In der Welt des Schachsports gibt es eine Anekdote über den bekannten dänisch-jüdischen Schachspieler Aron Nimzowitsch, der Mitte der 1920er Jahre während eines Turniers gegen den deutschen Schachmeister Friedrich Sämisch antrat. Bei dem Gedanken, sich einem aus seiner Sicht minderwertigen Gegner geschlagen geben zu müssen, sprang Nimzowitsch wutentbrannt auf den Tisch und schrie: „Gegen diesen Idioten muss ich verlieren?“ Dieser Gedanke kam wohl am späten Dienstagabend nicht wenigen liberalen Experten und demokratischen Eminenzen in den Sinn, als die Aussichten von Kamala Harris auf den Sieg bei der Präsidentschaftswahl plötzlich zu schwinden begannen.
In der Tat stellt sich die Frage, warum die Demokraten die Wahl so deutlich verloren haben gegen einen Donald Trump, in dem sie einen Verbrecher, Faschisten, Fanatiker und Possenreißer sahen, den Ex-Präsidenten, gegen den zwei Amtsenthebungsverfahren eingeleitet wurden, einen dementen alten Mann und ein Spottobjekt, über das man sich in Late-Night-Shows lustig machen und das man andauernd moralisch verurteilen konnte? Viele Demokratinnen und Demokraten könnten der Annahme erliegen, dass eine für Rassismus, Sexismus, Fremdenfeindlichkeit und Dummheit anfällige Nation auf die Art von Demagogie hereingefallen sei, die einst Deutschland dazu verführte, Adolf Hitler zu wählen.
Es gab viele taktische Fehltritte.
Warum hat Harris verloren? Es gab viele taktische Fehltritte: Harris entschied sich für einen progressiven Vize-Kandidaten, mit dem sie in Staaten wie Pennsylvania oder Michigan, die sie unbedingt hätte gewinnen müssen, nicht punkten konnte. Sie schaffte es zudem nicht, sich von Präsident Joe Biden abzugrenzen. Die Vize-Präsidentin bezeichnete Trump törichterweise als Faschisten und suggerierte damit, seine Anhängerinnen und Anhänger seien ebenfalls quasi-faschistisch. Harris setzte bei ihren Bemühungen um eine überzeugende Begründung für ihre Kandidatur zu stark auf angeheuerte Promis. Sie versäumte es, einige der radikaleren Positionen, die sie als Kandidatin 2019 vertreten hatte, rundheraus über Bord zu werfen, und begnügte sich mit Floskeln wie „Meine Werte haben sich nicht geändert“. Zudem wurde Harris ohne Gegenkandidaten ins Rennen geschickt – ein schwerer Fehler und eine Verletzung demokratischer Prinzipien. Dies führte zur Nominierung einer Kandidatin, die – nicht wenige wiesen damals warnend darauf hin – außerordentlich schwach war. Das wiederum war nur möglich, weil die Demokraten Bidens offensichtlichen geistigen Verfall bis zum Debatten-Debakel im Juni nicht ernst nahmen (und ihn selbst danach noch ein paar Wochen an der Nominierung festhalten ließen), sodass es schwierig wurde, auch nur eine abgespeckte Mini-Vorwahl abzuhalten.
Diese Fehleinschätzungen hängen jedoch mit drei grundsätzlicheren weltanschaulichen Irrtümern zusammen. Erstens: Viele Liberale sind überzeugt, dass in Bidens Amerika alles so ziemlich in Ordnung oder gar großartig sei – und dass jeder, der etwas anderes denkt, entweder ein rechter Lügenerzähler oder ein Einfaltspinsel sei. Zweitens: Viele Liberale weigerten sich, zur Kenntnis zu nehmen, wie vielen Amerikanerinnen und Amerikanern ein Großteil des modernen Liberalismus mittlerweile gegen den Strich geht und wie tief diese Abscheu inzwischen ist. Der dritte Irrtum war die beharrliche Behauptung, die einzig angemessene politische Haltung gegenüber Trump sei die Politik des Widerstands – mit ganz großem W.
Zu Punkt eins: Ich habe den Überblick verloren, wie oft liberale Experten versucht haben, die Aufmerksamkeit der Leserschaft auf obskure Daten der St. Louis Federal Reserve zu lenken und mit diesen Daten zu begründen, warum die Amerikanerinnen und Amerikaner nicht mehr wegen stark gestiegener Preise für Konsumgüter oder steigender Finanzierungskosten für ihre Häuser und Autos in Panik verfallen sollten. Oder wie die liberalen Experten beharrlich darauf bestanden haben, es gebe an der Südgrenze keine Migrationskrise. Oder wie sie behauptet haben, Biden sei blitzgescheit und jeder, der etwas anderes verlauten lässt, sei ein Depp. Wenn die amerikanische Bevölkerung die Gesamtsituation jedoch anders erlebte (und dies war laut vielen Befragungen der Fall), zeigten die Liberalen die für sie typische Reaktion und taten deren Klagen nicht nur als unbegründet, sondern auch als unmoralisch ab. Das war eine Kränkung für die Wählerschaft und führte außerdem dazu, dass die Demokraten gar nicht mehr wahrnahmen, wie berechtigt die Beschwerden waren. Das zeigte sich jedes Mal, wenn Harris auf Fragen zur Grenze antwortete und darauf verwies, sie habe grenzüberschreitend agierende Verbrecherbanden strafrechtlich verfolgt – was keine Antwort war auf die essenziellen Klagen über eine Migrationskrise, die Hunderte von Gemeinden belastet und nichts damit zu tun hat, dass die Migranten Straftaten begingen.
Inzwischen ist die Politik der Linken stark auf Social Engineering entsprechend der Gruppenidentität fokussiert.
Der herablassende Umgang der Liberalen mit diesen Sorgen hing noch mit etwas anderem zusammen: mit der verächtlichen Haltung gegenüber den moralischen Einwänden, die viele Amerikanerinnen und Amerikaner gegen diverse progressive Anliegen haben. Du bist besorgt wegen Geschlechtsumwandlungen bei Kindern oder wegen der Tatsache, dass biologisch männliche Personen in Mädchenmannschaften mitspielen? Dann bist du transphob. Du bist entnervt wegen der langweiligen und oft kontraproduktiven Pflichtseminare zu Diversity, Gleichstellung und Inklusion, in denen eine weiße Hautfarbe fast schon per se als problematisch gilt? Dann bist du Rassist. Dich ärgern neue Begriffe, die angeblich inklusiver sein sollen, aber sich anhören wie das Neusprech in George Orwells1984? Dann bist du doppelplusungut.
Im besten Fall steht die Demokratische Partei für Gerechtigkeit und Freiheit. Aber inzwischen ist die Politik der Linken stark auf Social Engineering entsprechend der Gruppenidentität fokussiert und wird zunehmend als etwas wahrgenommen, das Hunderten Millionen Amerikanerinnen und Amerikanern mit Gewalt bizarre kulturelle Normen aufzwingt, obwohl die eigentlich nur leben und leben lassen wollen, aber sich nicht gerne vorschreiben lassen, wie sie zu reden oder was sie zu denken haben. Das haben zu viele Liberale vergessen – und das erklärt, warum eine Gestalt wie Trump mit ihrer lautstarken und sich über alles hinwegsetzenden Verachtung für fromme liberale Tugenden erneut zum Präsidenten gewählt werden konnte.
Die Demokraten sind zur Partei der Besserwisserei, der selbstgefälligen Belehrung und Großspurigkeit geworden.
Hinzu kam, dass die Liberalen dachten, Trump lasse sich am besten stoppen, indem man ihn nicht als normale – wenn auch unausstehliche – politische Figur mit schlechten politischen Ideen hinstellt, sondern als tödliche Bedrohung für die Demokratie. Unabhängig davon, ob er wirklich eine solche Bedrohung ist oder nicht, haben die Demokraten sich durch diese Art der Oppositionshaltung in die Irre führen lassen. Sie verleitete sie zu ihrer eigenen Variante antidemokratischer Politik: Sie versuchten, auf gerichtlichem Weg Trumps Namen von den Wahlzetteln in Colorado streichen zu lassen oder ihn aufgrund schwer nachvollziehbarer Anschuldigungen hinter Gitter zu bringen. Das lenkte sie von der eigentlichen Aufgabe ab, bessere politische Antworten auf die berechtigten Sorgen der Allgemeinheit zu entwickeln und zu artikulieren, auf die Trump einging. Und das ließ die Liberalen als Übertreiber oder gar als Hysteriker dastehen, zumal vor dem Hintergrund, dass das Land bereits eine Trump-Präsidentschaft mehr oder weniger unbeschadet überstanden hatte.
Die Demokraten sind zur Partei der Besserwisserei, der selbstgefälligen Belehrung und Großspurigkeit geworden. Mag sein, dass ihnen das ein Gefühl der Rechtschaffenheit gibt, aber wie wollen sie damit jemals eine Wahl gewinnen? Ich habe widerwillig für Harris gestimmt aus Angst vor den möglichen Folgen einer zweiten Amtszeit von Donald Trump – für die Ukraine, unsere Handelspolitik, das gesellschaftliche Leben und die moralische Integrität der konservativen Bewegung insgesamt. Momentan ist meine größere Sorge, dass die Liberalen möglicherweise nicht selbstkritisch genug sein werden, um ihre Fehler zu erkennen, nicht diszipliniert genug, um es beim nächsten Mal besser zu machen, und nicht demütig genug, um sich zu ändern.
Dieser Artikel erschien zuerst inThe New York Times.
Aus dem Englischen von Christine Hardung