Der demokratische Wandel in Tunesien, der in der arabischen Welt als Symbol der Hoffnung galt, hat seinen Glanz verloren. Seit Präsident Kais Saied am 25. Juli 2021 die uneingeschränkte Macht übernahm, wurde das gesamte institutionelle Gefüge, das aus der Verfassung von 2014 hervorgegangen war, beunruhigend schnell und mühelos aufgelöst: unabhängige Instanzen, Parlament, Gebietskörperschaften – das alles gibt es nicht mehr. Noch bemerkenswerter ist, dass es Kais Saied – der 2019 mit überragender Mehrheit ins Amt gewählt wurde – gelang, gleich eine ganze Methode der Machtausübung abzuschaffen, die auf den Dialog zwischen intermediären Institutionen und Zivilgesellschaft setzte und beide sowohl in die öffentliche Politik als auch in die Umsetzung von Gesetzen einbezog.
Am Frappierendsten ist, dass dieser Systembruch ohne nennenswerten Widerstand durchgesetzt werden konnte. Das steht im Kontrast zu den hitzigen Debatten nach der Revolution, in denen vor allem darum gerungen wurde, dass in der Verfassung von 2014 Rechte und Freiheiten fest verankert werden. Diesmal blieben die diversen Appelle der politischen Opposition, auf die Straße zu gehen und zu demonstrieren, verhalten. Die Proteste der Zivilgesellschaft fanden keine Beachtung und kamen über symbolische und wirkungslose Kommuniqués nicht hinaus. Wie ist diese Lethargie zu erklären, obwohl die tunesische Gesellschaft doch nach Meinung vieler Beobachter genügend „demokratische Antikörper“ gebildet hatte, um zu verhindern, dass ihr Land erneut in Richtung Autoritarismus abdriftet?
Der Systembruch konnte ohne nennenswerten Widerstand durchgesetzt werden.
Inzwischen setzt sich immer mehr die Ansicht durch, der „Prozess des 25. Juli“ (eine Umschreibung für alle Maßnahmen, die Saied seit dem 25. Juli 2021 ergriffen hat) sei nur möglich gewesen, weil es keine deutliche Reaktion der „Demokraten“ darauf gegeben habe, was Saied am Abend dieses Tages verkündete. Die Zaghaftigkeit und Zögerlichkeit oder auch die kritische Unterstützung für den Ausnahmezustand, den Saied unter Berufung auf Artikel 80 der Verfassung ausrief, hätten ihn dorthin gebracht, wo er heute stehe. Der Grund für diesen Irrweg sei die „obsessive Feindseligkeit“ eines Teils der politischen und intellektuellen Elite gegenüber der islamistischen Ennahdha-Partei, die im Parlament über eine relative Mehrheit verfügte und an allen Regierungen seit 2011 direkt oder indirekt beteiligt war. Diese Analysen des Geschehens zeugen von Realitätsverweigerung. Sie stützen sich auf eine Tendenz, die in bestimmten politisch-intellektuellen Kreisen durchaus vorhanden ist, überschätzen aber ihre Bedeutung für die aktuelle Situation.
Der Abend des 25. Juli 2021 hätte auch anders verlaufen können. Nehmen wir zum Beispiel an, nach Saieds Rede, in der er den Ausnahmezustand ausrief und die Suspendierung des Parlaments verkündete, hätten alle Oppositionsparteien, Gewerkschaften und zivilgesellschaftlichen Vereinigungen an einem Strang gezogen. Sie hätten eine Wiedereinsetzung der Institutionen gefordert und deutlich gemacht, dass sie die Entscheidungen des Präsidenten radikal ablehnen. Hätten die Machtverhältnisse sich dadurch grundlegend verändert? Wären die Tunesierinnen und Tunesier zu Zehntausenden auf die Straße gegangen, um die Verfassung zu verteidigen? Oder hätte die Bevölkerung an diesem Abend einfach nur gefeiert? Am 25. Juli war es jedenfalls schon zu spät, um den Lauf der Ereignisse aufzuhalten und einen anderen Weg einzuschlagen. Aufgrund verschiedener Fehlentwicklungen und struktureller Tendenzen, die Tunesiens Landschaft geprägt haben, waren die Bedingungen für den „Erfolg“ des Kurswechsels schon gegeben.
Wer die Fehlurteile der politischen Elite Tunesiens aufzeigen will, muss sich an die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen im Oktober 2019 erinnern.
Wer die Fehlurteile der politischen Elite Tunesiens aufzeigen will, muss sich an die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen im Oktober 2019 erinnern. Ob aus politischem Opportunismus oder aus echter Opposition zum Gegenkandidaten Nabil Karoui – die fast einstimmige Unterstützung für Saied verschaffte ihm einen Vertrauensvorschuss und eine Legitimität, auf der sein Vorgehen bis heute aufbaut. Dass er für die Verwirklichung seiner Utopie einen politischen Regimewechsel anstrebe, hatte Saied allerdings mehrfach offen erklärt.
Zudem wollte er dieses Vorhaben in die Tat umsetzen, ohne über Abgeordnete in der Nationalversammlung zu verfügen. Mit einer gewissen Arroganz ging man damals davon aus, dass sein Plan an diesem Paradoxon scheitern werde. Doch genau hier lag die Gefahr: Mit seinem Vorgehen demonstrierte Saied, dass er sich nicht an die institutionellen Spielregeln halten werde, die 2014 in der Verfassung festgeschrieben worden waren, und dass er sie nicht als legitime Grundlage anerkennt.
Politische Entscheidungsträger und Zivilgesellschaft glaubten, das Jahr 2014 markiere das Ende der Geschichte.
Sowohl politische Entscheidungsträger und Zivilgesellschaft als auch die ausländischen Beobachter und Beobachterinnen glaubten, das Jahr 2014 markiere das Ende der Geschichte. Das erwies sich jedoch als tragische Fehleinschätzung. Ein Großteil der Eliten verschanzte sich mental in einem Narrativ, nach dem ihre Verfassung unumstößlich und außerhalb dieses Rahmens keine Alternative vorstellbar sei. Aus diesem Grund nahmen viele Kais Saieds Rede im Jahr 2019 nicht ernst und begrüßten seine Wahl, obwohl er unverblümt in Aussicht stellte, dass er das Ruder herumreißen und einen radikalen Bruch mit der bestehenden Ordnung herbeiführen werde.
Die wichtigsten Spitzenpolitiker versuchten, auf der populistischen Welle zu reiten, und merkten nicht, dass diese Welle sie überrollen würde. Sie hätten den „neuen starken Mann“ auf der politischen Bühne ernst nehmen, ihn mit allem Respekt als Gegner behandeln und nicht glauben sollen, sie könnten ihn in ihr Lager ziehen. Schon nach den Ergebnissen der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen hätten sie sich kritisch zu Wort melden und zur Wahlenthaltung aufrufen müssen. Dadurch wäre ihre spätere Kritik an Saied glaubwürdiger geworden und hätte mehr Gehör gefunden. Stattdessen empfanden die Bürgerinnen und Bürger die zahlreichen Warnungen (vor allem seitens der Ennahdha-Partei) nur als opportunistische Heuchelei.
Die tunesischen Parteien ähneln heute eher Kaderverbänden und sind keine Volksparteien.
Neben den Fehleinschätzungen der politischen Elite gibt es für die jetzige Situation noch einige andere Erklärungen, die mit grundsätzlichen Entwicklungen zu tun haben: Erstens sind die politischen Parteien extrem schwach, kaum in der Gesellschaft verankert und aufgrund ihrer Misserfolge in Regierungsverantwortung diskreditiert. Die tunesischen Parteien ähneln heute eher Kaderverbänden und sind keine Volksparteien mit einer soliden Basis von Aktivistinnen und Aktivisten, die das politische Feld beackern und die Menschen mobilisieren könnten.
Zweitens ist die Zivilgesellschaft aufgrund mehrerer aufeinanderfolgender Rückschläge demotiviert und geschwächt (die Empfehlungen der Kommission für individuelle Freiheit und Gleichheit, kurz COLIBE, wurden nicht umgesetzt und die Zivilgesellschaft hat es nicht geschafft, auf Saied und die Entscheidungen nach dem 25. Juli Einfluss zu nehmen). Die einzige ernst zu nehmende Gegenkraft ist allem Anschein nach der mächtige Gewerkschaftsbund (Union Générale Tunisienne du Travail). Die UGTT hat inzwischen eine neue Initiative gestartet, um einen nationalen Dialog mit anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen in Gang zu bringen, wird aber von der herrschenden Macht bislang ignoriert.
Jetzt kommt es dringend darauf an, die Rechte und Freiheiten zu verteidigen.
Drittens findet etwa seit 2014 eine starke Entpolitisierung der gesamten tunesischen Gesellschaft statt, die immer weiter voranschreitet und vor allem der Konsensbildung zwischen der säkularen Nidaa Tounes-Partei und der islamistischen Ennahdha-Partei geschuldet ist. Die Spaltung zwischen den beiden Parteien prägt maßgeblich die politische Landschaft Tunesiens. Dass die beiden Parteien, die sich gegenseitig beschuldigt hatten, die tunesische Gesellschaft zu gefährden, sich nun zu einer Regierungskoalition zusammengeschlossen haben, löste sowohl im säkularen als auch im islamistischen Lager einen tiefen Widerwillen aus, dessen schädliche Wirkung unterschätzt wurde. Viele fühlten sich zu Schachfiguren degradiert, die nur den Ambitionen der beiden „Scheichs“ Béji Caid Essebsi und Rached Ghannouchi dienten, den Anführern der beiden Bewegungen. Dass Tunesien sich politisch einigermaßen stabilisierte, hatte seinen Preis: Die Bürgerinnen und Bürger verloren das Interesse an öffentlichen Angelegenheiten und wurden gleichgültig gegenüber der Politik. Dieses Vakuum spielt heute den absolutistischen Bestrebungen in die Hände und ermöglicht den Machthabern ihre Alleingänge.
Jetzt kommt es dringend darauf an, zum einen die Rechte und Freiheiten zu verteidigen. Zum anderen müssen die demokratischen und fortschrittlichen Organisationen, Parteien, Verbände und Gewerkschaften darüber nachdenken, warum sie gescheitert sind, und sich selbst hinterfragen. Vor allem braucht es jedoch echte innerstaatliche Demokratie und einen engagierten Neustart mit jungen und neuen Gesichtern. Außerdem muss man sich ernsthaft und pragmatisch mit den Herausforderungen auseinandersetzen, vor denen Tunesien aufgrund der aktuellen internationalen Entwicklungen steht – die Krise der neoliberalen Globalisierung, Klimawandel, technologische Umwälzungen und ihre Folgen für die Arbeitswelt –, und sich dabei von den ethnozentrischen und stereotypen Erklärungsmustern der letzten Jahre verabschieden.
Aus dem Französischen von Christine Hardung