Seit mehr als einem Jahrzehnt erzielen digitale Arbeitsplattformen in Europa enorme Gewinne mit einem Geschäftsmodell, das auf einem harten Preiswettbewerb für Arbeitskräfte und der Auslagerung von Sozialkosten und Risiken basiert. Indem Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gezwungen werden, sich als Selbständige zu bezeichnen, obwohl in Wirklichkeit ein eindeutiges Angestelltenverhältnis besteht, umgehen die Plattformen Mindestlöhne und Branchentarifverträge sowie Sozialversicherungsbeiträge – um nur einige ihrer eigentlichen Pflichten als Arbeitgeber zu nennen. Dank derartiger „Innovation“ können sie niedrigere Preise für ihre Dienstleistungen anbieten.
Diese Entwicklungen haben sich nachteilig auf die europäische Gesellschaft ausgewirkt: nicht nur in Form einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und der Lebensqualität für die Arbeitnehmerinnen, sondern auch durch negative Auswirkungen auf die traditionellen Sektoren und die Einnahmen der öffentlichen Hand. Inzwischen wird dieses Modell auf immer neue Branchen übertragen. Mit seinem unlauteren Wettbewerb hat es enorme Auswirkungen auf die Zukunftsfähigkeit traditioneller Unternehmen.
Am 9. Dezember 2021 hat die Europäische Kommission eine neue EU-Richtlinie vorgeschlagen, um die Arbeitnehmerrechte im Bereich der Digitalwirtschaft zu sichern. Im Großen und Ganzen handelt es sich um einen ambitionierten Versuch, ein Geschäftsmodell zu regulieren, mit dem digitale Plattformen bisher riesige Gewinne gemacht haben, indem sie sich ihren grundlegenden Verpflichtungen als Arbeitgeber entziehen konnten – auf Kosten der Beschäftigten, der klassischen Arbeitgeber und der unterfinanzierten öffentlichen Stellen.
Die vorgeschlagene EU-Richtlinie ist im Großen und Ganzen ein ambitionierter Versuch, ein Geschäftsmodell zu regulieren, mit dem digitale Plattformen bisher riesige Gewinne gemacht haben, indem sie sich ihren grundlegenden Verpflichtungen als Arbeitgeber entziehen konnten.
Der Vorschlag der Kommission ist besonders begrüßenswert, da er sich gegenüber 2016 stark weiterentwickelt hat, als erstmalig eine „Europäische Agenda für die kollaborative Wirtschaft“ vorgeschlagen wurde. Offensichtlich unter dem Einfluss und Druck der Lobbyisten der großen Digitalplattformen, übernahm die Kommission vor sechs Jahren jedoch das Narrativ, diese Unternehmen würden eine neue Branche „erfinden“, Arbeitsplätze schaffen und mehr Flexibilität bieten. Die EU rief diejenigen Mitgliedstaaten, die Bedenken hinsichtlich der Arbeitsbedingungen äußerten, dazu auf, nicht vorschnell zu regulieren. Schließlich dürfe man nicht „die Wirtschaft killen“.
Inzwischen schlägt sich die Kommission mit ihrer geplanten Richtlinie jedoch auf die Seite der Arbeitnehmer. Im Kern zielt ihr Vorschlag darauf ab, ein Angestelltenverhältnis zwischen Beschäftigten und Plattformen zu vermuten und somit die Beweislast von der Arbeitnehmerin auf den Arbeitgeber zu verlagern. Anders gesagt: Eine digitale Plattform soll stets als klassischer Arbeitgeber betrachtet werden – es sei denn, die Plattform kann das Gegenteil beweisen.
Eine digitale Plattform soll stets als klassischer Arbeitgeber betrachtet werden – es sei denn, die Plattform kann das Gegenteil beweisen.
Damit dies wirksam umgesetzt werden kann, müssen digitale Plattformen, die sich gegen die Arbeitgeber-Vermutung wehren, gezwungen sein, diese zu widerlegen. Dann müssten diese Arbeitsplattformen ihre Algorithmen offenlegen, um zu beweisen, dass sie tatsächlich keine Arbeitnehmerinnen beschäftigen, sondern mit Freiberuflern zusammenarbeiten. So würde das Geschäftsmodell derjenigen Plattformen, die mit „echten“ Selbständigen zusammenarbeiten, nicht beeinträchtigt – und Selbständige hätten im Gegenzug vollständige Klarheit darüber, mit welchen Plattformen sie angemessen zusammenarbeiten können.
Für uns als europäische Gewerkschaftsbewegung standen in den vergangenen zwei Jahren garantierte Arbeitsverträge und die Achtung der Arbeitnehmerrechte bei gleichzeitiger Ermöglichung echter selbständiger Arbeit im Mittelpunkt unseres Engagements. Eine solche Regelung ist deshalb wichtig, weil es einfach nicht so weitergehen kann wie bisher: Aktuell werden alle Arbeitnehmerinnen auf digitalen Arbeitsplattformen als Selbständige betrachtet, wenn die Plattform dies so will. Die Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaften müssen bislang die Unternehmen vor Gericht bringen, um ihren faktischen Status als Angestellte zu beweisen. Dies ist ein kostspieliges, langwieriges und aufwändiges Verfahren, das sich nur wenige leisten können.
Solche Gerichtsverfahren führen auch nicht zu einer Änderung des Geschäftsmodells der Plattform, geschweige denn zu einer Verbesserung der Bedingungen für die anderen Arbeitnehmerinnen. In der Regel erhält der Kläger lediglich einen Pauschal-Entschädigungsbetrag in Höhe des Mindestlohns. Die Plattform profitiert indes munter weiter von der Auslagerung aller Risiken auf Kosten des Arbeitnehmerschutzes. Deshalb ist die von der EU nun vorgeschlagene Annahme, dass immer ein Angestelltenverhältnis vorliegt, von entscheidender Bedeutung: Sie stopft dieses bisherige Schlupfloch.
Mit der vorgeschlagenen Gesetzgebung wären Plattformen verpflichtet, den Arbeitnehmerinnen und ihren Gewerkschaften ihre Algorithmen zu erläutern, und sie müssten auch Tarifverhandlungen führen.
Mit der vorgeschlagenen Gesetzgebung wären die Algorithmen, die für die Jobvergabe und die Personalverwaltung verwendet werden, keine „Black Box“ mehr: Plattformen wären verpflichtet, den Arbeitnehmerinnen und ihren Gewerkschaften ihre Algorithmen zu erläutern, und sie müssten auch Tarifverhandlungen führen. Gemeinsam mit den Gewerkschaften müssten einheitliche Regeln dafür festgelegt werden, wie sich der Algorithmus auf die Gestaltung der Arbeit und die Arbeitsbedingungen auswirkt.
In dieser Hinsicht ist der Kommissionsvorschlag für eine Richtlinie ein guter Anfang. Allerdings müssen das Europäische Parlament und der Europäische Rat ihn noch weiter verbessern. Einer der Hauptmängel des Gesetzentwurfs sind die Kriterien, nach denen ein Angestelltenverhältnis vermutet wird. Der aktuelle Text besagt, dass bei einer digitalen Plattform zwei Bedingungen erfüllt sein müssen, um diese Vermutung zu begründen. Das ist wiederum ein aufwändiges Verfahren, das die Widerlegungspflicht seitens der Unternehmen weitgehend nutzlos machen würde und dazu führen könnte, dass eine ähnliche Situation wie bisher bestehen bleibt: Eine Situation, in der weiterhin die Arbeitnehmer dafür verantwortlich sind, dass ihre Rechte anerkannt werden. Außerdem sind die angedachten Kriterien unflexibel und werden der Realität, wie die Plattformen ihre Arbeiter anstellen, nicht gerecht. Mit der aktuellen Formulierung und den Kriterien könnten digitale Arbeitsplattformen ihre jeweiligen Geschäftsbedingungen leicht anpassen, um von diesem Gesetz schlicht nicht erfasst zu werden.
Der aktuelle Vorschlag für eine EU-Richtlinie ist noch nicht perfekt und sollte daher vom Europäischen Parlament und vom Rat nachgebessert werden.
Noch wichtiger ist, dass es für die EU-Mitgliedstaaten unmöglich ist, die tatsächlichen Arbeitsverhältnisse korrekt zu erfassen, ohne angemessen zu prüfen, wie der Algorithmus die Arbeit organisiert. Wenn die Verlagerung der Beweislast von den Arbeitnehmerinnen auf die Arbeitgeber das allgemein akzeptierte Prinzip wird, dann ist die tatsächliche Bewertung des Beschäftigungsverhältnisses erst zum Zeitpunkt eines Widerspruchsverfahrens seitens der Unternehmen möglich. Wenn digitale Arbeitsplattformen anstreben, ein Angestelltenverhältnis mit ihren Arbeitnehmerinnen zu widerlegen, dann sollten sie ihren Algorithmus der zuständigen Verwaltungs- oder Justizbehörde zugänglich machen müssen.
Der aktuelle Vorschlag für eine EU-Richtlinie trägt den Anliegen der Gewerkschaftsbewegung insgesamt Rechnung und zielt darauf ab, die Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer auf Plattformen zu verbessern. Er ist jedoch noch nicht perfekt und sollte daher vom Europäischen Parlament und vom Rat nachgebessert werden. Um sicherzustellen, dass dies auch wirklich geschieht, wird die europäische Gewerkschaftsbewegung für die Rechte und Interessen der Arbeitnehmerinnen kämpfen und den Lobbying-Taktiken der Plattformen, die ihr aktuelles, unhaltbares Geschäftsmodell aufrechterhalten wollen, entschieden entgegentreten.
Aus dem Englischen von Tim Steins