Während die Pandemie ins zweite Jahr geht, listet die WHO acht Covid-19-Impfstoffe auf, die bereits allgemein eingesetzt werden. Weitere Impfstoffe befinden sich noch im Zulassungsverfahren. Das ist in der Impfgeschichte beispiellos. Es böte der Weltgemeinschaft, wenn sie auf internationaler Ebene effizient zusammenarbeiten würde, eine reelle Chance, 2021 sowohl die Pandemie zu bewältigen als auch die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen.

Stattdessen steht die Welt nach Meinung des WHO-Generaldirektors Tedros Adhanom Ghebreyesus bei der Impfstoffverteilung am Rande eines „katastrophalen moralischen Versagens“. Die Welt steckt in einer Sackgasse des „Impf-Nationalismus“. Während sich die reichen Länder Verträge sicherten, mit denen sie ihre gesamte Bevölkerung bis Jahresende dreimal impfen können, werden 85 arme Länder erst Anfang 2023 Impfstoffe einführen können – wenn überhaupt.

Dass reiche Länder aus Profitgründen Impfstoffe horten, stellt eine „Impfstoff-Apartheid“ dar, die nicht nur den reichen Ländern ein unberechtigtes Privileg gewährt. Die Pandemie wird damit naiverweise als nationales oder regionales Problem behandelt, obwohl sie ganz offensichtlich globaler Natur ist. Dabei könnte, wie eine aktuelle Studie belegt, der Impf-Nationalismus wegen der weltweiten wirtschaftlichen Verflechtungen allein die reichen Länder 4,5 Billionen US-Dollar kosten.

Die allermeisten armen Länder – also der größte Teil der Weltbevölkerung – können froh sein, wenn sie bis zum Ende des Jahres auch nur zehn Prozent ihrer Bevölkerung impfen können.

Doch trotz des ohnehin massiven Ungleichgewichts zugunsten der EU hat die EU den Pharmariesen Astra Zeneca scharf angegriffen, als das Unternehmen ankündigte, weniger als die Hälfte der bis März 2021 versprochenen 80 Millionen Impfdosen auszuliefern. Damit durchkreuzte der Pharmakonzern die Pläne der EU, bis zum Ende des Sommers 70 Prozent der erwachsenen Bevölkerung zu impfen. Die allermeisten armen Länder – also der größte Teil der Weltbevölkerung – können hingegen froh sein, wenn sie bis zum Ende des Jahres auch nur zehn Prozent ihrer Bevölkerung impfen können.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen behauptete noch im November, die beste Strategie gegen das Virus sei geopolitische Kooperation statt Konkurrenz. Doch ihr derzeitiges Fiasko mit Astra Zeneca hat die Heuchelei der EU entlarvt, drohte die EU doch damit, sich im Interesse Europas auf dieselben Ausnahmeregelungen zu berufen, die sie für die Bürgerinnen und Bürger des globalen Südens gerade ablehnt.

Auf internationaler Ebene verstecken sich die reichen Länder und die Pharmakonzerne hinter dem so harmlos klingenden „geistigen Eigentum“, das mit katastrophalen Folgen durchgesetzt wird. Seit seiner Einführung im Jahr 1995 ist das Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (TRIPS) der wohl schwächste Baustein der Welthandelsorganisation (WTO). Während das TRIPS-Abkommen paradoxerweise die Monopolrechte von Unternehmen gestärkt hat, ermunterten die übrigen WTO-Abkommen zu Wettbewerb, Deregulierung und Freihandel.

Genau wie vor 20 Jahren blockiert eine mächtige Clique reicher Länder unter Führung der EU, der USA, Großbritanniens und Japans eine Ausnahmeregelung mit dem Argument, ein Patentverzicht würde die Innovationstätigkeit ausbremsen.

Als in den späten 1990er-Jahren die HIV/Aids-Epidemie grassierte, kosteten patentierte antiretrovirale Arzneimittel für ein Jahr rund 12 000 US-Dollar pro Patient. Der südafrikanische Präsident Nelson Mandela machte sich zum Wortführer eines weltweiten Protests mit dem Ziel, Zugang zu bezahlbaren lebensrettenden antiretroviralen Medikamenten zu erhalten. Er setzte sich über die TRIPS-Bestimmungen hinweg und startete einen Frontalangriff gegen die Großen der Pharmaindustrie. Der indische Generikahersteller Cipla reagierte auf diesen Vorstoß und verblüffte die Welt im Februar 2001 mit der Einführung eines Medikaments zur Aids-Bekämpfung, das weniger als ein US-Dollar pro Tag kostete.

Ermutigt durch diesen Erfolg, setzten die Entwicklungsländer sich gegen den Widerstand der USA und der EU durch und erstritten im November 2001 die Doha-Erklärung zum TRIPS-Abkommen, die das Recht auf öffentliche Gesundheitsfürsorge und den Zugang zu Arzneimitteln betont. Zwei Jahrzehnte und eine weitere globale Gesundheitskrise später führen dieselben Akteure dasselbe Stück nach einem ganz ähnlichen Drehbuch noch einmal auf.

Im Oktober 2020 brachten Südafrika und Indien bei der WTO einen Vorschlag für eine Ausnahmeregelung („Waiver“) vom TRIPS-Abkommen für Patente, Gebrauchsmuster und Geschäftsgeheimnisse ein, die den Zugang zu Impfstoffen und Medikamenten oder die Herstellung von Medizinprodukten beschränken, die zur Bekämpfung von Covid-19 dringend benötigt werden. Seit Kenia, Pakistan, Venezuela, Ägypten und Bolivien sich als „Ko-Sponsoren“ für die Initiative einsetzen und mittlerweile knapp 100 WTO-Mitgliedstaaten sie ebenfalls befürworten, hat der Vorstoß mehr Gewicht bekommen. Auch die WHO, das Gemeinsame Programm der UN zur Reduzierung von HIV/Aids und mehrere UN-Sonderberichterstatter sprechen sich für die Ausnahmeregelung aus.

Genau wie vor 20 Jahren blockiert eine mächtige Clique reicher Länder unter Führung der EU, der USA, Großbritanniens und Japans die Ausnahmeregelung mit dem Argument, ein Patentverzicht würde die Innovationstätigkeit ausbremsen und das TRIPS-Abkommen biete bereits flexible Möglichkeiten für die öffentliche Gesundheitsfürsorge.

Bei Innovationen spielt die Finanzierung durch die Unternehmen nur eine marginale Rolle.

Beide Argumente sind sachlich falsch. Laut einer Studie über 210 Medikamente, die zwischen 2010 und 2016 von der US Food and Drug Administration zugelassen wurden, leistete die staatliche Förderung durch die National Institutes of Health den größten Beitrag zur Finanzierung von Forschung und Innovation. Eine neuere Studie kam zu dem Ergebnis, dass die Regierungen 2020 mindestens 88 Milliarden Euro für Covid-19-Impfstoffhersteller bereitstellten. Dies zeigt deutlich, dass bei Innovationen die Finanzierung durch die Unternehmen nur eine marginale Rolle spielt.

Die Entwicklungsländer bringen in der WTO schon seit Langem vor, dass die strengen Bestimmungen des TRIPS-Abkommens es praktisch unmöglich machen, bestehende Spielräume zu nutzen, und dass jeder Versuch, diese Spielräume in Anspruch zu nehmen, Druck und handelspolitische Vergeltungsmaßnahmen seitens einflussreicher Mitglieder wie der EU und der USA hervorrufen.

Die TRIPS-Ausnahmeregelung kann eine entscheidende Rolle bei der zügigen Ausweitung der Impfstofflieferungen spielen. Da das Know-how zur Herstellung des Astra-Zeneca-Impfstoffs relativ weit verbreitet ist, kann die Produktion in Unternehmen in den Entwicklungsländern ausgebaut werden. In Indien hat nur das Serum Institute of India, das mit der Nachfrage kaum Schritt halten kann, eine Produktionslizenz. Es ist ein Skandal, dass Astra Zeneca von der EU weniger als zwei US-Dollar für eine Dosis verlangt, während das weitaus ärmere Thailand rund fünf US-Dollar pro Dosis zahlen muss. Die Herstellung im eigenen Land wird den Staaten helfen, die Kosten erheblich zu senken.

Sollte es den USA und der EU ernst sein mit ihrer Absicht, in Sachen Impfstoff ihren Beitrag zu einer weltweiten Gemeinschaftsanstrengung zu leisten, müssten sie den Vorschlag für eine Ausnahmeregelung unterstützen. Die Pandemie ist ein globales Problem, das eine globale Lösung und nicht eine Reihe von nationalen Lösungen erfordert. Es ist absolut entscheidend, dass alle Länder schnell und entschlossen handeln und die Menschen und ihre Gesundheit über den Profit stellen. Nur dann können wir diese Pandemie besiegen.

Aus dem Englischen von Christine Hardung

Lesen Sie in dieser IPG-Debatte auch den Text „Keine Kriegswirtschaft".