Donald Trump ist zurück und wird die kommenden vier Jahre die Geschicke der USA bestimmen. In Europa löst das, abgesehen von wenigen Ausnahmen wie Viktor Orbán, tiefe Besorgnis aus. Denn seit Monaten orakeln viele Beobachter, dass mit einer erneuten Präsidentschaft Trumps sicherheits- und verteidigungspolitisch harte Zeiten auf die EU, besonders auf Deutschland, zukommen könnten. Die Sorge wächst, künftig im Umgang mit Moskau weitgehend auf sich gestellt zu sein.

Diese Besorgnis beruht vor allem auf Erfahrungen aus Trumps erster Amtszeit, seinen oft unberechenbaren Äußerungen und der veränderten geopolitischen Lage seit 2022. Durch den potenziellen „Abschied des Hegemons“ drängen sich wichtige Fragen auf: Erstens, können die Europäer die militärische Unterstützung der Ukraine alleine schultern? Zweitens, kann sich die EU oder wenigstens der europäische Teil der NATO gegen Moskau verteidigen? Dabei spielen Faktoren wie politischer Wille, klare Signale und die Wirkung von Abschreckung selbstverständlich eine wichtige Rolle. Das ist schwer zu ermessen in der aktuellen Situation. Letztendlich beruhen die Antworten auf greifbaren, zählbaren Faktoren: den tatsächlichen militärischen Fähigkeiten in Europa.

Wie könnte die Unterstützung für die Ukraine weitergehen, wenn sich die USA zurückziehen? Ohne die USA gaben die europäischen NATO-Partner im vergangenen Jahr bereits 373,5 MilliardenUS-Dollar für Verteidigung aus. Dieser Wert wird 2024 voraussichtlich deutlich über 400 Milliarden steigen und im nächsten Jahr weiter zulegen. Doch der vollständige Rückzug der USA würde in entscheidenden Bereichen empfindliche Lücken hinterlassen, die Europas Sicherheitslage beeinträchtigen könnten.

Um diese Lücken zu füllen, müsste Europa erheblich mehr von seinem Tafelsilber, sprich modernen Waffensystemen, in die Ukraine liefern.

Um diese Lücken zu füllen, müsste Europa erheblich mehr von seinem Tafelsilber, sprich modernen Waffensystemen, in die Ukraine liefern. Das ist grundsätzlich machbar, setzt jedoch starken politischen Willen voraus. Washington stellt aktuell einen großen Anteil am NATO-Gesamtbestand: 37 Prozent der gepanzerten Truppentransporter und Schützenpanzer sowie 53 Prozent der Luft- und Raketenabwehrsysteme stammen aus den USA. Gerade Letztere sind für die ukrainische Verteidigung entscheidend. Die aus unterschiedlichen Systemen zusammengewürfelte Luftverteidigung der Ukraine wird von der russischen Armee tagtäglich herausgefordert, hat einen hohen Raketenverbrauch und musste in diesem Jahr empfindliche Materialverluste erleiden.

Obwohl europäische NATO-Staaten, insbesondere Deutschland mit den IRIS-Systemen, die Ukraine massiv unterstützen, wäre ein Stopp US-amerikanischer Lieferungen ein kaum zu kompensierender Rückschlag. Während die USA auf bestehende Reserven zurückgreifen können, müssten europäische Staaten ihre Rüstungsproduktion ausweiten, um die eigene Verteidigungsfähigkeit nicht zu gefährden. Bisher hat der Abnutzungskrieg in der Ukraine zunächst ältere Geräte sowjetischen Designs verschlissen, bevor auf eingemottete, ältere westliche Systeme zurückgegriffen wurde. Viele dieser Systeme älterer Generationen lagern weiterhin bei europäischen Armeen und in der Industrie.

Die Frage bleibt, in welchem Fall (abhängig von der Frontlage) und in welchem Ausmaß (abhängig von vorhandenen Soldaten) solche Systeme zukünftig an die Ukraine geliefert werden. Ein aktuelles Beispiel aus Frankreich zeigt, wie europäische Länder im Falle eines US-Rückzugs einspringen könnten: So konnte Paris eine leichte Brigade der Ukraine mit 128 älteren VAB-Truppentransportern vollständig ausstatten. Ob solche Maßnahmen jedoch europaweit Schule machen, bleibt fraglich, da der Personalmangel der Ukraine weiterhin ein großes Problem darstellt.

Unterm Strich kann Europa den Rückzug der USA kompensieren, müsste dafür jedoch deutlich tiefer in die Tasche greifen.

Unterm Strich kann Europa den Rückzug der USA kompensieren, müsste dafür jedoch deutlich tiefer in die Tasche greifen. Offen bleibt dabei zudem, welchem Ziel diese Lieferungen dienen sollen. Dazu bedarf es eines erfolgversprechenden, belastbaren Kriegsführungsmodells auf ukrainischer Seite. Unklar ist zudem, ob Europa und Kiew sich auf ein gemeinsames Verständnis von Erfolg einigen können. 

Und damit zur zweiten Frage: Kann der europäische Teil der NATO sich selbst verteidigen? Russlands Aufrüstung stellt eine Bedrohung dar, die oft mit Blick auf die „blank“ liegenden Armeen Europas diskutiert wird. Hier hilft ein nüchterner Blick auf die Fakten: Russlands Verteidigungsausgaben sind in den letzten 15 Jahren und besonders seit Kriegsbeginn stark gestiegen. Von 36,4 MilliardenUS-Dollar im Jahr 2008 wuchsen sie auf 74,8 Milliarden im Jahr 2023 an und sollen in diesem Jahr auf etwa 140 Milliarden verdoppelt werden. Die europäischen NATO-Staaten geben im gleichen Zeitraum jedoch über 400 MilliardenUS-Dollar aus – kaufkraftbereinigt verringert sich der Vorsprung vor Russland jedoch. Trotzdem wird Europa im laufenden Jahr und in 2025 weiterhin deutlich mehr Geld für Anschaffungen, Übungen sowie Forschung und Entwicklung bereitstellen als Moskau. Hinzu kommt, dass es für ein hinreichendes Funktionieren des russischen Rüstungssektors notwendig ist, die zahlreichen Sanktionen zu umgehen, was spürbare Mehrkosten mit sich bringt.

In den vergangenen 15 Jahren ist die russische Armee um etwa sieben Prozent gewachsen und umfasst heute rund 1,1 Millionen Menschen. In den kommenden Jahren soll sie auf 1,5 Millionen wachsen. Bei allen europäischen NATO-Verbündeten zusammengenommen sank die Truppenstärke im gleichen Zeitraum um etwa 28 Prozent und lag 2023 bei rund 1,89 Millionen. Dabei handelt es sich jedoch nicht um einen europaweit einheitlichen Trend, es gibt deutliche regionale Unterschiede. So verzeichneten einige kleinere Streitkräfte in Zentraleuropa erhebliche Zuwächse (Litauen plus 185 Prozent, Ungarn und Lettland plus 27 Prozent), während größere Armeen in Westeuropa verkleinert wurden (Deutschland minus 26 Prozent, Frankreich minus 42 Prozent und Italien minus 45 Prozent).

Bei der Ausrüstung der europäischen Streitkräfte spielt die technologische Qualität (Kampfwert) der Waffensysteme eine nicht zu unterschätzende Rolle. Die Bedeutung von Lufthoheit demonstrieren Israel im Nahost-Konflikt sowie Russland, wenn auch begrenzt, im Krieg in der Ukraine. Ohne USA und Kanada verfügten die NATO-Staaten Ende 2023 über 1 772 Kampfflugzeuge der vierten und fünften Generation. Dieser Wert ist dieses Jahr spürbar gestiegen, vor allem mit der steigenden Auslieferung der F-35 an europäische Luftstreitkräfte. Russland hingegen besitzt lediglich 679 Maschinen vergleichbarer Qualität. Bis 2030 werden insgesamt 560 F-35 an europäische Armeen ausgeliefert sein. Russland kann hingegen kaum mit einem vergleichbaren Ausbau seiner Luftstreitkräfte rechnen: Von den 76 Su-57-Kampfflugzeugen der fünften Generation, die 2019 bestellt worden waren, wurden bis heute nur etwa 25 ausgeliefert.

Wer sich intensiver mit den russischen Militärreformen und den Entwicklungen im Rüstungssektor der letzten Jahrzehnte befasst, erkennt den großen Unterschied zwischen der schnellen Produktion technisch einfacher Kamikazedrohnen und der Modernisierung alter Kampfpanzer einerseits und der Kapazität zur Herstellung hochmoderner Hauptwaffensysteme andererseits. Zählt man zu diesen Fakten die aktuellen Schwierigkeiten der russischen Armee hinzu, in der Ukraine entscheidende Fortschritte zu erzielen, scheint ein konventioneller Angriff auf europäische NATO-Staaten derzeit kaum durchführbar und eher einem Himmelfahrtskommando gleichzukommen.

Die Ausgangsbasis für Europa ist also keine Aussichtslose und kann zudem aus eigener Kraft verbessert werden.

Die Ausgangsbasis für Europa ist also keine Aussichtslose und kann zudem aus eigener Kraft verbessert werden. Statt den Ausgang der Wahlen in den USA zu beklagen, sollten europäische Staaten ihre Hausaufgaben machen. Die Personalgewinnung und die Aufstockung der Munitionsbestände auf ein angemessenes Maß sind dabei zentrale Prioritäten. Die verstärkte multinationale Übungsintensität der letzten Jahre geht ebenfalls in die richtige Richtung. Da die großen Armeen des Kalten Krieges nicht mehr bestehen, ist es wichtig, in Friedenszeiten die Einsatzbereitschaft der schnellen Eingreiftruppen zu optimieren, um auf eventuelle Überraschungsangriffe – etwa im Baltikum – rasch reagieren zu können.

Beim Schließen möglicher Fähigkeitslücken müssen Entscheidungsträger sorgfältig abwägen, wann eine Bestellung unmittelbar erfolgen muss, weil die Bedrohungs- und Fähigkeitsanalyse dies erfordert, und wann es sinnvoll ist, Defizite in enger Zusammenarbeit mit Verbündeten zu beheben. Letzteres kann länger dauern, was jedoch kein allzu großes Problem darstellt. Schon heute strahlt Europa für potenzielle Aggressoren eine ausreichend glaubhafte Abschreckung aus.

Schon heute strahlt Europa für potenzielle Aggressoren eine ausreichend glaubhafte Abschreckung aus.

Die tägliche Flut an Berichten über militärische Defizite in Europa, gefolgt von Meldungen über Russlands zunehmende Aufrüstung, wechselt sich ab mit Darstellungen, die Putin bereits am Boden sehen, weil Moskau auf veraltete, 70 Jahre alte Waffensysteme angewiesen ist. Dieses ständige Auf und Ab in der Berichterstattung verzerrt die Bedrohungswahrnehmung und verunsichert die Bevölkerung. Eine offene, transparente Kommunikation über die eigenen militärischen Fähigkeiten im Vergleich zu Russland ist daher entscheidend, um das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Verteidigungsfähigkeit Europas zu stärken.

Darauf aufbauend braucht es eine schrittweise und klug im Bündnis abgestimmte Stärkung der eigenen Fähigkeiten. Fehlentscheidungen könnten immense Kosten verursachen, die zu Einschnitten im sozialen Bereich oder zu höherer Staatsverschuldung führen – Entwicklungen, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt schwächen und damit die Verteidigungsfähigkeit von Demokratien gefährden können. Angesichts der Lage in Washington gilt es, keine übereilten Maßnahmen zu treffen, sondern mit klarem Blick auf die eigene Stärke die langfristige Sicherheit zu sichern. Eine Gesellschaft, die diese Zusammenhänge versteht, in der Debatten ohne Panikmache geführt werden können, ist dafür die beste Voraussetzung.