Die Türkei strebt nach einer bedeutenden Rolle auf der globalen Bühne. „Wer fragt, was die Türkei in Libyen, Syrien und Somalia unternimmt, versteht diese Einsätze möglicherweise nicht. Wir müssen die Mission erkennen und akzeptieren, die uns die Geschichte als Nation zugewiesen hat, und entsprechend handeln“, erklärte Präsident Erdoğan nach dem Sturz von Diktator Baschar al-Assad. Ankara bemüht sich derzeit, seinen Einfluss in verschiedenen Weltregionen auszubauen und das Machtvakuum zu füllen, das die Großmächte hinterlassen haben.

Der Sturz des Assad-Regimes markiert eine tiefgreifende Zäsur für den Nahen Osten. Die Machtübernahme der pro-türkischen Miliz Hayat Tahrir al-Sham (HTS) sowie der von Ankara ausgebildeten Freien Syrischen Armee in Damaskus vollzog sich im Schatten des Nahostkrieges – zu einer Zeit, als die schiitische Achse des Iran durch die israelische Offensive ihre schwerste Niederlage erlitt. In dieser Phase des Konflikts gewährten sowohl die US-Administration unter Präsident Joe Biden als auch das NATO-Hauptquartier der Türkei freie Hand, eine Offensive verbündeter syrischer Oppositionsmilizen gegen das Assad-Regime und dessen Schutzmacht Russland zu unterstützen. Die Schwächung der russischen Militärpräsenz in Syrien war zudem ein erklärtes Ziel ukrainischer Offiziere, die an der Ausbildung hochrangiger HTS-Kommandeure beteiligt waren.

Bereits seit den 1950er Jahren übte Moskau Einfluss auf Damaskus aus und agierte bis zum Ende als Stabilisator des Assad-Regimes. Die HTS-Offensive im Dezember 2024 und die Einnahme von Damaskus führten schließlich zum Zusammenbruch der schiitischen Achse und zwangen Russland, sein logistisches Drehkreuz in der Levante aufzugeben. Kurz nach Assads Sturz trafen der türkische Geheimdienstchef İbrahim Kalın und Katars Geheimdienstchef Halfan al-Kaabi in Damaskus ein, um mit den neuen Machthabern über die politische Zukunft Syriens zu beraten. „Wir empfinden große Nähe und tiefe Dankbarkeit gegenüber der Türkei für ihre Unterstützung“, erklärte HTS-Chef Ahmed al-Shara vor Reportern. Der neue Übergangspräsident fügte hinzu: „Präsident Erdoğan hat Geschichte geschrieben. Das syrische Volk wird immer an der Seite des türkischen Volkes stehen und diese Unterstützung nie vergessen.“ Abschließend betonte er: „Insbesondere Präsident Erdoğan stand stets den Unterdrückten zur Seite und unterstützte nie die Verbrechen in Syrien.“

Seit 2011 verfolgte die Türkei mit ihrer kontinuierlichen Unterstützung der syrischen Opposition nicht nur humanitäre Ziele, sondern auch machtpolitische Interessen. Ankara strebt danach, Syrien in seine Einflusssphäre zu ziehen und durch die Neuordnung des Nahen Ostens zur führenden Macht zu werden. Syrien war über 400 Jahre Teil des Osmanischen Reiches, und die heutige politische Elite der Türkei betrachtet es als historischen Auftrag, verlorene Gebiete in den wachsenden Einflussbereich der türkischen Hegemonie einzugliedern. „Die Türkei ist größer als die Türkei“, erklärte Präsident Erdoğan vor Akademikern des wissenschaftlichen Forschungsrats TÜBİTAK. „Als Nation können wir unseren Horizont nicht auf 782 000 Quadratkilometer beschränken. Die Türkei und die türkische Nation können ihrem Schicksal nicht entkommen und sich auch nicht davor verstecken.“

Der Untergang des Osmanischen Reiches bleibt bis heute ein kollektives Trauma in der Türkei.

Der Untergang des Osmanischen Reiches bleibt bis heute ein kollektives Trauma in der Türkei – ein historischer Verlust, der durch eine machtpolitisch ausgerichtete Außenpolitik kompensiert wird. Der politische Umbruch in Syrien hat Ankara nun in eine geopolitische Position versetzt, die es möglich erscheinen lässt, seinen einst verlorenen Status als führende Macht des Nahen Ostens zurückzuerlangen. Diese Entwicklung sollte die deutsche und die europäische Außenpolitik auf dem Schirm haben.

Trotz schwerer Finanzkrisen, Inflation, Demokratiedefiziten und innenpolitischer Herausforderungen hat die Türkei in den vergangenen zehn Jahren ihren Einfluss in verschiedenen Weltregionen ausgebaut. Ankara unterhält nicht nur zahlreiche Militärbasen im Globalen Süden, sondern bildet auch nationale Armeen in der Terrorismusbekämpfung aus, liefert Drohnentechnologie sowie hochmoderne Rüstungsgüter in Krisengebiete und stärkt mit großen Infrastrukturprojekten, karitativen Hilfsmaßnahmen sowie Bildungsinitiativen seinen Einfluss auf die Gesellschaften vor Ort.

Auch für die türkische Wirtschaft hat Syrien zunehmend an Bedeutung gewonnen. Die Vereinten Nationen schätzen den benötigten Wiederaufbaufonds für das kriegszerstörte Land auf 400 Milliarden Dollar. Türkische Unternehmer und Wirtschaftsexperten sehen darin einen potenziellen Auftragsmarkt von rund 100 Milliarden Dollar – eine Chance, die der angeschlagenen türkischen Wirtschaft neues Wachstum ermöglichen könnte. Besonders türkische Ingenieur- und Architekturbüros rechnen mit umfangreichen Infrastrukturprojekten, darunter der Wiederaufbau von Stromnetzen, Straßen, Brücken, Krankenhäusern und Schulen. Zudem sollen groß angelegte Wohnsiedlungen entstehen, um dem akuten Bedarf an Wohnraum für hunderttausende Menschen gerecht zu werden.

Der Umsturz in Damaskus sorgte auch an der türkischen Börse für einen Höhenflug in Schlüsselbranchen wie Bauwirtschaft, Zementherstellung, Stahlindustrie und Energieversorgung. In den kommenden Jahren wird die Türkei eine zentrale Rolle beim Wiederaufbau Syriens und der groß angelegten wirtschaftlichen Transformation des Landes spielen. Ein weiterer entscheidender Faktor ist die Rückkehr syrischer Flüchtlinge, die bislang überwiegend im türkischen Niedriglohnsektor tätig waren. Sie könnten als Brückenbauer möglicherweise eine Schlüsselrolle in der zukünftigen syrisch-türkischen Kooperation übernehmen.

Die Türkei sieht im neuen Syrien auch eine historische Chance, den jahrzehntelangen Kurdenkonflikt beizulegen und den PKK-Terrorismus, der auch von syrischem Territorium ausgeht, endgültig zu beenden. Um ihren schwindenden Einfluss in Südostanatolien zu kompensieren, schmiedete die regierende AKP im Jahr 2023 eine politische Allianz mit der islamistisch-kurdischen Partei Hüdapar. Diese verfügt über ein weitreichendes Netzwerk innerhalb der sunnitisch-kurdischen Gemeinschaft, das sich bis nach Syrien erstreckt. Präsident Erdoğan besetzte zudem zentrale Positionen in seinem Regierungskabinett mit prominenten kurdischstämmigen Gefolgsleuten – darunter Außenminister Hakan Fidan, Vizepräsident Cevdet Yılmaz und Finanzminister Mehmet Şimşek. Mit dieser Personalstrategie wollte er die Idee einer „osmanischen Einheit“ zwischen muslimischen Kurden und Türken demonstrieren.

Die Türkei sieht im neuen Syrien auch eine historische Chance, den jahrzehntelangen Kurdenkonflikt beizulegen.

Der Machtwechsel in Syrien hat der Türkei nun die Möglichkeit eröffnet, die kurdischen SDF/YPG-Einheiten in Nordsyrien, die als Ableger der Terrororganisation PKK gelten, militärisch zurückzudrängen und sie politisch zu isolieren. Damaskus hat ebenfalls das Ziel, die kurdische SDF/YPG und das Autonomiegebiet Rojava wieder unter staatliche Kontrolle zu bringen. „Die terroristische PKK war in den vergangenen Jahren ein giftiger Dolch im Rücken der syrischen Revolution und ist auch heute noch ein Dolch gegen Syrien“, erklärte Verteidigungsminister Hamada. Die arabische Bevölkerung lehnt die PKK weitgehend ab, da sie in den 1990er Jahren vom Assad-Regime ausgebildet und unterstützt wurde und sich während des syrischen Bürgerkrieges mit dem Regime arrangierte.

Präsident Erdoğan, der derzeit in der Türkei einen neuen Friedensprozess mit den Kurden anstrebt und die PKK zur Niederlegung der Waffen auffordert, konnte in den vergangenen Jahren zahlreiche Verbündete in den Nachbarstaaten für eine gemeinsame Front gegen die PKK und ihre Ableger gewinnen. Nordsyrien bleibt damit aktuell die letzte bedeutende Rückzugsstätte der Organisation.

Hochrangige Beamte aus Ankara begleiten den Integrationsprozess der Milizen in die syrische Armee sowie die Neuordnung der staatlichen Behörden. Weder staatliche Institutionen noch das Militär werden aufgelöst, stattdessen setzt die neue Führung in Damaskus auf einen direkten Dialog mit christlichen Minderheiten, Kurden und Alawiten. Die Türkei will dabei Fehler vermeiden, die die USA nach dem Sturz Saddam Husseins im Irak 2003 begingen. Ein allzu überhasteter institutioneller Umbruch soll verhindert werden, um mittelfristig ein gewisses Maß an Stabilität und Kontinuität zu gewährleisten. Auch die von der Übergangsregierung eingesetzte verfassungsgebende Kommission wird von türkischen Beratern unterstützt. Prominente syrische Oppositionspolitiker, die während des Bürgerkrieges im türkischen Exil lebten, sollen die neue Achse zwischen Ankara und Damaskus stärken. Zudem wird die Präsenz türkischer Truppen in Syrien durch ein Regierungsdekret offiziell legitimiert.

Ob die Türkei ihren Einfluss auf ganz Syrien ausweiten kann, hängt jedoch maßgeblich von den Bedingungen ab, die vor allem sowohl Israel als auch die USA festlegen werden. Washington befürchtet eine Rückkehr des Islamischen Staates in dem weiterhin fragilen Land und will daher seine Unterstützung für die kurdischen Einheiten nicht aufgeben – auch wenn diese für die Türkei eine Bedrohung der nationalen Sicherheit darstellen. Anfang Januar unterbreitete der türkische Verteidigungsminister Yaşar Güler der US-Regierung ein Angebot, das die Entsendung einer türkischen Brigade zur Bekämpfung des Islamischen Staates vorsieht.

Israel wiederum zeigt sich nach Informationen aus Regierungskreisen bereit, eine türkische Präsenz in Syrien zu akzeptieren – allerdings unter der Bedingung, dass Ankara sich nicht mehr in die israelische Politik in Gaza und im Westjordanland einmischt und die Annexion der Golanhöhen anerkennt. Außenminister Hakan Fidan wies diese Forderungen jedoch zurück. „Es ist unmöglich für uns, uns von den palästinensischen Angelegenheiten und der Frage um Jerusalem zurückzuziehen“, betonte er. Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit seinem katarischen Amtskollegen Mohammed bin Abdurrahman Al-Thani fügte er hinzu: „Die Beendigung der israelischen Besatzung und die Errichtung eines palästinensischen Staates auf der Grundlage der Grenzen von 1967 sind die einzige Lösung für dieses Problem“.

Über das zukünftige Schicksal Syriens entscheiden nicht allein die syrische Bevölkerung oder ihre Übergangsregierung. Vielmehr wird der anhaltende Machtkampf zwischen Israel und der Türkei um die Vorherrschaft im Nahen Osten eine entscheidende Rolle spielen. Diese geopolitische Rivalität wird nicht nur Syrien, sondern auch die westliche Allianz und damit Deutschland vor neue Herausforderungen stellen.