Seit dem Massaker, das die Hamas am 7. Oktober im vergangenen Jahr an der israelischen Bevölkerung verübt hat, erleben wir eine massive Zunahme antisemitischer Rhetorik und antisemitischer Vorfälle. Das ist eine beunruhigende und gefährliche Entwicklung – weltweit und auch in Deutschland. Die deutsche Regierung hat eine moralische Verpflichtung, dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Deshalb ist es notwendig und begrüßenswert, wenn die Bundesregierung und der Bundestag klar und entschieden auf diese Entwicklung reagieren und eindeutig Stellung beziehen.
Im Bundestag arbeiten die Partner der Ampelkoalition gemeinsam mit der CDU/CSU-Fraktion seit Monaten an einer Resolution zur Bekämpfung des Antisemitismus in Deutschland. Frühere Fassungen dieser Resolution haben nicht nur bei Rechtswissenschaftlern und Kunstschaffenden, sondern auch bei Menschenrechtsorganisationen wie der unsrigen heftige Kritik hervorgerufen. Ein veröffentlichter Entwurf dieser Entschließung löst bei mir und bei anderen israelischen Menschenrechtsorganisationen Besorgnis aus, weil er eine repressive Stoßrichtung hat und für Spaltung sorgt. Das liegt vor allem daran, dass er Antisemitismus mit Kritik an Israel verwechselt. Als jüdische Israelin, die sich aktiv in der israelischen Zivilgesellschaft engagiert und sich berechtigt und in der Pflicht sieht, die eigene Regierung zu kritisieren, weise ich diese Gleichsetzung mit Nachdruck zurück.
Diese Verquickung von Antisemitismus und Israelkritik ist so weit gefasst, dass sie sogar auf Juden und Israelis in Deutschland zutrifft, die zum Beispiel die Behandlung der Palästinenser durch die israelische Regierung kritisieren. Jüdische Vertreter des öffentlichen Lebens in Deutschland sahen sich veranlasst, in einem offenen Brief den Resolutionsentwurf zu kritisieren, der paradoxerweise der Vielfalt des jüdischen Lebens in Deutschland womöglich schadet, statt sie zu schützen.
Der Kern des Problems ist, dass die Resolution auf der umstrittenen Antisemitismus-Arbeitsdefinition der Internationalen Allianz zum Holocaustgedenken (International Holocaust Remembrance Alliance, IHRA) aufbaut. Sie macht diese Definition zum entscheidenden Maßstab für die Regulierung und Zuweisung öffentlicher Mittel – mit weitreichenden nachteiligen Folgen für Wissenschaft, Kunst und Zivilgesellschaft in Deutschland, aber auch für die Arbeit und Zusammenarbeit zwischen deutschen Organisationen und ihren ausländischen Partnern vor Ort. Bundestag und Bundesregierung haben sich 2017 die IHRA-Definition zu eigen gemacht. In der Folge wurde diese Definition Gegenstand heftiger Kontroversen und wird in der Wissenschaft intensiv diskutiert. Führende internationale Antisemitismusforscher (darunter viele Israelis) haben Alternativdefinitionen erarbeitet – unter anderem die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus. Daher stellt sich die Frage: Wieso ergreift der Bundestag in einem wissenschaftlichen Streit Partei für eine Seite? Warum ist der Entwurf nicht offen für Entwicklungen in der akademischen Diskussion und geht auf andere Definitionen gar nicht ein?
Die Sorge über die Auswirkungen, die sich durch die Verwendung der Antisemitismus-Definition der IHRA ergeben können, ist keineswegs bloße Theorie.
Die Sorge über die Auswirkungen, die sich durch die Verwendung der Antisemitismus-Definition der IHRA ergeben können, ist keineswegs bloße Theorie. In den vergangenen Jahren haben wir erlebt, dass diese Definition taktisch genutzt wird, um Zwang auszuüben. Die israelische Regierung setzt sie als Waffe ein, um öffentlich artikulierten Widerspruch gegen ihre rechtswidrige und schädliche Politik zum Schweigen zu bringen. Die Liste derer, die wegen ihrer Äußerungen zur Palästinenserpolitik der israelischen Regierung oder ihres Verhaltens gegenüber dieser Politik als Antisemiten abgestempelt wurden, ist sehr lang und umfasst sogar den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH), dessen Chefankläger Karim Khan und die Vereinten Nationen. Kürzlich schmähte Israels Außenminister Israel Katz den EU-Außenbeauftragten und spanischen Sozialisten Josep Borrell als „Antisemiten und Israelhasser“ und warf ihm vor, er führe „eine Hasskampagne gegen Israel, die Erinnerungen an die schlimmsten Antisemiten der Geschichte weckt“. Diverse Gruppen, die sich international schützend vor die israelische Regierung stellen und Kritik an ihrer Menschenrechtsbilanz zum Schweigen bringen wollen, nutzen die IHRA-Definition fortwährend und in zynischer Weise. Mithilfe dieser Definition haben sie Mitglieder des Irischen Parlaments als Antisemiten gebrandmarkt, weil sie einen Boykott von Erzeugnissen aus den Siedlungsgebieten ins Spiel gebracht hatten; sie haben die Regierungen der Niederlande und Schwedens antisemitisch genannt, weil sie palästinensische Menschenrechtsorganisationen finanziell unterstützen; und sie haben dem Europäischen Gerichtshof Antisemitismus vorgeworfen, nachdem er geurteilt hatte, dass Produkte aus israelischen Siedlungsgebieten als solche gekennzeichnet werden müssen.
In Israel nutzen rechte Parlamentarier die Definition der IHRA, um etablierte Menschenrechtsgruppen und zivilgesellschaftliche Organisationen zu delegitimieren und sie nach Möglichkeit von ihren internationalen Finanzierungsquellen abzuschneiden. Im März 2023 bezeichnete der Likud-Abgeordnete Ariel Kellner zum Beispiel Breaking the Silence als „antisemitische Organisation“, die „Soldatinnen und Soldaten der israelischen Streitkräfte verunglimpft und als Nazis darstellt“. Und weiter: „Mal lässt sie die Ritualmordlegende wiederaufleben, mal misst sie moralisch mit zweierlei Maß. Beides fällt unter die internationale Definition von Antisemitismus.“ Breaking the Silence ist eine gemeinnützige israelische Organisation, die Übergriffe im Zusammenhang mit der israelischen Besetzung der Palästinensergebiete aufdeckt und das Ziel hat, die Besatzung zu beenden. Alle Beschäftigten und Mitglieder der Organisation sind ehemalige israelische Soldaten (und Juden). Wie lächerlich es ist, eine solche Organisation als antisemitisch zu bezeichnen, liegt auf der Hand. Allen sollte klar sein, dass hier ein israelisches Regierungsmitglied auf zynische Weise versucht, die Organisation mit möglichst niederträchtigen Anschuldigungen zu diskreditieren. Allein die Tatsache, dass der Knesset-Abgeordnete Ariel Kellner sich zur Untermauerung dieser Anschuldigungen auf die „internationale Definition von Antisemitismus“ berufen kann, zeigt deutlich, wie problematisch diese Definition ist.
Die Kernaufgabe von Menschenrechtsorganisationen in aller Welt wird mitunter auf das Naming and Shaming verkürzt – also darauf, Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren und öffentlich anzuprangern, um Aufmerksamkeit zu erregen und die Verantwortlichen zu zwingen, diese Rechtsverstöße abzustellen. Diese Arbeit ist überall auf der Welt notwendig und wichtig. Im israelisch-palästinensischen Kontext ist sie essenzieller als je zuvor vor dem Hintergrund, dass seit elf Monaten in Gaza ein brutaler Krieg geführt wird, dass in Israel eine ultranationalistische Regierung an der Macht ist und Extremisten die Annexion des Westjordanlands und die Zwangsenteignung der dort lebenden Palästinenser vorantreiben.
Damit sie ihre Arbeit machen können, müssen sich Menschenrechtsorganisationen frei äußern können.
Damit sie ihre Arbeit machen können, müssen sich Menschenrechts-Organisationen frei äußern können, zumal sie mitunter sehr schwerwiegende Vorwürfe erheben. Das heißt nicht, dass wir unsererseits gegen Kritik abgeschirmt werden müssen. Das lässt natürlich genügend Raum, um unsere Erkenntnisse infrage zu stellen und mit unseren Bewertungen nicht einverstanden zu sein. Fakten können unzutreffend sein. Interpretationen können ihre Schwachstellen haben. Manche mögen uns für fehlgeleitet oder naiv halten. Das alles ist legitim. Aber die Meinungsabweichungen in diesen Fragen als antisemitisch abzustempeln, ist unverantwortlich und darf nicht sein. Mit solchen politisch motivierten Anschuldigungen sollen diejenigen, die Missstände zur Sprache bringen, zum Schweigen gebracht werden, damit man sich mit der eigentlichen Kritik nicht auseinandersetzen muss. Durch diese Anschuldigungen gerät der Begriff „antisemitisch“ zur Farce – und das schadet den aufrichtigen Bemühungen, den ganz realen Antisemitismus zu bekämpfen.
Aus diesen Gründen warnen 15 israelische Menschenrechtsgruppen und zivilgesellschaftliche Organisationen – meine Organisation HaMoked ist eine von ihnen – in einer gemeinsamen Erklärung vor der Resolution, über die der Bundestag derzeit berät. Bei dieser Warnung geht es unter anderem auch um unsere Möglichkeiten, unsere Kernaufgabe mit deutscher Unterstützung wahrzunehmen: Wir befürchten, dass die Resolution des Bundestags, sollte sie auf der Grundlage des Entwurfs verabschiedet werden, instrumentalisiert wird, um die finanzielle Unterstützung aus Deutschland für unsere Menschenrechtsarbeit unter Beschuss zu nehmen und einzuschränken und im weiteren Sinne unserer Zusammenarbeit mit der deutschen Zivilgesellschaft die Grundlage zu entziehen. Dies würde Schmutzkampagnen befeuern und die vielen komplexen Herausforderungen, die wir in der aktuellen Eskalationssituation ohnehin schon zu bewältigen haben, noch weiter verschärfen.
Wie wir in unserer Erklärung betonen, begrüßen wir, dass die Bundesregierung sich ausdrücklich zur Bekämpfung des Antisemitismus bekennt, und ermutigen den Bundestag, eine auf Inklusivität und Universalität abzielende Resolution zu verabschieden. Wir ermuntern ihn, eine Resolution zu verabschieden, die unserer Menschenrechtsarbeit nicht potenziell schadet, sondern sie schützt und unterstützt. Alle Versuche, auf Basis der IHRA-Definition finanzielle Zuwendungen an Bedingungen zu knüpfen, sollten aus dieser Resolution gestrichen werden – und der Kampf gegen Antisemitismus sollte inklusiv und in einen universellen Kampf gegen Rassismus in jeglicher Form eingebettet werden.
Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld