In wenigen Tagen beginnt die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar. FIFA-Boss Gianni Infantino erklärte diese bereits im Vorfeld zur „besten WM aller Zeiten“. Dass er als Verantwortlicher kein neutraler Beobachter ist, stand bereits außer Frage, bevor er Anfang des Jahres seinen Wohnsitz nach Katar verlegte. Die enge Verflechtung zwischen Fußball und Politik wird nicht nur am Beispiel der FIFA deutlich, sondern auch beim Blick auf die Weltmeisterschaft in Katar.

Bei dieser handelt es sich in vielfacher Hinsicht um ein außergewöhnliches Turnier. Katar hat die Schweiz abgelöst als geografisch kleinstes Land, in dem jemals eine Fußball-WM ausgerichtet wurde. Es ist das erste Turnier seit dem Auftakt der Weltmeisterschaften 1930, bei der der Gastgeber noch nie ein WM-Spiel bestritten hat. Des Weiteren handelt es sich um die erste WM in einem arabischen Land. Dass sie aber ausgerechnet in Katar stattfindet, ist auch aus regionaler Sicht erstaunlich. Denn die Hochburgen des arabischen Fußballs sind in Ägypten, Algerien, Tunesien und Marokko zu finden, sowohl was die spielerische Qualität angeht, als auch die Zuschauerzahlen in den Stadien.

Auf den ersten Blick scheint es zudem, als sei dies die erste WM, die im Winter stattfindet. Im Sommer wird es in Katar bis zu 50 Grad heiß. Dies ist allerdings nur aus einer europäischen Sichtweise zutreffend. Denn beispielsweise die Weltmeisterschaften 2014 in Brasilien und 2010 in Südafrika fanden im Winter der südlichen Hemisphäre statt.

Das zentrale Motiv für Katar, sich um die Ausrichtung der Weltmeisterschaft zu bewerben, besteht darin, dass sich das Land auf der Weltkarte als unverzichtbarer Partner darstellen will. Gleichzeitig dient die WM aber auch zur Herrschaftssicherung gegenüber der eigenen Bevölkerung. Katar sieht im übermächtigen Nachbarn Saudi-Arabien eine existenzielle Bedrohung. Da Katar ein kleines Land ist, kann es sich selbst kaum militärisch schützen. Die Idee ist daher, dass Katar in verschiedensten Bereichen enge Partnerschaften eingeht, um so seine Bedeutung zu steigern. Man spricht in der Politikwissenschaft in diesem Zusammenhang auch von „Soft Power“, also weicher Macht, im Gegensatz zu harter, militärischer Macht. Für die USA ist Katar ein unverzichtbarer Partner, weil es dort den größten US-Militärstützpunkt im Nahen Osten gibt. Im März 2022 erklärte US-Präsident Biden das Land zum „wichtigen Nicht-NATO-Verbündeten“, ein formeller Titel, den nur wenige Staaten mit besonders wichtiger strategischer Bedeutung erhalten.

Keinesfalls nur Autokratien versuchen sich mithilfe der Fußball-WM gegenüber der Weltöffentlichkeit in einem guten Licht darzustellen.

Schwerwiegender für die Rivalität zwischen Katar einerseits und Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) andererseits wiegt das regionalpolitische Engagement Katars. Im Zuge des Arabischen Frühlings unterstützte Katar in vielen Staaten islamistische Bewegungen. Dies betrachteten die VAE und die Saudis als potenzielle Bedrohung ihrer eignen Herrschaft. Außerdem pflegt Katar relativ gute Beziehungen zum Iran, der von den VAE und Saudi-Arabien als größte Bedrohung für die regionale Sicherheit wahrgenommen wird. Im libyschen Bürgerkrieg unterstützen Katar und die VAE zudem gegnerische Konfliktparteien.

Angesichts dieser Konstellation verhängten Saudi-Arabien, die VAE und weitere Staaten aus der Region eine Blockade gegen Katar, um das Land dazu zu zwingen, seine Regionalpolitik komplett neu auszurichten. Die Staaten forderten von Katar unter anderem, den Fernsehsender Al Jazeera zu schließen, alle Verbindungen zu islamistischen Organisationen aufzukündigen und seine diplomatischen Beziehungen zum Iran herabzustufen. Die Forderungen waren so tiefgreifend, dass ihre Erfüllung dem Ende der staatlichen Souveränität Katars gleichgekommen wäre. Entsprechend ging Katar nicht auf die Forderungen ein, sondern fand Wege, um die Blockade zu umgehen. Sie endete letztlich im Januar 2021, ohne dass die Saudis und die VAE ihre Forderungen hätten durchsetzen können.

Die Kritik im Vorfeld der WM lässt Zweifel aufkommen, ob es Katar wie geplant gelingen wird, sich durch das Turnier ein positives Image zu verpassen. Bedenken sollte man in dieser Hinsicht auch: Keinesfalls nur Autokratien versuchen sich mithilfe der Fußball-WM gegenüber der Weltöffentlichkeit in einem guten Licht darzustellen. Das damit verbundene Nation Branding ist vielmehr ein universelles Phänomen, das sich zum Beispiel auch bei der WM 2006 beobachten ließ. Der Slogan „Die Welt zu Gast bei Freunden“ zielte darauf ab, Deutschland – im Gegensatz zu verbreiteten Klischees – als weltoffenes und gastfreundliches Land zu präsentieren.

Das deutsche Sommermärchen war gekauft.

Die massiven Korruptionsvorwürfe rund um die WM-Vergabe an Katar im Dezember 2010 sind bekannt. Entsprechend hat erst die Bestechung von Mitgliedern des WM-Exekutivkomitees dafür gesorgt, dass die WM an die Golfmonarchie vergeben wurde. Dies ist aber keinesfalls das erste Mal, dass bei der WM-Vergabe gemauschelt wurde. 2015 deckte der Spiegel auf, dass die Vergabe der Fußball-WM 2006 an Deutschland durch Bestechung zustandegekommen sei. Das deutsche Sommermärchen war also gekauft. Hinweise auf Korruption gibt es für alle WM-Turniere seit 1998.

Katar steht zudem zu Recht aufgrund mangelhafter Menschenrechtsstandards in der Kritik. Das Land ist eine absolutistische Monarchie, wobei der Emir die oberste Entscheidungsinstanz darstellt. Es gibt in Katar keine Pressefreiheit, Homosexualität ist verboten. Ein katarischer WM-Botschafter bezeichnete in einer ZDF-Dokumentation Homosexualität gar als „geistigen Schaden“. Zudem gibt es keine politische Mitbestimmung. Vielmehr erkauft sich das Emirat die Zustimmung seiner Bürgerinnen und Bürger durch die großzügige Zahlung von Subventionen und die Gewährung von Privilegien. Von den knapp drei Millionen Einwohnern Katars sind nur etwa zehn Prozent katarische Staatsbürger. Der Rest der Bewohnerinnen und Bewohner sind Arbeitsmigranten, die das Land am Laufen halten. Ohne diese Arbeitsmigranten hätten die Stadien und die Infrastruktur für die WM nicht errichtet werden können. Sie leben und arbeiten unter extrem prekären Bedingungen, werden schlecht bezahlt und oftmals wird ihnen bei der Einreise der Pass abgenommen.

Trotz aller berechtigter Kritik an der WM in Katar: Es gibt die Tendenz, einseitig auf Katar und die dortigen Missstände zu blicken und so die Verflechtungen, die es zum Beispiel zwischen Katar und Deutschland gibt, zu ignorieren. Seit 2018 zahlt Qatar Airways für einen Aufdruck auf dem Trikot-Ärmel pro Jahr rund 17 Millionen Euro an den FC Bayern. Außerdem investiert Katar enorme Summen in europäische Unternehmen und gewinnt so massiv an Einfluss. Katar ist mittlerweile in nicht unerheblichem Maße an Volkswagen, der Deutschen Bank, Hochtief, Siemens und Hapag-Lloyd beteiligt. Hinzu kommt: Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 versucht Deutschland, sich von russischem Gas unabhängig zu machen. Sowohl Wirtschaftsminister Habeck als auch Bundeskanzler Scholz reisten deshalb dieses Jahr nach Katar, um dort den Abschluss von Gasliefer-Abkommen zu unterstützen.

Die Missstände rund um die WM in Katar stellen letztlich nur eine Zuspitzung von Entwicklungen dar, die schon vorher existierten.Die intransparenten Strukturen der FIFA ermöglichen die Korruption überhaupt erst. Dass es bisher für die WM-Vergabe keine klaren Kriterien hinsichtlich der Einhaltung von Menschenrechten gibt, ist ein Problem, das über den Fall Katar hinausgeht.

Noch nie wurde über eine WM vor deren Eröffnung so intensiv debattiert.

Diese WM bietet daher vielleicht die Chance, grundsätzliche Dynamiken im internationalen Profifußball kritisch zu hinterfragen und entsprechende Lehren daraus zu ziehen. Die vergangenen Monate haben gezeigt, dass eine solche Chance auf Veränderung existieren könnte, und dies liegt auch daran, dass Fußballfans keinesfalls mehr nur als passive Konsumenten betrachtet werden können. Vielmehr sind sie inzwischen Teil einer kritischen Gegenöffentlichkeit, deren Stimme nicht mehr ignoriert werden kann.

Der Fanvertreter Dario Minden konfrontierte bei einer DFB-Veranstaltung den katarischen Botschafter im September mit den mangelnden Rechten für die LGBTI-Community in Katar. Minden verwies auf seine eigene Homosexualität und fügte hinzu: „Das ist normal, also gewöhnt euch daran, oder bleibt weg vom Fußball.“ Bereits im letzten Jahr verlangte das Vereinsmitglied Michael Ott bei der Jahreshauptversammlung des FC Bayern, über das Sponsoring von Qatar Airways zu diskutieren. Die Vereinsbosse brachen die Veranstaltung ab, es kam zum Eklat. Ob der Druck der Fans ausreicht, um das Sponsoring zu beenden, entscheiden die Bayern-Verantwortlichen erst nach der WM.

Und auch innerhalb der FIFA selbst rumort es: Beim FIFA-Kongress Ende März in Katar erklärte die norwegische Verbandschefin, Lise Klaveness, dass der Weltverband zukünftig unbedingt bei der Vergabe von Weltmeisterschaften auf Demokratie und Menschenrechte zu achten habe. Ob dies nur eine Einzelmeinung war oder ob sich innerhalb der FIFA tatsächlich etwas ändern kann, bleibt abzuwarten. Zumindest fordert auch der DFB zusammen mit anderen Verbänden die Einrichtung eines Entschädigungsfonds für Arbeitsmigranten.

Noch nie wurde über eine WM vor deren Eröffnung so intensiv debattiert. Wichtig ist nun einerseits, dass auch nach dem Ende des Turniers die Aufmerksamkeit auf der Menschenrechtslage in Katar erhalten bleiben muss. Andererseits wird sich im internationalen Profifußball nur etwas ändern, wenn die system-immanenten Probleme in der FIFA nachhaltig angegangen werden. In ihrem aktuellen Zustand ist die FIFA Teil des Problems und nicht Teil der Lösung.