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Die Tweets des US-amerikanischen Präsidenten haben das Potential, heftige Erschütterungen auszulösen. In der vergangenen Woche nun beschuldigte Donald Trump die Weltgesundheitsorganisation WHO, ihn nicht rechtzeitig vor der Möglichkeit einer Pandemie und deren massiven Auswirkungen auf sein Land gewarnt zu haben. Die WHO lasse sich von den Chinesen umgarnen und habe viel zu spät Reisebeschränkungen empfohlen. Andere Länder wie Australien sprangen dem Präsidenten bei. Das Thema beherrscht die Tagespresse.

Internationale Gesundheitspolitik, gerade in außerordentlichen Zeiten, gibt nicht nur Auskunft darüber, wie kooperativ Staaten auf Gesundheitsprobleme reagieren. Sie ist auch Ausdruck größerer und längerfristiger Weltordnungspolitik. Sie ist Ausdruck von Auseinandersetzungen um Einflusssphären innerhalb und außerhalb von internationalen Organisationen. Sie gibt Auskunft darüber, ob internationale Organisationen sich überhaupt über die Interessen ihrer wichtigsten Mitgliedstaaten hinwegsetzen können und was von ihnen zu erwarten ist.

Die Gesundheit ist ein Bereich, in dem Staaten schon weit vor Beginn des 20. Jahrhunderts zusammengearbeitet haben. Lange Zeit waren allerdings internationale Vereinbarungen lediglich auf die Eindämmung von Infektionskrankheiten ausgerichtet, insbesondere auf eine gründliche und transparente Informationspolitik der betroffenen Länder und auf die Vereinbarung von Maßnahmen, die im Falle drohender Epidemien ergriffen werden sollten. Auch in der aktuellen Situation wird das deutlich – etliche Länder verfolgen mehr oder weniger ähnliche Strategien, ihre nationalen Pandemiepläne haben ihre Ursprünge in den vielfältigen Debatten und Beschlüssen im Kontext der Weltgesundheitsorganisation und anderer Institutionen.

Viele fragen, ob wir die WHO noch brauchen, weil sie sich ja offensichtlich an den Interessen einzelner Mitgliedstaaten – sprich: China – orientieren würde. Diese Frage zeugt von einer naiven Perspektive auf internationale Organisationen.

Viele sind in den vergangenen Wochen über das Stöckchen von Donald Trump gesprungen und haben danach gefragt, ob wir die Weltgesundheitsorganisation noch brauchen, weil sie sich ja so offensichtlich an den Interessen einzelner Mitgliedstaaten – sprich: China – orientieren würde. Diese Frage zeugt nicht nur von einer bizarren und naiven Perspektive auf internationale Organisationen. Sie wirft zudem über 70 Jahre kontinuierliche Konsultationen zwischen ihren 194 Mitgliedstaaten und den medizinischen, virologischen, epidemiologischen, sozialwissenschaftlichen, juristischen Expertinnen und Experten mit einem Satz über Bord.

Internationale Organisationen sind Plattformen internationaler Beziehungen. Sie werden gerne in drei Bildern beschrieben: als Arenen, in denen Staaten über gemeinsame Probleme und Antworten auf diese Probleme diskutieren; als Akteure, deren Verwaltungsapparate und oberste Bürokraten als eigenständige Institutionen mit Gestaltungsmacht wahrgenommen werden; und als Instrumente, wenn in ihnen und durch sie einzelne Staaten oder Staatengruppen ihre individuellen Interessen durchzusetzen versuchen. Sicherlich überwiegen in bestimmten Momenten einzelne dieser Bilder – in der Summe treffen sie jedoch alle drei auf die „Identität“ von internationalen Organisationen zu. Gerade das Bild der Arena – dem diskursiven Boxring – ist es, das den Stellenwert internationaler Organisationen als Plattformen für Kommunikation, Informationsaustausch und die Generierung von Wissen und Daten in besonderem Maße unterstreicht.

Das jährliche Budget der WHO (rund 2,2 Milliarden US-Dollar im Jahr 2020) beträgt gerade mal ein Drittel der voraussichtlichen Gesamtkosten des Berliner Flughafens BER. Wer danach fragt, ob sie überhaupt gebraucht wird, der verkennt den fundamentalen Wert von Kommunikation bei der Vertrauensbildung zwischen den Ländern dieser Welt. Sie alle sind Mitgliedstaaten dieser Organisation. Er verkennt auch die Bedeutung eines Parlaments wie der Weltgesundheitsversammlung (World Health Assembly), die jährlich tausende von Vertreterinnen und Vertretern der WHO-Mitgliedstaaten, wissenschaftliche Expertinnen und Experten sowie unzählige Repräsentanten zivilgesellschaftlicher Organisationen und profit-orientierter Unternehmen zusammenbringt.

Die WHO ist selbstverständlich Instrument zur Durchsetzung von Machtpolitik – und nicht nur eine technokratische Gesundheitsverwaltung.

Das Mandat der Weltgesundheitsorganisation ist eindeutig festgelegt: Sie soll als zentrale internationale Institution zum Schutz der Gesundheit weltweit ihren Mitgliedstaaten Informationen, Daten, Wissen und technische Hilfe zur Verfügung stellen, insbesondere bei gesundheitlichen Notlagen. Die Verhinderung der Ausbreitung von Infektionskrankheiten und insbesondere die Vorbereitung auf Pandemien können dabei als historisch wichtigster Tätigkeitsbereich der WHO gesehen werden. Und wieder ist es hier vor allem das Ermöglichen der Kommunikation, welches die WHO zu einer Schlüsselinstitution der globalen Gesundheitspolitik macht.

Zugleich lässt sich nicht von der Hand weisen, wie sehr die WHO (wie alle anderen internationalen Organisationen) Schauplatz von machtpolitischen Auseinandersetzungen ihrer einflussreichen Mitgliedstaaten ist. Sie ist selbstverständlich Instrument zur Durchsetzung von Machtpolitik – und nicht nur eine technokratische Gesundheitsverwaltung. Der Antagonismus zwischen den USA und China ist eingebettet in einen Pandemie-unabhängigen Wettstreit um wirtschaftliche und ideologische Einflusssphären, inklusive des Einflusses im globalen Süden.

Der WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus sei ein Handlanger der chinesischen Regierung, so der zentrale Vorwurf des amerikanischen Präsidenten und selbst vieler unabhängiger Medien. Sein Herkunftsland Äthiopien habe massiv von der „Entwicklungszusammenarbeit“ mit China profitiert, er sei vereinnahmt von den Chinesen, könne es sich deshalb nicht erlauben, die verspätete Transparenz der chinesischen Regierung hinsichtlich des neuartigen Virus anzuprangern. Die warmen Worte von Tedros für die chinesische Regierung im Anschluss an den Besuch einer WHO-Delegation in China am 28. Januar 2020 wurden scharf kritisiert. Und dennoch erklärte er nur zwei Tage später und früher als ursprünglich vorgesehen den internationalen Gesundheitsnotstand, also die höchste Alarmstufe. WHO-Mitarbeiter haben in Interviews bestätigt, dass dies gegen den Willen der chinesischen Regierung geschehen sei.

Gesundheitspolitik im Kontext drohender Epidemien ist diplomatisch ein sehr schmaler Grat – gerade dann, wenn Epidemien die wirtschaftlichen Beziehungen einzelner Länder und ihre Entwicklungsfortschritte bedrohen.

Während wochenlang der Eindruck entstanden ist, in der Covid-19-Pandemie hätten die von ihr besonders betroffenen Staaten ihren Blick nur nach innen gerichtet, Grenzen dicht gemacht, den internationalen Reiseverkehr stillgelegt, rückt nun, einmal mehr getriggert von einer 140-Zeichen Botschaft des amerikanischen Präsidenten, die internationale Politik wieder in den Fokus. Und in dieser Hinsicht ist der Konflikt zwischen den USA und der WHO ein Lehrstück der internationalen Beziehungen. Zunächst einmal, weil er uns erneut zeigt, dass Gesundheitspolitik eben weit mehr ist als das bloße „Management“ von Gesundheitsproblemen. Vielmehr ist Gesundheitspolitik im Kontext drohender Epidemien diplomatisch ein sehr schmaler Grat – gerade dann, wenn Epidemien die wirtschaftlichen Beziehungen einzelner Länder (siehe Ebola Ostafrika) und die Entwicklungsfortschritte dieser Länder bedrohen.

Wer internationale Politik beobachtet und analysiert, der weiß, mit welch vorsichtiger Sprache Vertreterinnen und Vertreter internationaler Organisationen nach außen kommunizieren, und dass sehr selten einzelne Mitgliedstaaten von den obersten Verwaltern der internationalen Organisationen an den Pranger gestellt werden. Die augenscheinliche Lobhudelei des WHO-Generaldirektors nach seinem Besuch in China im Januar 2020 ist daher kaum überraschend. 

Was ist nun zu erwarten angesichts des sich stetig verschärfenden Tonfalls zwischen einzelnen Ländern und hinsichtlich des Krisenmanagements der WHO? Ist die WHO am Ende, wenn ihr wichtigster Beitragszahler den Geldhahn zudreht? Die Diskussionen der vergangenen Wochen zeigen, dass die Weltgesundheitsorganisation viele Fürsprecher hat – darunter die Bundesregierung – und dass unter diesen schon jetzt mobilisiert wird, um der Organisation auch finanziell den Rücken zu stärken. Unter den „Freunden und Förderern“ der WHO ist auch die Bill und Melinda Gates Stiftung, eine amerikanische Stiftung, ohne deren Fördermittel nicht nur die WHO, sondern praktisch die gesamte globale Gesundheitspolitik seit Jahren nicht überlebensfähig wäre. Bill Gates kritisiert seinen Präsidenten scharf für dessen Konfrontationskurs mit der WHO. Es ist also davon auszugehen, dass andere Länder und große Stiftungen die Leerstelle füllen können und wollen, die entsteht, wenn die USA nicht mehr zahlen.

Wir können sicherlich auch damit rechnen, dass die Pandemie zu vermehrten Konflikten über Schuldzuweisungen zwischen Staaten und eben auch zwischen der WHO und ihren Mitgliedstaaten führen wird. Dennoch ist die WHO ein zentraler Baustein im „Krisenmanagement“. Ihre technische Hilfe vor Ort und ihre Expertise für Länder des globalen Südens ist von immensem Wert. Gerade weil sie den kontinuierlichen Austausch – auch über Differenzen und Versäumnisse – zwischen ihren Mitgliedstaaten ermöglicht, wird sie ihre zentrale Stellung in der globalen Gesundheitspolitik trotz aller Kritik nicht verlieren.