Die EU hat sich den Ruf der weltweit führenden Instanz erworben, wenn es um die Regulierung von Big-Tech-Unternehmen geht. Ihre neueste Offensive sind die beiden kürzlich vorgelegten Entwürfe für ein Gesetz über digitale Dienste (Digital Services Act, DSA) und ein Gesetz über digitale Märkte (Digital Markets Act, DMA). Wie unzureichend diese Vorschläge sind, haben jedoch die beklemmenden Bilder vom wütenden Mob entlarvt, der randalierend das US-Kapitol erstürmte. Der Angriff auf das Herz der amerikanischen Demokratie wurde über Facebook, Twitter, Youtube und andere digitale Medienplattformen angezettelt und geplant – und das sollte Europa eine Warnung sein.

Leider ist der Ansatz, den DSA und DMA verfolgen, kaum geeignet, um dem extremen Gefahrenpotenzial der digitalen Medienplattformen zu begegnen. Die Gesetzentwürfe zielen ebenso wie viele Vorgängermaßnahmen der geschäftsführenden Vizepräsidentin der Kommission, Margrethe Vestager, auf die Folgen für Wettbewerb und Verbraucher ab. DSA und DMA sollenInnovation, Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit“ fördern und sicherstellen, dass sich den „Innovatoren und Technologie-Start-ups neue Möglichkeiten erschließen“. Doch die schlimmsten Übel des Big-Tech-Mediengeschäftsmodells lassen sich meistenteils nicht dadurch aus dem Weg räumen, dass man einfach versucht, Wettbewerb und Innovation zu fördern.

Nach DSA und DMA würden große Plattformen für bestimmte wettbewerbswidrige Praktiken mit Geldbußen belegt, aber die maximale Strafe (10 Prozent der Einnahmen) hätte keine hinreichend abschreckende Wirkung. Die Plattformen wären zwar stärker in der Verantwortung, vage definierte „illegale Inhalte“ zu entfernen (eine EU-Version des weitestgehend wirkungslosen deutschen Facebook-Gesetzes „NetzDG“), aber das ist angesichts der Unmengen an Desinformation, die auf diesen Plattformen kursieren, nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Allein bei Facebook werden täglich mehr als 100 Milliarden Inhalte gepostet – eine wahre Sintflut, die, realistisch betrachtet, weder die Algorithmen noch die kleine Truppe menschlicher Kontrolleure eindämmen kann.

Die Gesetzesvorschläge setzen vor allem auf die Transparenz der Plattformen und Algorithmen als Kontroll- und Verbraucherschutzinstrument, aber Transparenz wird beides nur in geringem Umfang leisten können. Um einen Slogan aus dem Silicon Valley zu bemühen: „Eine Lüge kann schon die halbe Welt umrundet haben, bevor die Transparenz aus dem Bett kommt.“

Allein bei Facebook werden täglich mehr als 100 Milliarden Inhalte gepostet.

Den Kommissionsvorschlägen fehlt es nicht nur an regulatorischem Biss. Ebenso wie die Datenschutz-Grundverordnung ändern sie nicht grundlegend etwas am Geschäftsmodell der digitalen Plattformen und bieten auch keine umfassendere Perspektive in der Frage, wie die digitalen Plattformen funktionieren sollten. Die Expertinnen und Experten im Silicon Valley rollen amüsiert mit den Augen, weil sie nicht glauben, dass sich durch DSA und DMA viel ändern wird.

Wie konnte es zu dieser prekären Situation kommen? Seit der Gründung der ersten digitalen Medienplattformen vor 15 Jahren – streichen wir die sympathisch klingende Fehlbezeichnung „soziale“ Medien – werden Demokratien in aller Welt einem groß angelegten Experiment unterzogen: Darf die Nachrichten- und Informationsinfrastruktur eines Landes, die das Rückgrat jeder Demokratie bildet, von digitalen Kommunikationstechnologien abhängig sein, die eine weltumspannende Zone schaffen, in der jeder mit unbegrenzter Reichweite seine Meinung ungehindert äußern kann und in der riesige Mengen von Algorithmen geschaffene Fehl- und Desinformationen kursieren, die mit beispielloser Leichtigkeit verbreitet werden können?

Es hat sich erschreckend deutlich gezeigt, dass dieses Experiment aus dem Ruder gelaufen ist, wie ein Frankenstein-Monster, das marodierend durch die Lande zieht. Facebook ist nicht mehr einfach nur ein „soziales Netzwerk“, sondern der größte Mediengigant der Weltgeschichte, eine Mischung aus Verlag und Sender mit etwa 2,6 Milliarden Stammnutzern und weiteren Milliarden von Nutzerinnen und Nutzern auf den zu Facebook gehörenden Anwendungen Whatsapp und Instagram. Alleine 100 Posts von Falschmeldungen zu Covid-19 auf Facebook wurden 1,7 Millionen Mal geteilt und 117 Millionen Mal aufgerufen – das übertrifft bei Weitem die tägliche Leser- und Zuhörerschaft von New York Times, Washington Post, Bild, Daily Mail, Le Monde, Süddeutsche Zeitung, FAZ, ARD, BBC und CNN zusammen.

In mehr als 70 Ländern werden die Medienmonopole Facebook, Google und Twitter von skrupellosen Akteuren für Desinformationskampagnen missbraucht, um Wahlen zu manipulieren oder sogar Rodrigo Duterte auf den Philippinen zum Wahlsieg zu verhelfen und um Kinderschänder, Pornografen und den Massenmord an Muslimen im neuseeländischen Christchurch per Livestream zu verbreiten. Wie können wir gemeinsam etwas gegen den Klimawandel unternehmen, wenn die Youtube-Videos über den Klimawandel mehrheitlich die Erkenntnisse der Wissenschaft leugnen und 70 Prozent dessen, was sich zwei Milliarden Youtube-Nutzer ansehen, von einem sensationsorientierten Empfehlungsalgorithmus stammt?

Herkömmliche Medien setzen menschliche Kuratoren ein, die entscheiden, was sie in den Newsstream einspeisen. Dabei müssen sie sich an bestimmte Gesetze und Vorschriften halten, die sie bis zu einem gewissen Grad haftbar machen. Aber die Roboter-Algorithmen von Facebook, Google und Twitter sind auf Autopilot geschaltet, ähnlich wie Killerdrohnen, für die kein Mensch eine Verantwortung oder Haftung übernimmt. Das ist gefährlich in einer Demokratie. Dass alle drei Plattformen die Accounts des Präsidenten der Vereinigten Staaten ohne gerichtliches Verfahren sperren oder Inhalte mit Warnhinweisen versehen und algorithmisch kuratieren dürfen, was die Nutzer sehen, zeigt, dass sie Verlage sind und nicht einfach „öffentliche Plätze“ oder eine weltweite Agora für die freie Meinungsäußerung.

Es hat sich erschreckend deutlich gezeigt, dass dieses Experiment aus dem Ruder gelaufen ist, wie ein Frankenstein-Monster, das marodierend durch die Lande zieht.

Als Verlage ermöglichen diese Plattformen eine so massive Spaltung, Verwirrung und Empörung von Menschen, dass das Fundament der Gesellschaft, das sich aus gemeinschaftlich vertretenen Wahrheiten, Sinnstiftung und Gemeinsamkeiten bildet, brüchig geworden ist. Es zeigt sich, dass das Kuratieren von Inhalten durch nicht menschliche Instanzen in Kombination mit einer unbegrenzten Nutzerzahl und grenzenlosen Weiterverbreitung als Grundlage für die Medieninfrastruktur unserer Demokratien absolut untauglich ist.

Dennoch erkennen Vizepräsidentin Vestager und die EU-Kommission anscheinend nicht, dass ihr Wettbewerbskonzept wenig dazu beiträgt, diesen gefährlichen Fehlentwicklungen entgegenzuwirken. Das bisherige Konzept der Kommission geht schlicht nicht weit genug, um mit den Besonderheiten des Big-Tech-Mediengeschäftsmodells zurechtzukommen.

Es ist Zeit für einen grundlegenden Neustart – nicht nur um unsere Demokratien zu retten, sondern auch um die bestmöglichen Voraussetzungen für die Neugestaltung dieser digitalen Medientechnologien zu schaffen, damit wir ihr Potenzial wiederentdecken und die Risiken reduzieren können.

Um einen besseren Plan für die Zukunft zu entwickeln, muss man sich vor allem bewusst machen, dass diese Unternehmen aus dem Silicon Valley dabei sind, die neue öffentliche Infrastruktur für das digitale 21. Jahrhundert zu kreieren. Dazu gehören Suchmaschinen, globale Portale für Nachrichten und Networking, Filme, Musik und Livestreaming im Internet, GPS-Navigationsapps, kommerzielle Online-Marktplätze und digitale Arbeitsmarktplattformen.

Die Konzerne weisen uns gerne darauf hin, dass sie uns das alles kostenlos zur Verfügung stellen und wir dafür lediglich dem uneingeschränkten Zugriff auf unsere privaten Daten zustimmen müssen. Dies ist allerdings, wie sich gezeigt hat, ein sehr hoher Preis. Sogar Vestager bezweifelt, dass diese Dienste tatsächlich kostenlos sind: „Ich hätte gerne ein Facebook, für das ich monatlich Gebühren zahle, dafür aber ohne Tracking und Werbung und stattdessen mit allen Datenschutzvorteilen.“

Diese Unternehmen haben nie gefragt, ob sie unsere privaten Daten abgreifen oder unsere physischen Standorte nachverfolgen dürfen.

Warum also ist sie dann so zurückhaltend? Die EU sollte ein ganz neues Geschäftsmodell verlangen und diese Konzerne eher wie private Versorgungsunternehmen behandeln. Genau so sind Europa und die USA in ihrer Geschichte mit der Telefon-, Eisenbahn- und Stromindustrie verfahren, sobald sie aufgrund ihrer Größe eine Monopolstellung erreicht hatten, die – um mit DSA und DMA zu sprechen – „systemische Risiken“ birgt (sogar Mark Zuckerberg hat einen solchen Ansatz vorgeschlagen). Als Versorgungsunternehmen müssten sie genauso wie klassische Offline-Unternehmen diverse Genehmigungen beantragen und sich an eine digitale Betriebsgenehmigung halten, in der die Regeln und Vorschriften des Geschäftsmodells festgelegt werden.

Zunächst einmal würde eine solche Genehmigung die Plattformen dazu verpflichten, dass sie die Erlaubnis der Nutzerinnen und Nutzer einholen, bevor sie private Daten sammeln – also „Opt-in“ statt „Opt-out“. Diese Unternehmen haben nie gefragt, ob sie unsere privaten Daten abgreifen oder unsere physischen Standorte nachverfolgen oder jedes „Like“, „Share“ und „Follow“ massenhaft zu psychografischen Profilen bündeln dürfen, die von Werbetreibenden und politischen Akteuren für die gezielte Nutzeransprache eingesetzt werden. Mit diesem „Datenklau“ haben die Plattformen heimlich begonnen.

Soll die Gesellschaft diese Praxis weiterhin zulassen? Nach den Gesetzesentwürfen für DSA und DMA hätten die Verbraucher das Recht, Inhaltsempfehlungen abzulehnen, aber das würde die Verantwortung an der falschen Stelle abladen. Standard sollte vielmehr sein, dass Plattformen ohne Zustimmung des Nutzers keine privaten Daten erfassen dürfen. Warum lässt die EU diesen unguten „Überwachungskapitalismus“ weiter zu?

Das neue Geschäftsmodell sollte auch dadurch den Wettbewerb fördern, dass es die gigantische Adressaten-Reichweite dieser digitalen Medienmaschinerie begrenzt. Brauchen die Nutzerinnen und Nutzer wirklich mehrheitlich die Möglichkeit, ein Millionenpublikum oder auch nur Tausende von Menschen zu erreichen? Das ist eine weitaus größere Reichweite als die, die während nahezu der gesamten Menschheitsgeschichte Könige, Premierminister und Präsidenten hatten.

Einige führende Persönlichkeiten fordern die kartellrechtliche Zerschlagung dieser Konzerne. Dieser Eingriff hat etwas für sich, aber machen wir uns nichts vor: Wenn Facebook gezwungen wird, Whatsapp und seine zwei Milliarden Nutzer auszugliedern, und sich sonst nichts am Geschäftsmodell ändert, führt dies einfach nur zur Entstehung eines weiteren Big-Tech-Mediengiganten. Mehr Wettbewerb ist gut, aber nicht gerade dann, wenn Unternehmen nach Marktregeln miteinander konkurrieren, die sie selbst beschlossen haben.

Mehr Wettbewerb ist gut, aber nicht gerade dann, wenn Unternehmen nach Marktregeln miteinander konkurrieren, die sie selbst beschlossen haben.

Es gäbe auch eine andere Möglichkeit, die Nutzerpools zu verkleinern: Man könnte Anreize schaffen, sich von dem auf zielgerichteter Werbung basierenden Erlösmodell zu verabschieden und dazu überzugehen, dass Nutzer monatlich Gebühren zahlen – sich also so zu finanzieren wie Netflix oder öffentlich-rechtliche Sender wie ARD oder BBC. Auch das würde wahrscheinlich zu einem Rückgang der Nutzerzahlen führen. Vestager hat sich für diese Möglichkeit ausgesprochen.

Man könnte die Betriebsgenehmigung für digitale Medien auch an die Bedingung knüpfen, dass die Plattformen den Adressatenkreis (audience size) für alle nutzergenerierten Inhalte deutlich begrenzen. Und dann müsste Facebook seine 10 000 menschlichen Moderatoren noch beauftragen, ausgewählte Informationen von öffentlichem Interesse stärker zu verbreiten, statt sich sisyphosartig der Flut durchgeknallter Desinformation entgegenzustemmen.

Die digitale Betriebsgenehmigung sollte auch den ausufernden Einsatz bestimmter „Engagement“-Techniken auf den Plattformen beschränken, die – das haben sowohl Forschung als auch persönliche Erfahrung gezeigt – zu sozialer Isolation, Depression und Selbstmord bei Jugendlichen beitragen und unsere Demokratien schädigen. Dazu gehören das Hyper-Targeting von Inhalten und Werbung, automatische Empfehlungen, Sucht erzeugende Verhaltensanreize (wie Pop-up-Bildschirme, Autoplay und Endlos-Scrollen), verschlüsselte private Internetgruppen und andere „Dark Pattern“-Methoden, die der Desinformation und Manipulation Vorschub leisten.

Wenn man bedenkt, wie viel auf dem Spiel steht, ist nicht nachvollziehbar, warum die Kommission nach wie vor nur ihr kleines Wettbewerbshämmerchen schwingt. Dass der Wettbewerb im Fokus steht, geht auf die Zeit von 2004 bis 2014 zurück, als José Manuel Barroso EU-Kommissionspräsident war. Damals verfolgte die Europäische Union vor allem die Strategie, „die EU zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen“. Dieser Kurs scheiterte 2008 mit dem weltweiten Kollaps und 2010 mit der Eurokrise, aber sein Einfluss überlebte in Form der späteren obsessiven europäischen Sparpolitik. Heute geistert er wie ein verirrter Untoter durch die Versuche der Kommission, ein paar kraftlose Regeln für Big Tech aufzustellen.

Wirkungslose Regelungen sind schlimmer als gar keine Regelungen, denn sie führen zu einem trügerischen Kontrollgefühl und möglicherweise dazu, dass sich ein schwacher internationaler Standard etabliert. Die Herausforderung besteht jetzt darin, sinnvolle Leitlinien für diese digitale Infrastruktur aufzustellen, die dafür sorgen, dass die positiven Seiten dieser Technologien genutzt und ihre Gefahren erheblich vermindert werden. Facebook, Google und Twitter haben ihre eigenen profitgierigen Regeln durchgesetzt, die eine Bedrohung für Demokratien (und ebenso für den freien Wettbewerb) darstellen. Es ist an der Zeit, diese Ära der Selbstregulierung zu beenden. Dieser Meinung scheint auch die EU zu sein. Dafür braucht es allerdings ein kraftvolleres und demokratischeres Rahmenkonzept als die überholte, technokratische Wettbewerbsfixierung der EU.

Aus dem Englischen von Christine Hardung