Der Systemwechsel Mittelosteuropas nach 1989 wurde nicht nur von dem Wunsch nach einem Ende politischer Repression und mehr demokratischer Beteiligung vorangetrieben, sondern auch – und möglicherweise sogar vor allem – von der Hoffnung auf eine schnelle Angleichung der Lebensverhältnisse mit dem Westen. Man hat dafür zunächst dramatische wirtschaftliche und soziale Umbrüche in Kauf genommen sowie später weitreichende fiskalische, rechtliche und ideelle Vorgaben als Bedingung für die EU-Aufnahme ohne Murren akzeptiert und rasch umgesetzt, wenngleich dies mit nicht zu unterschätzenden Mühen und Kosten verbunden war.

Mehr als 30 Jahre nach der Wende und bald 17 Jahre nach dem EU-Beitritt macht sich – mit entsprechenden politischen Folgen – in den mittelosteuropäischen Ländern nun die Erkenntnis breit, dass sich dieses Ziel möglicherweise nicht nur für die von den Härten des Umbruchs betroffenen Generationen nicht mehr verwirklichen wird, sondern auch für ihre Kinder und Enkelkinder nicht. Die mittelosteuropäischen Gewerkschaften sprechen seit Jahren verbittert über einen „Eisernen Lohnvorhang“: Die Region bleibt systematisch die arme Peripherie Europas.

Die Debatte darüber ist von einer seltsamen Ambivalenz geprägt: Einerseits ist die Problematik der niedrigen Löhne in Tschechien, der Slowakei, Polen oder Bulgarien seit langem in ganz Europa gut bekannt; schließlich wurden sie in Gestalt der polnischen Lohndumping auslösenden Arbeitsmigranten auch als einer der mittelbaren Gründe für das Brexit-Votum ausgemacht. Gleichzeitig scheint sich aber der Eindruck verfestigt zu haben, dass in den betroffenen Ländern die niedrigen Löhne von nach wie vor viel niedrigeren Preisen als im Westen begleitet werden, sodass das Lebensniveau letztlich relativ vernünftig ist.

Dieser Eindruck wird von oft genutzten, aber irreführenden makroökonomischen Indikatoren untermauert: Das stabile BIP-Wachstum sagt beispielsweise für diese von den Auslandsinvestitionen abhängigen Länder relativ wenig über den allgemeinen Wohlstand aus, da riesige Geldmengen davon wieder aus den Ländern als Gewinne abfließen. Der Indikator der relativen Armut wiederum misst bekanntlich eher Einkommensungleichheit und fällt daher in den nach wie vor weniger ungleichen Ländern östlich der deutschen Grenze entsprechend positiv aus – unabhängig davon, ob man von den Löhnen leben kann. Tschechien belegt in diesem Ranking regelmäßig vordere Plätze als eins der Länder mit den wenigsten „Armen“ in Europa.

Das stabile BIP-Wachstum sagt für diese von den Auslandsinvestitionen abhängigen Länder relativ wenig über den allgemeinen Wohlstand aus.

Die Wirklichkeit sieht aber deutlich anders aus. Das belegt für Tschechien die „Plattform für einen Fairen Mindestlohn“, die seit 2019 einmal jährlich ausrechnet, wie viel ein erwerbstätiger Mensch bei aktuellen Preisen verdienen müsste, damit dieser für sich selbst und eine abhängige Person alle üblichen Kosten abdecken kann. Zu diesem Zwecke adaptierten die Soziologen, Ökonomen und andere im Sozialbereich Engagierte für den mittelosteuropäischen Kontext das bereits in Großbritannien genutzte Konzept des „living wage“. Mittels einer über mehrere Jahre hinweg entwickelten Methodik berechnen sie Ausgaben fürs Wohnen, Nahrung, Bekleidung und Schuhe, Transport, Freizeit, Bildung und einmalige Ausgaben sowie Ersparnisse.

Trotz der ausgesprochen bescheiden definierten Standards, was in jeder dieser Kategorien bezahlbar sein müsste, kam die Experten-Gruppe sowohl 2019 wie zuletzt auch Ende 2020 zu alarmierenden Erkenntnissen: Der so definierte Faire Mindestlohn hätte letztes Jahr 1 238 Euro brutto betragen (bzw. 1 450 Euro für die von besonders hohen Wohnkosten geplagte Hauptstadt Prag). Nun betrug aber der landesweite mittlere Lohn 2020 in Tschechien nur umgerechnet 1 190 Euro.

Das bedeutet, dass nicht einmal die Hälfte der arbeitenden Menschen in Tschechien einen existenzsichernden Lohn bekommt. Der gesetzliche Mindestlohn betrug 2020 sogar nur 573 Euro und somit nicht einmal die Hälfte. Den Fairen Mindestlohn verdienen aber auch nicht einmal Menschen, die in durchaus qualifizierten Positionen arbeiten – eine faktische Einkommensarmut reicht in Tschechien also tief in die Mittelklasse hinein.

Die EU erkennt das Problem der vielerorts auf ihrem Gebiet viel zu niedrigen Löhne zwar an – und strebt spätestens seit dem Antritt des neuen Parlaments und der neuen Kommission einen europäischen Mindestlohn als Lösung an. Im vergangenen Herbst wurde deshalb von der Kommission der Entwurf einer Richtlinie zur Sicherstellung angemessener Mindestlöhne innerhalb der EU vorgestellt. Während zunächst noch verbindliche Mindesthöhen als Relation des jeweiligen Mindestlohns zum Durchschnittslohn (wenigstens 50 Prozent) oder dem Lohnmedian (wenigstens 60 Prozent) des betreffenden Mitgliedsstaates debattiert wurden, ist der Vorschlag nun deutlich weniger konkret: Die Länder sollen selbst Maßstäbe zur Überprüfung der Angemessenheit ihrer Mindestlöhne festlegen.

Das bedeutet, dass nicht einmal die Hälfte der arbeitenden Menschen in Tschechien einen existenzsichernden Lohn bekommt

Es bleibt zwar abzuwarten, in welcher Endfassung die Richtlinie verabschiedet wird und wie sie jeweils umgesetzt und ihre Umsetzung überprüft wird, eins scheint aber jetzt schon klar: Der große Wurf, der den Ankündigungen der Kommission über eine faire Entlohnung innerhalb der EU gerecht würde, wird es nicht werden. Um nämlich eine faire Entlohnung zu erreichen, die diesen Namen wirklich verdient, müsste man die Löhne insbesondere in den Niedriglohnländern Mittelosteuropas systematisch viel deutlicher anheben, als es die Richtlinie in ihrer Unverbindlichkeit wird erreichen können.

Um nämlich für Tschechien über eine faire Entlohnung zu sprechen, wie es die Europäische Kommission vollmundig tut, müsste der gesetzliche Mindestlohn gemäß der Living-Wage-Berechnungen mehr als 100 Prozent des aktuellen Medians betragen, womit sogar die früheren, konkreteren Vorschläge zu Ausgestaltung eines europäischen Mindestlohns für die Niedriglohnländer keine wirkliche Lösung gewesen wären.

Für andere Länder dieser Region wird Ähnliches gelten; in den östlichsten, Bulgarien und Rumänien, dürfte die Lage noch dramatischer sein. Diese scheint aber im Vergleich mit den Sorgen der wohlhabenden nordischen Staaten um ihre Tarifautonomie, die seit einigen Monaten die Debatte dominieren, nachrangig zu sein. In den mittelosteuropäischen Ländern löst das wieder einmal mehr das Gefühl aus, europäische Bürger zweiter Klasse zu sein.

Welche destabilisierenden Folgen die sich nicht substanziell bessernde Einkommenssituation in den betroffenen Ländern hat, ist nicht schwer auszumalen: Weite Teile der Bevölkerung sind von Prekarität und ökonomischer Unsicherheit betroffen. In diesem Zusammenhang ist es kein Zufall, dass in Tschechien fast jeder Zehnte überschuldet ist, viele der Länder sind von einer massiven Bevölkerungsabwanderung gen Westen geplagt.

In den mittelosteuropäischen Ländern löst das wieder einmal mehr das Gefühl aus, europäische Bürger zweiter Klasse zu sein.

Da wundert es vielleicht auch weniger, dass so verfasste Gesellschaften weniger schnell vorankommen bei einer von ihnen verlangten Wertemodernisierung oder dass es ihnen schwerer fällt, gesamteuropäische Solidarität zu zeigen. Im Gegenteil können sich aus dieser Lage anti-europäische und anti-liberale Ressentiments speisen: Die enttäuschten an die EU gerichteten Hoffnungen entladen sich nun vielerorts und werden von rechtspopulistischen Kräften genutzt. Die Fragilität der Gesellschaften zeigt sich dann in Krisen wie der gegenwärtigen Pandemie, da von den niedrigen Löhnen kaum nennenswerte Ersparnisse angehäuft werden können.

Eine Resilienz, die weitere kommende Umbrüche wie die notwendige sozial-ökologische Transformation den Gesellschaften abverlangen werden, kann in andauernder Prekarität  kaum ausgebildet werden. Im Gegenteil: Es punkten nun die osteuropäischen Autoritären mit gegensätzlichen Versprechen: Ihr müsst jetzt nichts mehr tun, ihr habt euch genügend auf die Wünsche des Westens hin verändert, und seht her, was es euch gebracht hat – nichts.

Daher hat die nun verhandelte Richtlinie auch eine symbolische Bedeutung: Sie ist eine seltene Gelegenheit, das europäische Versprechen für Mittelosteuropa endlich und greifbar wahrzumachen. Dafür muss sie aber deutlich ambitionierter ausfallen, sich wirklich mit der Lage der Menschen in den Ländern befassen, anstatt sich nur von verzerrenden Makroindikatoren leiten zu lassen – und zur Not auch offen benennen, warum die mittelosteuropäischen Regierungen nicht einfach ohne eine gesamteuropäische Rückendeckung die Löhne selbst anheben können: weil sie die Logik der Konkurrenz auf dem europäischen Binnenmarkt im Griff hält.

Wenn hingegen der jetzige Entwurf so angenommen wird, passiert wohl Erwartbares: Die Niedriglohnländer werden nach wie vor niedrige Löhne als angemessen präsentieren – weil ihnen angesichts der Dynamiken des freien Marktes, wie bislang auch schon, wenig anderes übrigbleibt. Die Enttäuschung gegenüber der EU in dieser Region wird dies nur weiter vertiefen; und das umso mehr, wenn die Regelung weiterhin dermaßen unangemessen als „das Ende der Armut trotz Arbeit in Europa“ ausgegeben wird. Das ist nämlich in Mittelosteuropa weiterhin nicht in Sicht.