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Rechte von Arbeitern und Arbeiterinnen, Standards zum Schutz der Umwelt – in der Handelspolitik der Europäischen Kommission gilt offenbar nach wie vor eine „nice-to-have“-Mentalität, wenn es um diese Themen geht. Sie spielen noch immer eine untergeordnete Rolle. Mit Blick auf die Handelsabkommen der letzten Dekade ist schlicht keine andere Lesart möglich. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass seit dem Vertrag von Lissabon von einer neuen Generation von Abkommen die Rede ist. Sichtbar wird das vor allem an der mangelhaften Verbindlichkeit der entsprechenden Klauseln in Handelsabkommen.
Der Fall des Abkommens zwischen der Europäischen Union und Südkorea zeigt unmissverständlich, wie ineffizient und zögerlich die Europäische Kommission arbeitnehmerrechtliche Verstöße in Partnerländern adressiert. Hintergrund ist ihr selbstgewählter Ansatz der sanktionslosen Streitbeilegung, eine Methode, die die progressiven Kräfte im europäischen Parlament seit Jahren kritisieren.
Südkorea ist einer der weltweit wichtigsten Produzenten von Elektronikprodukten. Angesichts des europäischen Technologiehungers ist es daher icht weiter überraschend, dass die Kommission bereits im Jahr 2011 ein Freihandelsabkommen mit der Republik abschloss. Der damalige Handelskommissar Karel de Gucht lobte das Abkommen als ambitioniertestes, das die EU je abgeschlossen habe, und bezog sich dabei unter anderem auf die Klauseln zu Arbeitnehmerrechten und Umweltstandards. Damit nahm er das Narrativ der Kommission auf, das die Gleichwertigkeit der ökonomische Handelsaspekte und sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit behauptet.
Die koreanische Regierung trat die zugesicherten Kernarbeitsnormen, deren Ratifizierung bis heute aussteht, mit Füßen.
Die koreanische Regierung sichert in den jeweiligen Klauseln des Abkommens zu, die bis dato nicht ratifizierten Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) zu respektieren, zu fördern und umzusetzen. Zu den Kernnormen gehört bekanntermaßen auch die Vereinigungsfreiheit. Für den Fall, dass eine Partei gegen die gegenseitigen Zusicherungen im Bereich der Arbeitnehmerrechte und Umweltstandards verstößt, war ein Streitbeilegungsmechanismus vereinbart worden. Dieser sieht Regierungskonsultationen und Expertendiskussionen vor und endet mit der Veröffentlichung eines Expertenberichts. In der Realität zeigte sich jedoch am Beispiel Südkoreas, wie wirkungslos dieser Mechanismus ist.
Anfang 2016 wurde bekannt, dass infolge eines öffentlichen Protestes gegen die Aufweichung von Arbeitnehmerrechten im Rahmen einer Reform der Regierung von Park Gyun-hye der Gewerkschaftsführer Han Sang-gyun verhaftet worden war. Die Generalsekretärin der Gewerkschaft Lee Young-joo entkam einer Festsetzung nur vorübergehend, indem sie in den Geschäftsräumen der Gewerkschaft KCTU Schutz suchte, bevor sie schließlich im Dezember 2017 ihren selbstauferlegten Hausarrest verließ und ebenfalls verhaftet wurde.
Die Verfolgung der beiden wurde damit begründet, dass sie einen angeblich gewaltsamen Protest organisiert hätten. Tatsächlich aber hatten die circa 100 000 Demonstranten wohl vor allem den Verkehr behindert und sich Anweisungen der Polizei widersetzt. Die koreanische Regierung trat hier also die zugesicherten Kernarbeitsnormen, deren Ratifizierung bis heute aussteht, mit Füßen.
Dennoch kam die Europäische Kommission nicht auf die Idee, den eigenen Vertragspartner auf den Verstoß gegen das Abkommen aufmerksam zu machen. Stattdessen forderten die Abgeordneten des Europäischen Parlaments die Kommission auf dem formellen Weg eines Implementierungsberichts im Mai 2017 auf, ihrer Aufgabe nachzukommen und den im Abkommen festgelegten Streitbeilegungsmechanismus zu nutzen. Die Kommission ließ sich bis Ende des Jahres 2018 Zeit, bevor sie ankündigte, an diesem Fall exemplarisch zu zeigen, dass der Streitbeilegungsmechanismus — aller parlamentarischen Kritik zum Trotz — enorme Durchschlagskraft habe.
Die sehr ambitionierte Ankündigung der Kommission, am koreanischen Beispiel die Durchschlagskraft des Streitbeilegungsmechanismus zu zeigen, ist spätestens jetzt als heiße Luft erkennbar.
Die im ersten Schritt durchgeführten Regierungskonsultationen mit der in der Zwischenzeit neugewählten Regierung unter Präsident Moon Jae-in — wohlgemerkt, einem ehemaligen Menschenrechtsanwalt, — blieben ergebnislos und dauerten deutlich länger als die im Abkommen festgelegten drei Monate.
Im Juli 2019 gab die Kommission im Handelsausschuss des Europäischen Parlaments bekannt, die zweite Eskalationsstufe des Streitbeilegungsverfahrens bemühen zu wollen. Diese sieht die Einrichtung eines beidseitigen Expertengremiums vor. Laut dem Text des Abkommens hätten die Vertragsparteien hierfür zwei Monate Zeit gehabt, also bis spätestens September 2019. Tatsächlich wurde das Gremium am 30. Dezember 2019 eingerichtet.
Kommissionsvertreter argumentierten mit Schwierigkeiten bei der Benennung von Experten auf der koreanischen Seite. Das Gremium wird nun über die arbeitnehmerrechtliche Situation in Südkorea beraten und im letzten Schritt einen gemeinsamen Bericht mit Empfehlungen erstellen. Der Bericht ist für März 2020 angekündigt. Sollten die Empfehlungen nicht umgesetzt werden, sieht der Streitbeilegungsmechanismus keine weiteren Schritte vor.
Die sehr ambitionierte Ankündigung der Kommission, am koreanischen Beispiel die Durchschlagskraft des Mechanismus zu zeigen, ist spätestens jetzt als heiße Luft erkennbar. Das Verfahren bietet lediglich Gelegenheit zum Austausch; völlig unzureichend ist es jedoch, wenn es um schwere Verstöße gegen gemeinsam festgelegte Arbeits- und Umweltstandards geht. Besonders ernüchternd ist im Übrigen die Erfolglosigkeit in diesem spezifischen Fall, da es ja beim Kabinett Moon Jae-in sogar um die Minister eines sozialliberalen Präsidenten geht.
Von der Gleichwertigkeit des Handels mit sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit kann keine Rede sein. Stattdessen wird ganz offensichtlich mit zweierlei Maß gemessen.
Über das dysfunktionale Verfahren hinaus hat die Europäische Kommission hier eindrucksvoll bewiesen, dass sie herzlich wenig Interesse daran hat, sich auf der Basis von Handelsabkommen für arbeitnehmerrechtliche Verbesserungen einzusetzen. Der späte Beginn der Konsultationen sowie die mehrfachen zeitlichen Verzögerungen sprechen eine deutliche Sprache. Im Falle von Verstößen gegen den vereinbarten Abbau von Zöllen wäre das mit Sicherheit anders. Schon allein deshalb, weil in diesen Fällen natürlich Sanktionen möglich sind. Von der Gleichwertigkeit des Handels mit sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit kann also keine Rede sein. Stattdessen wird ganz offensichtlich mit zweierlei Maß gemessen.
Der Ausweg aus dieser Problematik liegt auf der Hand: Die Europäische Union ist als Handelspartnerin für die meisten Verhandlungspartner wichtig genug, um diese Macht auch zur Verbesserung von Arbeitnehmerrechten und Umweltstandards einzusetzen. Sie könnte durchaus von Verhandlungspartnern erwarten, vor dem Abschluss von Abkommen die Kernarbeitsnormen der IAO zu ratifizieren. Würden die Unterhändler der EU außerdem darauf bestehen, Verstöße gegen gemeinsame Nachhaltigkeitsvereinbarungen im letzten Schritt auch zu sanktionieren, könnten solche Vereinbarungen einen deutlich anderen Stellenwert bekommen.
Dabei darf es natürlich nicht darum gehen, ausschließlich die europäischen Standards als Maßstab zu verkaufen, sondern vielmehr ein System der gegenseitigen Kontrolle zu schaffen, das auch den Handelspartnern ermöglicht, die EU beispielsweise bei umweltbezogenen Verstößen ebenfalls zur Verantwortung zu ziehen.