Während in Ägypten gerade der zehnte Jahrestag des Arabischen Frühlings vorüberging, steckt ein anderes nordafrikanisches Land mittendrin in seinem Frühlingserwachen: Algerien. Zum zweiten Jahrestag der friedlichen Proteste waren Ende Februar zehntausende Menschen auf die Straßen gegangen, um ihren Forderungen nach einem Ende von Korruption und Willkür, nach demokratischen Reformen und einem echten politischen Wandel Nachdruck zu verleihen.
Der Bevölkerung war es 2019 gelungen, eine fünfte Amtszeit des greisen Präsidenten Abdelaziz Bouteflika zu verhindern. Jede Woche hatten die Menschen zu hunderttausenden demonstriert: friedlich, mit kreativen Slogans und „Putztrupps“, die nach den Demonstrationen den Müll wegräumten. Doch die neue Regierung besteht de facto aus der alten Garde, und so demonstrierten die Algerierinnen und Algerier in der Protestbewegung Hirak weiter, bis die Corona-Pandemie dem im März 2020 ein jähes Ende setzte.
Nun sind sie zurück – mit Bannern, auf denen Forderungen stehen wie: „Ein ziviler Staat, kein Militärstaat“, „Presse- und Meinungsfreiheit!“, „Eine unabhängige Justiz“. In der Hauptstadt Algier sind Demonstrationen offiziell verboten, doch die Menschen setzen sich darüber hinweg, genauso wie über die Straßensperren, die die Regierung errichtet hatte, um Revolutionäre aus anderen Landesteilen davon abzuhalten, sich den Protesten in Algier anzuschließen. Auch die Pandemie konnte sie nicht aufhalten; zu groß ist die Wut, die Unzufriedenheit.
Expertinnen und Experten rechnen damit, dass die Demonstrationen in den kommenden Wochen neuen Schwung erfahren. Rachid Ouaissa, Professor an der Philipps-Universität Marburg und dortiger Leiter des Fachgebiets Politik des Nahen und Mittleren Ostens, ist überzeugt, dass die Bewegung einen „soziologischen Wandel“ durchleben wird. Bisher wurde der Hirak vor allem von einer politisierten Mittelschicht getragen, die politische Forderungen stellte. Aufgrund der doppelten Krise im Land – wirtschaftlicher und gesundheitlicher Natur – und einer desolaten ökonomischen Lage werden nun auch Menschen aus anderen gesellschaftlichen Schichten demonstrieren, allein aus materieller Not.
Die Arbeitslosigkeit ist hoch, auch sehr gut ausgebildete junge Leute finden keine Jobs.
Die Lebensmittelpreise sind in Algerien in den vergangenen Monaten um das Dreifache angestiegen, hinzu kommen die niedrigen Öl- und Gaspreise, unter denen Algerien leidet. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, auch sehr gut ausgebildete junge Leute finden keine Jobs. Die Frustration wächst, und das Regime reagiert alarmiert. Der ehemalige Verteidigungsminister Khaled Nezzar ist zurück, der bekannt dafür ist, mit eiserner Faust gegen Oppositionelle vorzugehen. Nezzar gilt als „Vater des Putsches“ 1992 – ein blutiger Bürgerkrieg war die Folge.
Die Schrecken dieses dunklen Jahrzehnts sind in Algerien noch sehr präsent. Jene jungen Leute, die die Protestbewegung Hirak heute maßgeblich prägen, haben als Kinder miterlebt, wie Väter verhaftet wurden, Onkel spurlos verschwanden, Brüder gebrochen aus den Gefängnissen wieder-kehrten. Fast jede Familie hatte Tote und Vermisste zu beklagen. Die Angst saß tief, weshalb der Arabische Frühling zunächst an Algerien vorüberging.
Das neue Erwachen der Zivilgesellschaft, die Überwindung der Angst, die Erfahrung, dass friedliche Proteste möglich sind, gleicht für viele Algerierinnen und Algerier einem Wunder. Zwar ist die Euphorie des Anfangs längst verflogen, doch die Zahl der Protestierenden nimmt von Woche zu Woche wieder zu. Ihre Wut richtet sich vor allem gegen das Militär, das hinter den Kulissen die Fäden zieht und dem durch die neue Verfassung, die vor wenigen Wochen in Kraft getreten ist, eine ungemein große Machtfülle zukommt.
Jeden Dienstag und Freitag demonstrieren nun Studentinnen Seite an Seite mit Alten, Anwälte neben Arbeitslosen, Medizinerinnen ebenso wie Müllmänner. Die algerische Regierung wird nervös: In einer Art Zuckerbrot-und-Peitsche-Strategie hat sie einige prominente politische Gefangene freigelassen, darunter den Journalisten Khaled Drareni. Zudem hat der Präsident das Parlament aufgelöst und Neuwahlen angekündigt.
Doch anders, als es auf den ersten Blick scheint, sind dies nicht unbedingt positive Schritte, sondern „solche Maßnahmen dienen vor allem einer Schein-Legitimierung fürs Ausland“, erklärt der Politikwissenschaftler Ouaissa. Scharf kritisiert er Frankreichs Präsident Macron. Wenn dieser seinem algerischen Amtskollegen Tebboune zum zweijährigen Jahrestag der Revolution gratuliere, während Tebbounes Gefolgschaft gleichzeitig Aktivisten einsperre und misshandele, sei dies „ein Paradebeispiel für europäische Heuchelei“.
Seit einigen Jahren steigt die Zahl derjenigen Algerier, die irregulär nach Europa kommen.
Die Entwicklungen der vergangenen Wochen geben ihm recht, an einem ernsthaften Wandel scheint die algerische Regierung nicht interessiert. Zunächst freigelassene Aktivisten wurden wieder verhaftet, und in einer einstündigen Rede erwähnte Präsident Tebboune mit keinem Wort die Proteste, ging nicht einmal im Ansatz auf die Forderungen der Demonstranten ein – eine Provokation fürs Volk.
Für Entsetzen sorgt besonders der Fall von Sami Dernouni und jener von Walid Nekkiche. Dernouni, der zu den Demonstranten zählt, soll im Gefängnis mit Stromschlägen gefoltert, der 25-jährige Student Nekkiche schwer misshandelt und vergewaltigt worden sein. Das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte hat am 5. März von algerischen Behörden gefordert, Gewalt gegen friedliche Demonstranten sofort zu beenden und willkürliche Inhaftierungen zu stoppen. Doch solche Äußerungen dürfte das Regime schulterzuckend zur Kenntnis nehmen.
Deutschland schweigt bislang zu den anhaltenden Menschenrechtsverletzungen, zu den Einschüchterungen von Journalisten und Anwälten, den willkürlichen Verhaftungen, der Folter. Am Beispiel Algerien werden die double standards der deutschen Außenpolitik deutlich: Gegen das russische Regime werden Sanktionen verhängt, über die Proteste in Myanmar berichtet die Tagesschau, aber die algerischen Demokratie-Aktivisten werden übersehen.
Die Bundesregierung liefert weiterhin Waffen an das autoritäre algerische Regime, von maritimer Ausrüstung über Panzer bis hin zu Grenzschutzmaterial. Die Stoßrichtung ist klar: Abwehr von potenziellen Flüchtlingen. Denn seit einigen Jahren steigt die Zahl derjenigen Algerier, die irregulär nach Europa kommen. Sollten die Proteste an Fahrt aufnehmen, das Regime noch härter durchgreifen als ohnehin schon und Algerien in der Folge von Unruhen und massiven Kämpfen zwischen Militär und Bevölkerung erschüttert werden, werden es auch deutsche Waffen sein, mit denen die friedlichen Demonstranten zum Schweigen gebracht werden.
Ohne charismatische Männer und Frauen an der Spitze bleibt die Frage, was nach den Protesten geschieht, unbeantwortet.
Die Algerier in Nordafrika und in der Diaspora schwanken zwischen Zuversicht und Resignation. Mittlerweile bezweifeln viele, dass sich in Algier bald echter Wandel einstellen wird. „Damit die Bewegung erfolgreich ist, braucht sie eine Führungsfigur an der Spitze“, glaubt der algerische Menschenrechtsaktivist Rabah Arkam, der in den USA lebt. Er spricht damit einen wunden Punkt an. Der Hirak hat bewusst auf Führungspersönlichkeiten verzichtet, denn die Erfahrung aus den 90er Jahren hat die Algerier gelehrt: Wenn es herausragende Oppositionelle gibt, werden diese von der Regierung sofort verhaftet.
Also haben sie sich diesmal so breit wie möglich aufgestellt, basisdemokratisch gewissermaßen. Doch das ist auch ein Problem, denn ohne charismatische Männer und Frauen an der Spitze bleibt die Frage, was nach den Protesten geschieht, unbeantwortet. Dieses Dilemma hat der Hirak bislang nicht auflösen können. „Uns fehlt ein echtes politisches Programm“, meint der Student Samy aus Algier, der nur seinen Vornamen nennen möchte. Er war einst aktives Mitglied des Hirak, hat an seiner Universität eine Protestgruppe ins Leben gerufen. Inzwischen ist er desillusioniert. „Viele meiner Leute denken nur ans Protestieren und vergessen dabei, über Strategien nachzudenken, wie es weitergehen kann“, sagt er. Auch einzelne Feministinnen haben sich enttäuscht abgewandt, unzufrieden damit, dass Fragen nach der Stellung von Frauen innerhalb des Hirak als zweitrangig gelten.
Einig sind sich Demonstrantinnen und politische Analysten über alle Lager hinweg in einem Punkt: dass die Proteste friedlich bleiben werden. Denn das, glauben sie, ist die mächtigste Waffe des Hirak. Professor Ouaissa vermutet gar Auswirkungen der algerischen Proteste auf die ganze Region: „Wenn in Algerien die Flamme des Wandels erfolgreich brennt, ist zu erwarten, dass die Völker der Nachbarländer sich auch wieder auf einen solchen Weg machen.“
Ob es so weit kommen wird, ist ungewiss. Vor zehn Jahren waren europäische Politiker überrascht, als der Arabische Frühling seinen Lauf nahm. Das zumindest sollte nicht noch einmal geschehen. Es wird Zeit, dass Europa wahrnimmt, was auf der anderen Seite des Mittelmeeres passiert.