alle gelten, sondern von den permanenten Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates nach Belieben verletzt würden. Um gegenwärtige Blockaden, etwa der Welthandelsorganisation (WTO), aufzubrechen, muss den aufstrebenden Mächten eine ihrem neuen Gewicht angemessene Repräsentation und Mitsprache in den multilateralen Institutionen eingeräumt werden. Europa wird einen relativen Einflussverlust in Kauf nehmen müssen, denn als regelbasierte supranationale Entität hängen sein Überleben und seine Prosperität von einer offenen, regelbasierten Welt-(wirtschafts-)ordnung ab.
Statt sich moralisch über andere zu erheben, muss Europa alle seine Kräfte darauf konzentrieren, die Erfolgsbedingungen seines Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells zu erhalten. Um zu verhindern, dass aus der Regionalisierung der Weltwirtschaft die Bildung konkurrierender Blöcke mit hohen Wohlstandsverlusten für alle wird, braucht es neue Partnerschaften auf Augenhöhe jenseits derzeit populärer Gegenüberstellungen von Demokratien und Autokratien. Damit neues Vertrauen entsteht, müssen die globalen Herausforderungen (Klimawandel, Pandemien, Hunger, Migration), die den Globalen Süden besonders betreffen, endlich entschlossen angepackt werden.