Ein Generalsekretär der Vereinten Nationen, der sichtlich um Fassung ringt, ist nie ein sonderlich ermutigender Anblick. Und doch ließ sich genau das am vergangenen Donnerstag in New York beobachten: Ein offenkundig tief erschütterter António Guterres trat vor die Kameras und richtete „aus der Tiefe seines Herzens“ einen letzten emotionalen Aufruf an den russischen Präsidenten, „dem Frieden eine Chance zu geben“. Der Appell blieb bekanntlich ungehört. Noch während der Sicherheitsrat der VN über die Krise beriet, rollten russische Streitkräfte über die Grenzen der Ukraine.
Am Freitag folgte ein von Beobachtern erwartetes Veto des russischen VN-Botschafters, das eine Verurteilung der Aggression im höchsten Gremium der Weltorganisation verhinderte. Der von den Vereinigten Staaten eingebrachte Resolutionsentwurf, der die russische Regierung unmissverständlich aufforderte, ihre Truppen zurückzuziehen, war in letzter Minute durch sprachliche Änderungen noch leicht entschärft worden, um zögernde Länder an Bord zu holen. Doch am Ende enthielten sich nicht nur China, sondern auch Indien und die Vereinigten Arabischen Emirate der Stimme. Für manch einen Skeptiker war damit abermals das Unvermögen der Vereinten Nationen offensichtlich geworden. „Was sollen die VN überhaupt?“, fragte etwa der konservative britische Spectator.
Die VN legten unmittelbar vor der militärischen Eskalation ein Maß an Aktivität an den Tag wie seit Jahren nicht.
Doch bei aller Empörung über den zur Schau gestellten politischen Zynismus ist VN-Bashing gerade in diesen Tagen der militärischen Eskalation reichlich wohlfeil. Schließlich zählt es zu den inhärenten Herausforderungen der Vereinten Nationen, dass sie zu ihrem reibungslosen Arbeiten eben die politische Kooperationsbereitschaft benötigen, deren Abwesenheit ihre Existenz begründet. Wenn die internationale Diplomatie am East River immer reibungslos funktionieren würde, bräuchte die Welt keine Vereinten Nationen.
Doch die Kritik läuft auch deshalb ins Leere, weil die VN unmittelbar vor der militärischen Eskalation ein Maß an Aktivität an den Tag legten wie seit Jahren nicht – inklusive eines überraschenden Zwischenstopps des US-Außenministers Blinken in einer laufenden Sitzung des VN-Sicherheitsrats. In den zurückliegenden Tagen kam allein der Sicherheitsrat drei Mal zusammen und auch die Generalversammlung lud zu einer dringlichen Sondersitzung. Untätigkeit wird man den Diplomaten in New York kaum vorhalten können.
Die Vereinten Nationen sind weder institutionell noch rechtlich darauf ausgelegt, in einem Konflikt zwischen Großmächten durch eine diplomatische Zauberformel Wunder zu erzwingen.
Sicher: Die Vereinten Nationen sind weder institutionell noch rechtlich darauf ausgelegt, in einem Konflikt zwischen Großmächten durch eine diplomatische Zauberformel Wunder zu erzwingen. Das aber schmälert nicht ihre Bedeutung. Denn in dieser Phase der Eskalation stellt es bereits eine nicht zu unterschätzende Leistung dar, überhaupt Gesprächskanäle offen zu halten.
Doch nicht nur als Kommunikationsplattform bleiben die Vereinten Nationen wichtig. Auch als Seismograf der Krise sind sie politisch bedeutsam. Und gerade diese Funktion dürfte nun noch einmal an neuer Relevanz gewinnen.
Noch am Sonntag beschloss der Sicherheitsrat auf Antrag des ukrainischen Botschafters und gegen den Widerstands Russlands die Überweisung der Ukraine-Akte an die Generalversammlung der Vereinten Nationen. China, Indien und die Arabischen Emirate enthielten sich abermals. In der Generalversammlung ist zwar jeder Mitgliedstaat gleichberechtigt vertreten, doch die Resolutionen des Gremiums haben weit weniger Gewicht als Beschlüsse des Rats.
Schon am heutigen Montag dürfte sich die Versammlung der Mitgliedstaaten nun mit dem Krieg befassen. Nicht nur für VN-Diplomaten bemerkenswert ist dabei die Entscheidung des Sicherheitsrats, die selten genutzte „Uniting for Peace“-Formel zu aktivieren.
„Uniting for Peace“ geht auf eine Resolution der Generalversammlung aus dem Jahre 1950 zurück, die das Ziel hatte, Vetos der Sowjetunion während des Koreakrieges zu umgehen. In Fällen, in denen der Sicherheitsrat mangels Einigkeit der Mitglieder die Hauptverantwortung für die Wahrung von Frieden und Sicherheit nicht wahrnimmt, können neun nichtständige Mitglieder des Rats die Generalversammlung einberufen, die innerhalb von 24 Stunden tagen muss. Diese kann dann geeignete Empfehlungen für kollektive Maßnahmen geben, einschließlich des Einsatzes von Waffengewalt. Seit Bestehen der Vereinten Nationen wurde dieses Prozedere nur elf Mal bemüht. Nun findet es in dieser Form erstmals seit 1981 Verwendung.
Vor acht Jahren hatten sich in der Generalversammlung nur 100 Staaten offen gegen die Krimpolitik Wladimir Putins gestellt.
Nach Planungsstand vom Sonntagabend dürfte das Krisenmanagement der Vereinten Nationen damit einerseits dem Muster folgen, mit dem die Weltorganisation schon 2014 auf die Annexion der Krim reagierte. Zugleich aber geht es nun in einem politisch und symbolisch bedeutsamen Punkt deutlich darüber hinaus. Das aber erhöht nur die Bedeutung der nun anstehenden Positionierung der Generalversammlung. Seit Tagen sind nicht nur US-Diplomaten damit befasst, eine möglichst klare Verurteilung Russlands in New York zu erwirken.
Angesichts der Volatilität der Lage sind Voraussagen über die Stimmungslage schwierig. Sicher scheint nur: Die Aussprache in der Generalversammlung dürfte – mindestens – den gesamten Montag in Anspruch nehmen.
Vor acht Jahren hatten sich in der Generalversammlung nur 100 Staaten offen gegen die Krimpolitik Wladimir Putins gestellt. Es ist diese Benchmark, die in den kommenden Tagen einen aufschlussreichen Vergleich ermöglichen wird. Denn für eine Vermessung des Schadens an der regelbasierten Weltordnung ist durchaus entscheidend, ob die 193 Mitgliedstaaten der Generalversammlung nun in ihrer Ablehnung über die Positionierung des Jahres 2014 hinausgehen.
Auf Beifall dürfte der Krieg natürlich kaum treffen. Doch zumindest Zweifel an einer wirklich überwältigenden Verurteilung durch die Generalversammlung scheinen angebracht – nicht nur vor dem Hintergrund des Votums aus dem Jahr der Krimbesetzung.
Gut möglich, dass die Zögerlichkeit der UN-Mitgliedsländer mehr mit Skepsis gegenüber westlicher Doppelmoral zu tun hat, als mit Zustimmung zur russischen Aggression.
Dem Aufruf unter anderen der Regierung Norwegens, sich als Ko-Sponsor an der Resolution des Sicherheitsrats zur Verurteilung Russlands vom Wochenende zu beteiligen, waren jedenfalls nur knapp 80 Staaten gefolgt. Gut möglich, dass diese Zögerlichkeit mehr mit Skepsis gegenüber westlicher Doppelmoral zu tun hat, als mit Zustimmung zur russischen Aggression. Doch sollte sich dieser Trend in der Generalversammlung fortsetzen, wäre das ein weiteres Indiz für die Fragilität der regelbasierten Ordnung.
Klar ist dabei auch: Selbstredend wäre auch eine eindeutige Verurteilung des russischen Vorgehens in der VN-Generalversammlung unter dem Banner „Uniting for Peace“ noch keine Lösung des Konflikts. Doch ein klarer Ruf nach diplomatischen Lösungen wäre dennoch ein ermutigendes Zeichen in Zeiten, in denen selbst ein VN-Generalsekretär aus nachvollziehbaren Gründen vor den Augen der Weltöffentlichkeit mit der Fassung ringt.