Neun Monate haben Spaniens Sozialpartner im vergangenen Jahr um die Neufassung der Arbeitsgesetzgebung gerungen. Nach zähen Verhandlungen erzielten Arbeitgeber, Gewerkschaften und Regierung kurz vor Weihnachten eine Einigung. Am 3. Februar wurde das neue Gesetz nun nach einer heißen Debatte im Parlament verabschiedet – mit einer hauchdünnen Mehrheit von einer Stimme.
Für die progressive Minderheitsregierung unter Pedro Sanchez von der sozialistischen PSOE war dieses Reformprojekt ein Herzstück des Regierungsprogramms. Wichtigstes Ziel war, die mit der Reform von 2012 verlorenen Rechte und Einflussmöglichkeiten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wiederherzustellen sowie Tarifverhandlungen zu stärken und die Arbeitsgesetzgebung den veränderten wirtschaftlichen Bedingungen anzupassen.
Trotz Erholung leiden die spanische Wirtschaft und der Arbeitsmarkt nach wie vor unter strukturellen Schwächen.
Spanien, immerhin viertgrößte Wirtschaftskraft in der Eurozone, hat in den vergangenen Monaten begonnen, sich erstaunlich gut von der Krise zu erholen. Die Beschäftigungsquote ist höher als jemals zuvor. Dennoch leiden die spanische Wirtschaft und der Arbeitsmarkt nach wie vor unter strukturellen Schwächen. Die Abhängigkeit von krisenanfälligen Sektoren wie dem Tourismus bleibt hoch. Die Arbeitslosigkeit lag im November 2021 bei 14,1 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit bei knapp 30 Prozent – immer noch ein trauriger Spitzenwert innerhalb der EU.
Die progressive Regierung plant große Veränderungen auf dem Weg zu einer sozialökologischen modernen Wirtschaft. Dafür möchte Spanien auch die mit dem Wiederaufbaufonds der EU bereitgestellten Mittel in Höhe von 140 Milliarden Euro nutzen, die jeweils zur Hälfte Förderung und Kredit sind. Die Neufassung der Arbeitsgesetzgebung hat die EU zur Voraussetzung für die Auszahlung der nächsten Tranche von 12 Milliarden Euro gemacht. Eine Reform des Pensionssystems zu dessen Stabilisierung zählt ebenfalls zu den vereinbarten Konditionen für die Freigabe der Mittel.
Insbesondere die prekär Beschäftigten, wie beispielsweise Reinigungspersonal in Hotels, aber auch im Bausektor und in der Landwirtschaft Tätige, sollen laut Arbeitsministerin Yolanda Diaz von der neuen Arbeitsgesetzgebung profitieren. Das Einkommen der „Kellys“, wie sich die Gewerkschaft des Reinigungspersonals in Hotels nennt, soll um bis zu 2 500 Euro im Jahr steigen.
Insbesondere die prekär Beschäftigten, wie beispielsweise Reinigungspersonal in Hotels, aber auch im Bausektor und in der Landwirtschaft Tätige, sollen von der neuen Arbeitsgesetzgebung profitieren.
In Spanien sind derzeit rund 25 Prozent der Verträge befristet, vor allem im Bildungs- und Gesundheitssektor. Die unbegründete zeitliche Befristung von Verträgen wurde mit der Gesetzesreform nun abgeschafft. Der Kündigungsschutz wurde nicht weiter verschärft – ein Ergebnis, das den Arbeitgebern entgegenkommt. Für die Saisonarbeit wurden permanente Saisonarbeitsverträge eingeführt. Kurzarbeit wurde als beschäftigungspolitisches Instrument für Krisenzeiten fest etabliert. Die Informationsrechte von Gewerkschaften und die Prüfungsmöglichkeiten der staatlichen Arbeitsinspektion wurden gestärkt. Branchentarifverträge haben nun wieder Vorrang vor betrieblichen oder regionalen Tarifverträgen.
Die Präsidenten der beiden großen spanischen Gewerkschaftsdachverbände Union de Trabajadores (UGT) und Comissones Obreras (CCOO) bezeichneten die Reform als den „größten Fortschritt bei den Arbeitnehmerrechten in der Geschichte des demokratischen Spaniens“. Auch die Arbeitgeber zeigten sich zufrieden. Arbeitgeberpräsident Antonio Garamendi hatte sich zuletzt gegen jede Änderung des verhandelten Pakets ausgesprochen.
Dass es bei der Abstimmung so knapp werden würde, war selbst kurz zuvor nicht abzusehen. Überraschenderweise hatten Parteien der PSOE-geführten Minderheitsregierung angekündigt, gegen die Reform zu stimmen, während Oppositionsparteien, wie die rechtsliberalen Ciudadanos, dafür stimmen wollten.
Die Präsidenten der beiden großen spanischen Gewerkschaftsdachverbändebezeichneten die Reform als den „größten Fortschritt bei den Arbeitnehmerrechten in der Geschichte des demokratischen Spaniens“.
Gegen Ende der hitzigen Debatte setzte sich die Auffassung durch, dass es sich um eine lagerübergreifende Mehrheit handele und dies als Fortschritt für die polarisierte politische Kultur in Spanien zu sehen sei, wo dies eine Seltenheit ist. Dennoch war es bitter, dass die Minderheitskoalition bei der Abstimmung keine Einigkeit erzielen konnte. Kleinere linke Regionalparteien wie die katalanische ERC wollten die Reform nicht mittragen. Sie ginge nicht weit genug, sei eine „Farce“, wurde aus ihren Reihen kritisiert.
Dass das Gesetz letztlich verabschiedet wurde, ist dem Versehen eines Abgeordneten der rechtskonservativen Partido Popular (PP) zu verdanken, der irrtümlich mit Ja abgestimmt hatte und somit die hauchdünne Mehrheit von 175 zu 174 Stimmen ermöglichte. Die PP hat bereits angekündigt, gegen das Abstimmungsergebnis gerichtlich vorzugehen. Ob es sich für die PP auszahlt, sich aus parteipolitischem Kalkül gegen ein verhandeltes Abkommen der Sozialpartner zu stellen, ist zu bezweifeln.
Vizepräsidentin und Arbeitsministerin Yolanda Diaz, die als Mitglied der kommunistischen Partei dem Linksbündnis Unidas Podemos in der Regierungskoalition angehört, hatte das Abkommen mit den Sozialpartnern verhandelt. Sie begrüßte die Verabschiedung des Gesetzes als wichtigen Erfolg, beklagte aber gleichzeitig, dass das Vorgehen bei der Abstimmung ein schlechtes Licht auf die Kompromissfähigkeit der Parteien und die Leistungsfähigkeit des parlamentarischen Systems werfe. Der 3. Februar wird auf jeden Fall in die Geschichte eingehen – nicht als Glanzstück parlamentarischer Arbeit, aber als wichtiger Fortschritt für die Rechte der spanischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.