Die Verschiebung der internationalen Aufmerksamkeit auf den Krieg in der Ukraine und den Konflikt im Gazastreifen hat in Libyen ein geopolitisches Vakuum geschaffen. Dieses Vakuum wird von lokalen politischen Akteuren sowie deren regionalen und internationalen Verbündeten genutzt, um ihren Einfluss auszubauen. Einer der Hauptnutznießer dieser Situation ist General Khalifa Haftar, der als potenzieller Sieger aus der aktuellen Krise hervorgehen könnte. Ziel des Militäroffiziers und Befehlshabers der Libyschen Nationalarmee besteht darin, das gesamte Land unter seine Kontrolle zu bringen und ein zentralisiertes militärisches Regime zu errichten, in dem sein Clan die Wirtschaft dominiert.

Nach fast vier Jahren fragiler Stabilität, die einem politischen Stillstand gleichkam, steht das tief gespaltene Land erneut vor einer Krise mit der Gefahr eines erneuten bewaffneten Konflikts. Nach dem Waffenstillstand und der Bildung einer Einheitsregierung im Rahmen des Berliner Prozesses 2020/2021 war Hoffnung auf die Vereinigung der staatlichen Institutionen entstanden sowie auf demokratischen Wandel und nachhaltigen Frieden. Diese Hoffnung verflog jedoch schnell nach dem Scheitern der Wahlen Ende 2021 und der Entstehung einer Parallelregierung in Bengasi im Februar 2022. Seither sorgt lediglich ein Machtteilungsabkommen zwischen den rivalisierenden Kräften für eine Phase relativer Stabilität. Libyen benötigt jedoch kein weiteres Machtteilungsabkommen zwischen Kriegsverbrechern und korrupten Eliten. Stattdessen braucht es Unterstützung für einen demokratischen Wandel durch die Stärkung der Zivilgesellschaft, politischer Parteien und Menschenrechtsorganisationen sowie einen Rechtsstaat, der die Menschenrechte und Meinungsfreiheit schützt.

Die militärische Expansion unter der Führung von Haftars Sohn in diesem strategisch wichtigen Gebiet stellt nicht nur eine Machtdemonstration dar.

Während es der Mission der Vereinten Nationen in Libyen (UNMIL) bisher nicht gelungen ist, den Wahlprozess voranzubringen und das Land zu vereinen, scheint die internationale Gemeinschaft diese brüchige Stabilität als das geringere Übel vorerst zu akzeptieren. Seit einem Monat deuten militärische und politische Ereignisse in Libyen auf die Entstehung einer neuen Ordnung hin, in der die politischen Spielregeln von General Haftar und seinen Verbündeten in Ostlibyen bestimmt werden. Diese Entwicklung schwächt die Regierung der Nationalen Einheit unter Premierminister Abdul Hamid Dbeibah in Tripolis. Dabei geht es in erster Linie um die Verteilung der Erdöleinnahmen des Landes sowie um die Ausweitung des Einflusses auf das gesamte Land. Unter dem Vorwand der nationalen Sicherheit und des Schutzes der südlichen Grenze vor Schmuggel und illegaler Migration aus den Nachbarländern marschierte Anfang August die Nationale Armee in Richtung Südwesten, in die Nähe der algerisch-libyschen Grenze, wo sich eines der größten Ölfelder des Landes befindet und wo wichtige Schmuggelrouten verlaufen. Die militärische Expansion unter der Führung von Haftars Sohn in diesem strategisch wichtigen Gebiet stellt nicht nur eine Machtdemonstration dar, sondern auch eine ernsthafte Bedrohung für Dbeibah und die internationale Gemeinschaft. Damit will Haftar seine Forderungen nach größeren Anteilen an Macht und Ressourcen bekräftigen und internationale Anerkennung für die Ostregierung erlangen, die vollständig unter seiner Kontrolle steht.

Es ist nicht das erste Mal, dass Haftar und die „Ost-Koalition“ versuchen, durch Gewalt politische und wirtschaftliche Macht zu erlangen. Haftars Versuch von 2019, Tripolis durch einen militärischen Angriff zu erobern, scheiterte dank der militärischen Unterstützung der Türkei. Auch der Versuch vom Februar 2022, Dbeibahs Regierung durch einen politischen Beschluss des Parlaments mit einer Regierung unter Fathi Bashagha zu ersetzen, schlug fehl. Dennoch scheinen die aktuellen geopolitischen und innenpolitischen Umstände nun einen günstigeren Zeitpunkt zu bieten.

Zunächst einmal gelang es Haftar und seinem Clan in den vergangenen Jahren, ihre wirtschaftliche und militärische Macht weiter auszubauen. Neben der offiziellen Finanzierung durch die Zentralbank scheint es illegale Finanzierungsquellen für dieses Bestreben zu geben. Haftar erhielt inoffiziell einen Teil der Ölproduktion, der in die Nachbarstaaten geschmuggelt wird. Darüber hinaus kontrollieren Haftars Truppen die Migrationsrouten sowie die Goldminen im Südosten Libyens. Diese inoffiziellen Einnahmen fließen direkt in den Ausbau von Haftars Militär und in den staatlichen „Libyschen Entwicklungs- und Wiederaufbaufond“, der von seinem Sohn geleitet wird. Durch die Kontrolle über lukrative Wiederaufbauprojekte in Libyen sichert sich Haftars Familie Anteile an den Gewinnen und Unternehmensbeteiligungen. Neben türkischen und ägyptischen Unternehmen zeigen heute auch Investoren aus den Vereinigten Arabischen Emiraten Interesse am Wiederaufbau von Bengasi.

Ferner erhält Haftar weiterhin Unterstützung von seinen regionalen und internationalen Verbündeten. Ägypten riskierte durch den Empfang von Usama Hammad, des Regierungschefs Ostlibyens, am 11. August eine diplomatische Krise mit Dbeibah, der seine Regierung als die einzige offiziell anerkannte betrachtet. Dieser Schritt erfolgte zeitgleich mit einer diplomatischen Annäherung zwischen Ägypten und der Türkei, einem bedeutenden Unterstützer der westlichen Regierung. Obwohl die Türkei zugesichert hat, Dbeibahs Regierung mit modernen Luftverteidigungssystemen zu beliefern, und sie zur Deeskalation aufrief, ist es unwahrscheinlich, dass sie die Regierung in Tripolis im gleichen Maße unterstützt wie 2019. Ankara möchte die Annäherung an Ägypten nicht gefährden.

Als wichtiger strategischer Verbündeter in Nordafrika und an der südlichen Grenze zur EU erhält Haftar nach wie vor militärische Unterstützung von Russland.

Als wichtiger strategischer Verbündeter in Nordafrika und an der südlichen Grenze zur EU erhält Haftar nach wie vor militärische Unterstützung von Russland, das wiederum geopolitische Interessen in Libyen hat. Anfang 2024 gründete Russland das panafrikanische „Afrikakorps“ mit knapp 45 000 Soldaten, um die Wagner-Gruppe zu ersetzen und regional russische Interessen zu schützen. Neben der militärischen Kontrolle über Schmuggelrouten soll es die wirtschaftlichen Ressourcen wie Öl- und Gasfelder sowie Gold- und Diamantenminen in Afrika sichern. Südlibyen soll dabei als wichtiger Standort für das Korps dienen. Diese enge Verbindung zu Russland kann nicht nur Haftars Verhandlungsposition mit seinen Kritikern stärken, sondern auch die Handlungsfähigkeit Europas in Afrika in den kommenden Jahrzehnten erheblich einschränken, insbesondere in Bezug auf Flucht und Migration.

Die innenpolitischen Entwicklungen scheinen sich zunehmend zugunsten Haftars zu entwickeln. Ein enger Verbündeter Dbeibahs verlor am 8. August die Wahl zum Präsidenten des Hohen Staatsrats, der als zweite Kammer in Libyen fungiert. An seine Stelle trat Al-Meshri, der gute Verbindungen zum Parlament im Osten pflegt. Kurz darauf verabschiedete Aguila Saleh, der Parlamentspräsident, einen umstrittenen Beschluss, der das Mandat des Präsidentenrats unter Al-Manfi sowie der Einheitsregierung von Dbeibah beenden soll. Saleh übernahm durch diesen Beschluss die Zuständigkeit des Präsidentenrats als Oberbefehlshaber der Streitkräfte in Westlibyen. Der Beschluss wurde bis heute nicht umgesetzt und von Dbeibah und Al-Manfi als rechtswidrig angefochten.

Der Machtkampf um Schlüsselpositionen im libyschen Staat erreichte seinen Höhepunkt, als der Präsidentenrat die Entlassung von Al Sediqal-Kebir, des einflussreichen Gouverneurs der Zentralbank, anordnete. Infolgedessen wurde die Produktion auf mehreren Ölfeldern als Druckmittel gegen diesen Beschluss eingestellt. Seitdem sind Ölproduktion und -exporte massiv eingebrochen und die sozioökonomische Krise der Libyerinnen und Libyer hat sich somit verschärft. Darüber hinaus führte der Konflikt um den neuen Gouverneur zu Liquiditätsengpässen bei den Banken. All dies erhöhte den Druck auf Dbeibahs Regierung, die es seit ihrer Gründung im Jahr 2021 versäumt hat, die Lebensbedingungen der Bevölkerung deutlich zu verbessern. Dbeibah hat stattdessen die Staatsressourcen durch Vetternwirtschaft und Korruption zugunsten seines Clans und der Elite von Tripolis umverteilt, um seine Machtposition zu sichern.

Die anhaltenden internationalen Bemühungen seitens der UN sowie von US- und europäischen Diplomaten, die Lage zu deeskalieren und eine Einigung zwischen den Konfliktparteien zu erzielen, scheinen bisher erfolglos zu sein. Allein die wiederholte Vertagung des Treffens unter UN-Aufsicht, um die Zentralbankkrise zu beenden, deutet darauf hin, dass beide Konfliktparteien auf Zeit spielen, bis eine zufriedenstellende Machtteilungsvereinbarung erreicht ist. Auch wenn es derzeit keine großflächigen militärischen Auseinandersetzungen gibt, könnte Haftar seine Drohungen wahrmachen, während die Einheitsregierung und der Präsidentenrat ohne solide internationale Unterstützung zunehmend geschwächt dastehen.

Sollte Haftar an die Macht kommen, würde er wie seine Verbündeten in Ägypten und Russland hart gegen Kritiker vorgehen.

Sollte Haftar an die Macht kommen, würde er wie seine Verbündeten in Ägypten und Russland hart gegen Kritiker vorgehen. Amnesty International und Human Rights Watch warnen seit Jahren vor dem immer brutaleren Vorgehen gegen Oppositionelle und Zivilgesellschaft und kritisieren die fehlende Rechenschaftspflicht für die Kriegsverbrechen im Land. Haftars Machtübernahme wäre deshalb eine ernsthafte Bedrohung für Frieden und Menschenrechte in Libyen und könnte Europas Bemühung um Stabilität in der Region untergraben.

Die deutsche und europäische Politik in Libyen ist derzeit nur reaktiv und es mangelt an einer langfristigen Strategie. Die bedingungslose Unterstützung der Regierung Dbeibahs ist problematisch. Die aktuelle Krise sollte genutzt werden, um Druck auf die Einheitsregierung und auf blockierende Akteure auszuüben, um schnellstmöglich Wahlen zu organisieren – als Voraussetzung für weitere Unterstützung und Anerkennung. Neben den diplomatischen Bemühungen sollten Deutschland und die EU unmissverständlich klarstellen, dass eine gewaltsame Machtübernahme durch Haftar und seine Verbündeten ernsthafte Konsequenzen hätte. Ein Abschreckungsplan sollte gezielte wirtschaftliche Sanktionen gegen die Verantwortlichen sowie Gerichtsverfahren gegen Kriegsverbrecher umfassen.