Im Oktober 2017 lagen die letzten großen Proteste im Iran lange zurück. Die internationale Gemeinschaft interessierte vor allem das Nuklearabkommen und ein Systemwechsel schien nach dem Ende der Grünen Bewegung 2009 sowie spätestens seit der Wahl des moderaten Präsidenten Rouhani 2013 in weiter Ferne. Dennoch bestand die Gruppe Studierender, mit denen ich über politische Prozesse sprechen wollte, empört darauf, dass der Iran alles andere als ein friedliches Land sei. Es drohe vielmehr, entlang sozialer, politischer und ethnischer Konflikte auseinanderzubrechen. Gerade einmal zwei Monate später wurden ihre Prophezeiungen Realität: Im Dezember desselben Jahres brachen die damals größten Proteste seit 2009 aus, die einige der radikalsten Forderungen gegenüber dem politischen System erhoben und die von den ärmsten Schichten getragen wurden, welche lange eher zur Unterstützerbasis des Regimes zählten.
Der Iran kam seitdem kaum zur Ruhe. Zwar wurden die ersten Proteste bereits im Frühjahr 2018 niedergeschlagen, aber im Laufe des Jahres streikten Kurdinnen und Kurden im Westen des Landes ebenso wie die Basare in den Großstädten. Daneben protestierten Lehrerinnen und Lehrer für bessere Löhne, Frauen gegen das Kopftuch sowie Landwirte wegen der Wasserkrise. Im August 2019 verkündete der iranische Innenminister, dass die Anzahl der Proteste um 38 Prozent gesunken sei. Selbst nach offiziellen Angaben der Regierung konnten die Proteste also auf einem hohen Niveau aufrechterhalten werden – trotz Sanktionen und Repressionen. Und selbst die brutale Antwort auf die Proteste im November 2019, gefolgt von der Corona-Pandemie, konnte diese nur für eine kurze Zeit verhindern. Bereits 2021 kam es zu großen Umwelt- und Sozialprotesten.
Die aktuellen Proteste speisen sich aus diesem Unmut, der seit Jahren gärt. Und auf den die Regierung mal um mal keine politische Antwort findet. Selbst das Zeitfenster, das sie durch die Covid-19-Restriktionen erhielt, nutzte die iranische Führung nicht, um die Wurzeln dieser Konflikte anzugehen. Stattdessen setzte sie mit der Marginalisierung moderater Kräfte in den Wahlen 2020 und 2021 auf einen noch restriktiveren Kurs, der insbesondere bei den Hijab-Regeln Öl ins Feuer goss – waren es doch die konservativen Kräfte, die die Befugnisse der Sittenpolizei ausweiteten und die verhassten Kontrollen im Alltag besonders rigide auslegten.
Die Regierung hat sich selbst in die Ecke gedrängt.
Die politische Führung setzt seit Jahren auf Geschlossenheit angesichts des Drucks auf der Straße. So zog sie ihre Lehren aus der Grünen Bewegung 2009, als sich Teile der Eliten den Protesten anschlossen: Auf keinen Fall Uneinigkeit des inneren Zirkels riskieren. Diese Rigidität geht auf Kosten der Flexibilität im Umgang mit Protestierenden, denn wer soll glaubhaft einen Kurswechsel verkörpern? So fielen die Äußerungen des Justizchefs Gholam-Hossein Mohseni Ejei, dass es Zeit für Gespräche sei, auf wenig fruchtbaren Boden.
Immerhin gilt er seit langem als Hardliner, der für einen besonders restriktiven Kurs gegenüber Oppositionellen steht. Und tatsächlich: Gerade einmal drei Tage später war von der angekündigten Kritikbereitschaft wenig übrig, stattdessen forderte er strenge Strafen für inhaftierte Protestierende. Die Regierung hat sich so selbst in die Ecke gedrängt: Wenn Hardliner Kompromissbereitschaft zeigen, wirkt es wie Schwäche, wenn Moderate das tun, wirken ihre Zugeständnisse unglaubwürdig, weil es zeigt, dass sie selbst nur noch wenig Einfluss haben.
Ebenso rächt sich, dass das politische System seit Jahren jeden Versuch einer landesweiten Organisation unterbindet. Nach 2009 wurden Anführerinnen und Anführer, reale wie vermeintliche, verhaftet, unter Hausarrest gestellt oder in die Flucht getrieben. Politische Organisationen, die landesweite Strukturen aufbauten, wurden schnell verfolgt und in die Illegalität getrieben. Das verhinderte aber nicht, dass sich eine Oppositionsbewegung formierte. Diese organisierte sich lediglich lokal, unterhalb der Aufmerksamkeitsschwelle der Regierung. Und wenn Proteste eine kritische Masse erreichten, wie es 2017 und 2019 geschah und wie es derzeit geschieht, kamen diese sehr unterschiedlichen Gruppen zusammen, vereint in ihrer Ablehnung des Regimes.
Es fehlt eine Führung, mit der das Regime nun verhandeln könnte.
Solche dezentralen Mobilisierungen waren sehr erfolgreich, weil sie nur schwer zu unterdrücken sind. Es fehlt aber eben auch eine Führung, mit der das Regime nun verhandeln könnte, oder einfache Forderungen, die es aufgreifen könnte, um den Protestierenden entgegenzukommen. Die Wut auf das System hat zahlreiche Ursachen – diese müsste das Regime zeitgleich adressieren, um die Proteste zu besänftigen, eine kaum zu bewältigende Aufgabe. Dass die Protestierenden sich nur schwer koordinieren konnten, um landesweite Proteste zu initiieren, heißt jetzt auch, dass sie nur schwer beschließen können, die Proteste auch wieder zu beenden. Das schränkt die Handlungsoptionen des Regimes stark ein: Es kann entweder abwarten, Gewalt anwenden, oder versuchen, die Proteste zu spalten.
Noch ist unklar, wie die Proteste ausgehen. Es mehren sich Berichte, dass Sicherheitskräfte erschöpft und wenig motiviert seien, vereinzelt dringt auch Kritik aus dem inneren Kreis nach außen. Das Gewaltpotenzial des Staates bleibt aber enorm, und die Bevölkerung ist auch aufgrund der Sanktionen in den letzten Jahren stark verarmt. Für eine breite Streikbewegung etwa, die die Regierung kaum aussitzen könnte, fehlen vielen schlicht die finanziellen Mittel. Gut denkbar also, dass früher oder später finanzielle Nöte Teile der Protestierenden dazu zwingen, wieder zum Alltag zurückzukehren.
Die Vergangenheit zeigt aber auch: Solche durch Not und Gewalt erzwungenen Ruheperioden halten nicht lange an. Selbst wenn die Proteste unterdrückt werden sollten, kommen sie wieder, solange die zugrunde liegenden politischen Probleme nicht behoben werden. Dafür fehlt dem Regime aber seit Jahren der Wille – und mit ihrem stark dezimierten politischen Kapital und den finanziellen Problemen der letzten Jahre zunehmend auch die dafür notwendigen Mittel. Ohne politische Antworten auf die zahlreichen Probleme kommen die Proteste aber früher oder später zurück. In den letzten Jahren taten sie das stets in kurzer Zeit – jedes Mal radikaler, größer und mit mehr Wucht. Gewalt alleine schreckt sie jedenfalls schon lange nicht mehr ab.