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Auf wessen Seite steht die Regierung Trump eigentlich? Nach sämtlichen öffentlichen Auftritten zu urteilen, die wir bislang erlebt haben – ob nun ein Kabinettsmitglied, der Chef der Centers for Disease Control (Zentren für Seuchenkontrolle, CDC) oder der Präsident selbst vor die Kameras trat –, ist jedenfalls klar: nicht auf der Seite der US-Öffentlichkeit. Präsident Trump, der nur seine Wiederwahl im Kopf hat, konzentriert sich ganz darauf, Zahlen zu beschönigen und Überbringer schlechter Nachrichten mundtot zu machen. So handeln Autokraten. Und so gefährdet man Menschenleben.

Am Samstag berichtete die Associated Press, Trump habe seine eigenen Gesundheitsbeamten, die ältere und geschwächte Menschen vor dem Fliegen warnen wollten, überstimmt. Unsere traditionsreichen CDC wurden von Politikern gekapert und beharren darauf, dass nur Patienten mit ausgeprägten Symptomen auf das Virus getestet werden. Doch nicht einmal das wird gemacht: Letzte Woche verweigerte die Behörde einer erkrankten Pflegerin in Nordkalifornien, die einen Corona-positiven Patienten betreut hatte, den Test, woraufhin die Chefin der Krankenpfleger-Gewerkschaft auf einer Pressekonferenz eine Erklärung dieser Krankenschwester verlas.

In den Räumen der CDC erklärte Trump am vergangenen Freitag den versammelten Journalisten, ein Coronavirus-Test stehe nun jedem, der ihn brauche, zur Verfügung. Kurz darauf beklagte ein Gouverneur nach dem anderen, ein Arzt nach dem anderen, dass dies nicht der Fall sei und die Bundesstaaten dringend weitere Tests bräuchten. „Wir haben vor Ort keine Tests verfügbar“, wird etwa der Präsident des kalifornischen Hausarztverbandes Dr. Walter Mills in der San Jose Mercury News zitiert.

Für mich war die Pressekonferenz der erschreckendste Moment in Trumps Präsidentschaft: sein eitler Narzissmus, die zwanghaften Lügen, die Rachsucht, die erschreckende Unfähigkeit, einfachste wissenschaftliche Fakten zu erfassen.

Auf der Presseveranstaltung bei den CDC erklärte Trump auch, warum er die Passagiere an Bord des Kreuzfahrtschiffes Grand Princess vor der Küste Kaliforniens, von denen einige positiv auf das Virus getestet worden waren, nicht an Land gehen lassen wollte (das Schiff hat mittlerweile doch in Oakland angelegt): „Ich möchte, dass die Zahlen so bleiben.“

Für mich war diese Pressekonferenz der erschreckendste Moment in Trumps Präsidentschaft. Sein eitler Narzissmus, die zwanghaften Lügen, die Rachsucht, die Angst vor Keimen und die erschreckende Unfähigkeit, einfachste wissenschaftliche Fakten zu erfassen: All das stand zwischen ihm und seiner wichtigsten Verantwortung uns Amerikanern gegenüber, nämlich die dringend notwendige Krankheitsversorgung kraft seiner Führungsstärke zu garantieren.

Es ist absurd, dass Trump unter keinen Umständen feststellen lassen will, wie weit sich die Epidemie bereits ausgebreitet hat. Die Vereinigten Staaten veröffentlichen derzeit keine Zahlen darüber, wie viele Menschen getestet wurden; die CDC entfernten entsprechende Angaben von ihrer Website. Ende letzter Woche zählte ein ausführlicher Artikel des Atlantic Bundesstaat für Bundesstaat nach und kam auf nur 1895 Tests. In Südkorea liegt die Zahl bei mehr als 140 000 (Trump tat das als „Stichproben“ ab, was nicht zutrifft. Das waren schlicht und einfach Tests.).

Trump spielt ein gefährliches Spiel, denn er möchte die Fallzahlen niedrig halten und das volle Ausmaß der Epidemie nicht öffentlich machen.

Weil wir in den USA nur die Kränksten der Kranken testen, beträgt die Sterblichkeitsrate beim Coronavirus etwa 4 Prozent. Das ist eine erschreckende und höchst irreführende Zahl, die noch über der Chinas liegt (Prognosen der meisten Experten zufolge dürfte sie sich bei 0,5 Prozent einpendeln – was fünfmal so hoch ist wie bei der normalen Grippe –, könnte aber auch 1 Prozent erreichen.). Trump spielt ein gefährliches Spiel, denn er möchte die Fallzahlen niedrig halten und das volle Ausmaß der Epidemie nicht öffentlich machen.

Als das Coronavirus in China erstmals auftrat, verglichen einige Kommentatoren die dortige Situation mit Tschernobyl. Dieser Vergleich passt heute in zunehmendem Maß auf die Vereinigten Staaten. Er mag übertrieben wirken – und es werden Monate vergehen, ehe uns verlässliche Zahlen über Erkrankte und Sterbefälle vorliegen –, doch die Parallelen liegen auf der Hand: Wir haben es mit einer stillen, unsichtbaren und potenziell verheerenden Krise der Volksgesundheit zu tun, und die Regierung weigert sich, öffentlich zu den Fakten Stellung zu nehmen oder ihre nächsten Maßnahmen anzukündigen, weil sie sich in erster Linie mit der eigenen Optik befasst und deshalb nicht zugeben mag, dass sie anfänglich falsch mit der Situation umgegangen ist. Am Freitagmorgen brüstete sich Trump mit den Worten: „Ich glaube, wir sind in glänzender Form.”

Anders als im Fall Tschernobyl gelangt die Bevölkerung im Zeitalter der sozialen Medien aber eben online doch an Informationen. Wie bei allen Informationen im Internet sind sie zum Teil gut, zum Teil grauenhaft. Laut Reuters sehen doppelt so viele Anhänger der Demokratischen Partei im Coronavirus eine unmittelbare Gefahr für das Land wie Anhänger der Republikaner, und es ist klar, warum: Die Nachrichtensender, die dem Präsidenten nach dem Mund reden, spielen das mögliche Ausmaß und den Ernst der Lage herunter. Unterdessen rufen hellsichtigere Gouverneure den Notstand aus und äußern im Gespräch mit den Mainstream-Medien ihre Bedenken, desgleichen Ärzte und Epidemiologen.

Epidemiologen gehen in der Mehrzahl davon aus, dass sich das Virus nicht mehr eindämmen lässt und wir alle verantwortungsvoll über die nächsten Maßnahmen nachdenken sollten, damit die Krankenhäuser nicht überfordert werden.

Die Kluft zwischen ihren Aussagen und denen der Regierung in Washington lässt sich in Lichtjahren bemessen. Die Regierung redet noch von Eindämmung. Epidemiologen gehen in der Mehrzahl davon aus, dass sich das Virus nicht mehr eindämmen lässt und wir alle verantwortungsvoll über die nächsten Maßnahmen nachdenken sollten, damit die Krankenhäuser nicht überfordert werden. Es lohnt sich, diesen Spezialisten auf Twitter zu folgen. Epidemiologen sind die neuen Rockstars.

Alle müssen ihre Anstrengungen jetzt verstärken. Im Moment wütet das Coronavirus überwiegend in demokratisch regierten Bundesstaaten, weil dort die großen Städte liegen. Aber es ist nur eine Frage der Zeit. Eine Woche, nachdem sich der republikanische Abgeordnete Matt Gaetz aus Florida über das Covid-19-Virus lustig gemacht hatte, indem er im Repräsentantenhaus mit einer großen Gasmaske erschienen war, starb ein Bürger aus seinem Wahlbezirk an dem Erreger. Senator Ted Cruz aus Texas und der Abgeordnete Paul Gosar aus Arizona, beide ebenfalls Republikaner, haben sich in Quarantäne begeben, nachdem sie auf der jährlichen Conservative Political Action Conference mit einem Infizierten in Kontakt gekommen waren. Es wird sogar darüber diskutiert, ob der Kongress pausieren sollte.

Fox News, gewählte Republikaner, CDC-Direktor Robert R. Redfield, sie alle müssen endlich aufhören, Trump auf Pressekonferenzen überschwänglich zu loben, und ihm stattdessen das Mikrofon wegnehmen, um der Bevölkerung zu erklären, was man gegen die Ausbreitung der Krankheit unternehmen kann.

Viele Länder könnten künftig womöglich nicht in der Lage sein, gleichzeitig eine gesunde Bevölkerung und eine gesunde Wirtschaft zu garantieren: Sie würden wählen müssen.

Richten wir den Blick nach Italien. Wie der Corriere Della Sera berichtete, standen die Intensivstationen in der Lombardei kurz vor dem Kollaps, und das medizinische Personal stellte bereits Betten auf den Fluren auf. Wenn wir nicht aufpassen, könnte uns das auch bald passieren. Vor zwei Tagen deutete die britische Medizinzeitschrift The Lancet an, viele Länder könnten künftig womöglich nicht in der Lage sein, gleichzeitig eine gesunde Bevölkerung und eine gesunde Wirtschaft zu garantieren: Sie würden wählen müssen.

Diese Andeutung passt zu einem Gespräch, das ich letzten Freitag mit Nicholas Christakis führte, Autor von Blueprint und Epidemiologe in Yale. Sein Labor entwickelt mithilfe von Big Data Tools, die den Verlauf einer Epidemie in Echtzeit werden voraussagen können. Seiner Schätzung nach werden in diesem Jahr 35 000 Amerikanerinnen und Amerikaner am Coronavirus sterben. Das wäre für die Krankenhäuser, die in der Grippesaison bereits alle Hände voll zu tun haben, eine gigantische zusätzliche Belastung. Und Christakis‘ Schätzung liegt am unteren Ende dessen, was Vertreter seines Fachgebiets voraussagen.

„Ich befinde mich im Moment in der paradoxen Lage, dass ich stark von sozialen Beziehungen abraten muss, obwohl genau die im Mittelpunkt meines Buches und meines Lebenswerks stehen“, so Christakis. „Aber um diese Epidemie zu bekämpfen, müssen wir auf diese unnatürliche Weise zusammenarbeiten, die unserer evolutionären Vergangenheit zuwiderläuft.“

Erschreckend, ja geradezu grauenhaft ist es, dass unser Präsident am allerwenigsten dazu taugt, genau das zu tun. Diese Krise hat ihm das Steuer aus der Hand und die Maske vom Gesicht gerissen. Er ist führungsunfähig. Bei Trump sind Wahrheit, Anstand und Selbstbeherrschung seit jeher in Quarantäne.

Aus dem Englischen von Anne Emmert

(c) The New York Times 2020