Ohne Jerusalem keine Wahlen: Dieses Mantra wurde von vielen hochrangigen Amtsträgern in der Palästinensischen Autonomiebehörde zuletzt täglich vorgetragen, deshalb war es keine große Überraschung, dass der palästinensische Präsident, Mahmoud Abbas, am Donnerstagabend die für den 22. Mai angesetzten Parlamentswahlen vorerst auf unbestimmte Zeit verschoben hat. „Bis wir in Jerusalem wählen dürfen“, verkündete er.

Die Enttäuschung und die Wut unter den Palästinenserinnen und Palästinensern sind dennoch groß. Es hätten die ersten Wahlen seit 2006 werden sollen. Die israelischen Behörden hatten sich zwar öffentlich weder positiv noch negativ geäußert, im Vorfeld jedoch Kandidaten in Ost-Jerusalem verhaftet und eine Veranstaltung zur Wahl demonstrativ von der Polizei auflösen lassen und Teilnehmerinnen und Teilnehmer abgeführt.

Die Palästinenser im von Israel 1967 besetzten und in der Folge annektierten Ost-Jerusalem sind, mit sehr wenigen Ausnahmen, bis heute keine israelischen Staatsbürger und dürfen daher in Israel nicht wählen. Im Rahmen der während des Friedensprozesses der 1990er Jahre verhandelten Oslo-Verträge hatten sich Israel und die Palästinensische Befreiungsorganisation darauf geeinigt, dass die Palästinenserinnen und Palästinenser in Ost-Jerusalem an den Wahlen für die Palästinensische Autonomiebehörde teilnehmen dürfen.

Als geplante Hauptstadt eines palästinensischen Staates, wenn man den internationalen Konsens einer Zweistaatenlösung zugrunde legt, hat das Recht auf Wahlen in Ost-Jerusalem vor allem einen symbolischen Charakter. Denn auf die Lebensrealität der Palästinenser dort hat die Palästinensische Autonomiebehörde keinerlei Einfluss.

Die Palästinensische Autonomiebehörde, die lediglich die Verwaltung in den urbanen Zentren des Westjordanlandes verantwortet, ist alles andere als, wie ihr Name suggeriert, autonom.

Dies gilt allerdings auch für einen Großteil der restlichen Gebiete des Westjordanlandes sowie den seit 2007 von der Hamas kontrollierten Gazastreifen. Die Palästinensische Autonomiebehörde, die lediglich die Verwaltung in den urbanen Zentren des Westjordanlandes verantwortet, ist alles andere als, wie ihr Name suggeriert, autonom. In fast allen Bereichen muss sich die Autonomiebehörde mit Israel koordinieren, um nicht zu sagen: die Besatzungsmacht um Erlaubnis bitten. Wie jetzt im Fall der geplanten Wahlen.

Die Autonomiebehörde, und mit ihr die Regierungspartei Fatah, hat in dieser Rolle massiv an Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung eingebüßt. Sie hat es nicht vermocht, seit ihrer Einrichtung im Jahr 1994 die Palästinenserinnen und Palästinenser näher an ihr Ziel eines eigenen Staates, der auch diesen Namen verdient, heranzuführen.

Im Gegenteil, seit den Oslo-Verträgen Anfang der 1990er Jahre hat Israel seine Siedlungen im Westjordanland kontinuierlich ausgebaut und seinen Anspruch auf das gesamte Land zwischen Jordanfluss und Mittelmeer buchstäblich zementiert. Die Siedlungen mit nunmehr circa 650 000 Siedlern ziehen sich wie ein Netz durch das gesamte Westjordanland und Ost-Jerusalem und nehmen den Palästinensern die Bewegungsfreiheit und Entwicklungsmöglichkeiten.

Deswegen glauben nunmehr vor allem noch Außenstehende an das Ziel einer Zweistaatenlösung. Viele Palästinenserinnen und Palästinenser hätten zwar gerne einen eigenen Staat, sehen in dem Festhalten an dem Prinzip der Zweistaatenlösung mittlerweile aber vor allem ein Hindernis, die bestehende Einstaatenrealität, in der die einen zivile Rechte genießen, die anderen jedoch unter drakonischem Militärrecht leben, als solche zu begreifen.

Nach 53 Jahren könne man die Besatzung kaum mehr als temporär verstehen. Die Idee einer Zweistaatenlösung sei Augenwischerei und verhindere den Blick auf die Menschenrechtsverletzungen, die in einem solchen Rahmen als vorübergehendes Übel verharmlost würden. Palästinensische Analysten und Nichtregierungsorganisationen sprechen schon lange von der palästinensischen Lebensrealität als „Apartheid“, eine Bezeichnung, die in Deutschland im Zusammenhang mit Israel immer noch als Tabu gilt.

Nach 53 Jahren könne man die Besatzung kaum mehr als temporär verstehen.

In Israel ist das anders, da haben schon vor Jahren und Jahrzehnten Regierungschefs wie Ehud Barak und Ehud Olmert oder der ehemalige Mossad-Chef Meir Dagen davor gewarnt, dass sich Israel in einen Apartheidstaat verwandele. Diese Bezeichnung wurde Anfang des Jahres auch von der größten israelischen Menschenrechtsorganisation B’tselem in einem aufsehenerregenden Bericht übernommen.

Aufsehen erregte in der letzten Woche nun auch Human Rights Watch. Das internationale Schwergewicht der Menschenrechtsorganisationen nahm die Apartheiddefinition des Rom-Statuts zur Grundlage und deklinierte diese minutiös auf 213 Seiten für Israel/Palästina durch. Das Ergebnis: Die Situation dort stelle Verbrechen gegen die Menschlichkeit unter anderem in Form von Apartheid dar.

In diesem Klima hatte die Palästinensische Autonomiebehörde vielleicht eine letzte Chance zu beweisen, dass sie doch noch nicht am Ende ist, dass sie sich demokratisch legitimieren kann und vielleicht doch noch den Grundstein eines palästinensischen Staates legen könne, sollte sich der politische Wille in Israel vielleicht einmal drehen. Aktuell unterstützen nur wenige Knesset-Abgeordnete die Idee einer Zweistaatenlösung im Sinne diverser UN-Resolutionen. Viele wehren sich sogar vehement dagegen.

So frustriert die Palästinenser mit ihrem Leben unter der Besatzung und mit der Performance der Autonomiebehörde sind. Sie waren bereit, ihr noch eine Chance zu geben. 93 Prozent der Wählerinnen und Wähler hatte sich zur Wahl registriert, fast 75 Prozent wollten auch zur Wahl gehen. 36 Kandidatenlisten hatten sich trotz hoher Auflagen für die Wahl aufgestellt.

Die Palästinenserinnen und Palästinenser haben es satt, per präsidialen Dekreten regiert zu werden oder von der islamistischen Hamas im Gazastreifen. Auch hatten viele von ihnen die Hoffnung, dass sich über die Wahlen ein Ende der seit 2007 bestehenden politischen Teilung zwischen dem von der Fatah regierten Westjordanland und dem von der Hamas regierten Gazastreifen ergeben könnte.

Auch die Amerikaner haben keine rühmliche Rolle gespielt.

Viele politische Bewegungen wie etwa die sozialdemokratische Palestinian National Initiative forderten dann auch, die Wahlen auf jeden Fall durchzuführen, egal ob Israel sein explizites Einverständnis gebe oder nicht. Warum solle man Israel um Erlaubnis fragen, um sein Recht auf demokratische Wahlen auszuüben?

Die Palästinensische Autonomiebehörde und vor allem die sie dominierende Partei Fatah zahlen einen hohen Preis für die Verschiebung, die derzeit eher wie eine Absage aussieht. Die Behörde sei halt doch nur ein Lakai der israelischen Besatzung, hört man jetzt immer wieder. Und das gewichtige Symbol Jerusalem kann auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es zentrale Figuren um den palästinensischen Präsidenten gab, die an Wahlen kein Interesse hatten, weil sie um ihre Macht fürchteten.

Auch die Amerikaner haben keine rühmliche Rolle gespielt. Auch um ihnen zu gefallen und nach Jahren der diplomatischen Feindschaft während der Präsidentschaft Donald Trumps die USA wieder für sich zu gewinnen, hatten die palästinensischen Fraktionen sich schnell nach der Wahl Bidens aufgerafft und auf Wahlen geeinigt.

Nun aber zeigten sich die Amerikaner auffallend wortkarg. Im Gegensatz zur Europäischen Union und zu einigen ihrer Mitgliedsstaaten gab es aus den USA keine ermunternden Worte zur geplanten Wahl und erst recht keine mahnenden Worte an die israelische Regierung, Wahlen auch in Ost-Jerusalem zuzulassen.

Ja, die Biden-Regierung hat ihre Nahost-Politik noch nicht ganz sortiert. Ja, Israel tut sich gerade wieder einmal schwer, auch nach den vierten Wahlen innerhalb von zwei Jahren, eine Regierung zu bilden – und da will man als USA jetzt nicht dazwischenfunken. Aber dieses Zögern, wenn nicht Ermuntern, die Wahlen zu verschieben, könnte sich noch als entscheidende Hypothek herausstellen für das, was auch die Biden-Regierung wieder als den Heiligen Gral deklariert hat: eine Zweistaatenlösung.

Die Mehrheit der Palästinenser hat den Glauben an ihre Führung und an von außen herangetragene „Lösungen“ verloren. Sie stellen sich auf einen langen Kampf für ihre Rechte ein, Rechte, die von der israelischen Besatzung, aber auch von ihrer eigenen Führung missachtet werden.