Die deutsche Israelpolitik ruht auf zwei Säulen: einerseits auf einer spezifischen historischen Verantwortung, die aus der Schoah erwächst, und andererseits auf universalistischen Prinzipien deutscher Außenpolitik wie Völkerrecht und Menschenrechten sowie auf der Orientierung an demokratischen Prinzipien und Friedenspolitik. Zwischen diesen beiden Säulen herrscht eine gewisse Spannung, die insbesondere im letzten Jahrzehnt zugenommen hat. Israelische Politiken, wie der umfassende Siedlungsbau, die Legalisierung der selbst nach israelischem Recht illegalen Außenposten oder die Debatte, ob man weite Teile oder sogar das ganze Westjordanland annektieren solle, standen zunehmend im Widerspruch zu den universalistischen Prinzipien deutscher Außenpolitik. Dies erzeugte eine zunehmende Dissonanz. Diese gipfelte mit dem Antritt der aktuellen israelischen Regierung, die im ersten Satz ihres Koalitionsvertrags einen Anspruch auf das ganze Land westlich des Jordanflusses erhebt und die in ihrem angestrebten Umbau der Justiz dem Parlament absolute Machtfülle geben wollte. Damit wurde die Kluft zwischen der Verpflichtung Deutschlands für Israel und den allgemeinen Leitlinien deutscher Außenpolitik so groß wie noch nie zuvor.

Diese Situation änderte sich am 7. Oktober: Die in diesem Konflikt präzedenzlosen Terrorattacken und die Geiselnahmen durch die Hamas drängten die Differenzen zur israelischen Regierung in den Hintergrund. Der israelische Schriftsteller Amos Oz hat in seinem Buch Deutschland und Israel sinngemäß geschrieben, Deutschland könne Israel kritisieren wie jedes andere Land auch. Aber im Rahmen einer existenziellen Bedrohung müsse Deutschland an Israels Seite stehen. Man kann durchaus argumentieren, dass der 7. Oktober ein solcher Moment war.

Wenn die Begriffe „historische Verantwortung“, „Freundschaft“ oder auch „Staatsräson“ nicht inhaltsleer sein sollen, war und ist es angebracht, sich mit Israel angesichts dieser Terrorattacken solidarisch zu zeigen. Dies gilt umso mehr, als Teile der Welt – insbesondere im sogenannten Globalen Süden – diese Massaker nicht verurteilten oder im Extremfall noch verteidigten. Internationale Wellen hat etwa die Erklärung von zahlreichen Studierendenorganisationen der Harvard-Universität geschlagen, die Israel die Alleinschuld für die Attacken der Hamas zuweist.

Seitdem sind mehr als vier Monate vergangen, in denen Krieg im Gazastreifen herrscht(e). Ein Krieg, dessen Motivation nachvollziehbar ist, denn ein Land muss sich gegen Angriffe dieser Art schützen können. Es ist auch ein Krieg, der denkbar schwierig zu führen ist, da sich die Hamas in Gaza 20 Jahre lang in einem weitverzweigten Tunnelsystem eingraben konnte und gezielt zivile Infrastrukturen und menschliche Schutzschilde nutzt. Laut eigenen Aussagen ist sie bereit, eine enorme Anzahl ziviler Opfer in Kauf zu nehmen.

Große Teile des Gazastreifens sind wohl auf lange Zeit nicht mehr bewohnbar.

Gleichwohl kann es für deutsche Entscheidungsträgerinnen und -träger nicht egal sein, welche Ziele in diesem Krieg verfolgt werden und wie dieser Krieg geführt wird. Es zeichnet sich ein verheerendes Bild ab: Es gibt fast 30 000 Tote, mehr als 1,5 Millionen Binnenvertriebene, eine krasse humanitäre Notlage und die massive Zerstörung von ziviler Infrastruktur. Schätzungen gehen davon aus, dass zwischen 60 und 70 Prozent der Wohneinheiten zerstört oder stark beschädigt sind. Große Teile des Gazastreifens sind wohl auf lange Zeit nicht mehr bewohnbar. Angesichts dieses Ausmaßes sprach selbst Joe Biden von „willkürlichen Bombardements“ und davon, dass die Zahl der getöteten Unschuldigen zu groß sei und dies aufhören müsse.

Diese massive Zerstörung muss zudem im Kontext dessen gesehen werden, dass es zu diesem Zeitpunkt unklar ist, ob und wie die beiden zentralen Kriegsziele – den militärischen Flügel und die Führung der Hamas unschädlich zu machen sowie die Geiseln zu befreien – militärisch erreicht werden können. Zudem weigert sich die israelische Regierung, sich über Nachkriegsszenarien zu unterhalten, die irgendeine Form eines politischen Horizonts für die Palästinenser enthalten. Vielmehr drängen führende Stimmen wie Verteidigungsminister Joaw Galant und jüngst auch Ministerpräsident Benjamin Netanyahu darauf, dass der Wiederaufbau zwar international geleistet werden solle, alle anderen Fragen – auch wer Gaza regiere – solle man Israel überlassen. Netanyahus Papier betont zudem, dass Israel die Kontrolle über alle Gebiete westlich des Jordans, inklusive Gazas, behalten müsse.

Ohne politische Alternative wird die Hamas wieder an die Macht kommen.

Dabei hat der Ansatz gegenüber Gaza auch mit dem spezifischen Charakter dieser historisch rechtesten, in Teilen rechtsextremen israelischen Regierung zu tun. Zwar spielen sicherheitspolitische Überlegungen eine zentrale Rolle, gleichzeitig ist die Regierungspolitik aber beeinflusst von ideologischen Hardlinern, die keine humanitäre Hilfe in den Gazastreifen lassen wollen, permanent von einer Wiederbesiedlung reden und eine Vertreibung der Palästinenser anstreben. Auch Netanyahu selbst erschwert Lösungen: Es ist nicht nur sein politischer Überlebenskampf, der ihn radikale Stimmen tolerieren lässt; vielmehr sind es auch seine eigenen Überzeugungen, die einen politischen Horizont für die Palästinenser verhindern. Dabei betonen auch israelische Militäranalysten, dass ohne politische Alternative die Hamas wieder an die Macht kommen wird.

All das muss eine deutsche Politik viel stärker einbeziehen. Trotz der notwendigen Solidarität kann es keinen Blankoscheck für Israels Kriegsführung, die politische Verweigerungshaltung und die mitunter offen zur Schau gestellte Radikalität von Teilen der israelischen Regierung geben. Vielmehr müssen eine Analyse und eine Bewertung der Situation auch vor dem Hintergrund eigener Werte und Überzeugungen geschehen.

Denn ein guter Freund kann nur sein, wer einen eigenen Standpunkt hat. Das soll keine Aufforderung sein, „Israelkritik“ unter dem Deckmantel des Freundschaftsbegriffs auszuüben, sondern vielmehr ein Aufruf zur Rückbesinnung auf die fundierenden Werte der deutschen Außenpolitik. Diese müssen auch in der Wahrnehmung der historischen Verantwortung eine Rolle spielen. Nur so gewinnt sie eine Bedeutung, die auch selbstreflexiv ist und nicht nur der israelischen Politik das Wort redet. Sie läuft andernfalls Gefahr, zu einer Israelpolitik zu werden, die dem folgt, was ein konservativer Journalist mal als Leitlinie ausgegeben hat: „U-Boote liefern, Klappe halten.“

Die Aufrufe unterschiedlicher Vertreterinnen und Vertreter der deutschen Regierung, das humanitäre Völkerrecht einzuhalten und den Zugang für humanitäre Hilfe substantiell zu verbessern, verpufften weitestgehend im Verlauf des Kriegs. Zu anderen Streitfragen, etwa zur Art der Kriegsführung oder auch zu den zahlreichen Aussagen israelischer Ministerinnen und Minister, die selbst der israelische Richter Aharon Barak am Internationalen Gerichtshof als „Anstachelung zum Völkermord“ einstufte, erfolgt kaum eine klare Stellungnahme von offizieller deutscher Seite. Selbst Joe Biden war hier viel deutlicher. Es fehlen Aussagen, die nicht im Diplomatendeutsch untergehen. Jüngst hat Außenministerin Annalena Baerbock erste Schritte dahingehend unternommen, als sie vor einer humanitären Katastrophe bei einem Einmarsch in Rafah warnte.

Die deutsche Politik erscheint im aktuellen Konflikt oftmals widersprüchlich.

Zudem erscheint die deutsche Politik im aktuellen Konflikt oftmals widersprüchlich: Einerseits wird die humanitäre Hilfe im Gazastreifen vervielfacht, andererseits gilt das auch für die Waffenlieferungen an Israel. Laut Medienberichten diskutiert die Koalition auch eine Lieferung von Panzermunition an Israel. Das wäre nicht nur eine Abkehr von der lange geltenden Leitlinie für den Rüstungsexport nach Israel („was schwimmt, geht“ – als Zeichen dafür, die Besatzung nicht zu unterstützen), es wirkt auch so, als ob die beiden Sachverhalte nichts miteinander zu tun hätten.

Auch gegenüber den Positionen der israelischen Regierung scheint es keinen klaren Faden zu geben: Einerseits verurteilt die Bundesregierung eine Veranstaltung der politischen Rechten, bei der eine Wiederbesiedlung des Gazastreifens gefordert und eine Vertreibung der Palästinenser insinuiert wird, „auf das Schärfste“. Andererseits plante ein deutscher Minister, auf einer Veranstaltung zu sprechen, auf der auch der israelische Diasporaminister Amichai Chikli prominenter Redner sein sollte. Letzterer war einer der bekanntesten Teilnehmer auf eben jener israelischen Konferenz, die von Deutschland verurteilt wurde. Deutsche Politik muss hier klare Zeichen in Bezug auf ihre eigenen roten Linien setzen. Selbst wenn Chikli letztlich von den Veranstaltern wieder ausgeladen wurde: Man kann nicht im Namen der historischen Verantwortung den Radikalismus hofieren.

All das wird auch international genau beobachtet. Spricht man mit ausländischen Diplomaten, bekommt man oft zu hören, dass man nachvollziehen kann, dass Israel in Deutschland eine Sonderrolle hat. Aber das Ausbleiben jeglicher Kritik an Israels Kriegsführung führt zu Unverständnis. Immer wieder wird betont, dass Deutschland gegenüber anderen Staaten die Bedeutung von Völkerrecht und Menschenrechten hervorhebt, aber in Bezug auf Gaza dazu wenig zu sagen hat. Um nicht falsch verstanden zu werden: Das soll nicht heißen, dass man anderen Ländern das Wort reden muss, die – wie etwa im Falle Südafrikas – eine historisch-ideologisch geprägte Ablehnung Israels pflegen. Aber wenn es nicht gelingt, die historische Verantwortung mit Deutschlands außenpolitischen Grundlagen zu verbinden, verlieren beide Aspekte an Überzeugungskraft und mit ihnen die deutsche Außenpolitik.

Deutsche Außenpolitik muss sich ehrlich machen: Das Prisma der historischen Verantwortung für den Staat Israel kann und soll Teil deutscher Israelpolitik sein – gerade nach dem 7. Oktober. Aber dieses Prisma alleine kann ja nicht anders als blind sein für Israel als Akteur im Konflikt, als Akteur in diesem Krieg. Und daher ist es notwendig, dass die universalistische Säule deutscher Außenpolitik viel stärker zum Tragen kommt – ansonsten verliert Deutschland nicht nur international an Glaubwürdigkeit, sondern auch ein Stück weit die eigene Integrität.