Als Viktor Orbán die empörte Reaktion von EU-Vertretern und Mitgliedstaaten auf sein Treffen mit Putin damit abschmetterte, dass „Brüsseler bürokratischer Unfug keinen Erfolg in der Suche nach Frieden“ gebracht hätte, seufzte ein kanadischer Experte: „Ich bin kein Fan von Orbán, aber da hat er nicht Unrecht.“ Die Maßnahmen der EU-Spitze und der Mitgliedstaaten gegen Orbán wirken kleinlich und gouvernantenhaft. Man mokiert sich über „inakzeptablen Tabubruch“ und will „Kante zeigen“, aber das sind nur Befindlichkeiten, keine inhaltliche Kritik. Der Juristische Dienst der EU konstatierte verdächtig rasch, dass Orbán den „Geist der Loyalität und der gegenseitigen Solidarität“ verletzt habe. Laut einem ehemaligen EU-Beamten und nun unabhängigen Brüsseler Experten ist das „problematisch, weil Politik keine rein juristische Angelegenheit sein kann“. Das bringt uns nicht weiter und hilft niemandem.
Wo sind die respektablen europäischen Staats- und Regierungsoberhäupter? Nach dem Sprichwort: „Wenn nur noch die Narren die Wahrheit sagen, stimmt irgendwas nicht bei Hofe“ – warum nehmen sie Orbán nicht den Wind aus den Segeln, indem sie selbst eine politische Lösung andenken? Warum überlassen sie ihm den Frieden, unser kostbarstes Gut, während sie im Schulterschluss den Kopf in den Sand stecken? Immerhin zeigen die jüngsten Umfragen, dass eine überwiegende Mehrheit der Europäer Verhandlungen will. Der Brüsseler Experte meint, dass die Sanktiönchen, die einige Mitgliedstaaten und die Kommission jetzt gegen Orbán anwenden, ihn wichtiger aussehen lassen, als er ist. „Orbán ist eigentlich ein Trickbetrüger. Er signalisiert an Trump, seine anderen Fans und die ungarische Bevölkerung, dass er einer der Ihren ist und politische Statur hat. Es geht ihm nicht um Resultate, weil er ja immer sagen kann, dass andere seine Bemühungen sabotiert haben.“
Orbáns Reise war eine ziemlich dilettantische Aktion.
Der ungarische Journalist Csaba Tóth kritisiert, dass die EU Orbáns Exzessen schon lange etwas entgegenstellen hätte sollen, etwa als er im Laufe der Flüchtlingskrise 2015 massive Menschenrechtsverletzungen verantwortete. „Damals sahen wir aber kaum eine Reaktion. Und nun auf einmal soll Orbán rote Linien übertreten haben und wird bestraft? Weil er Détente zwischen Russland und der Ukraine anstrebt? Das gibt den Menschen hier zu denken.“ Tatsächlich war Orbáns Reise eine ziemlich dilettantische Aktion. So sieht professionelle, seriöse Diplomatie nicht aus. Das muss er auch wissen, denn nach insgesamt 18 Jahren als Premierminister ist er ein alter Hase.
Seit dem Ausbruch des „großen Krieges“ – wie ihn meine ukrainischen Bekannten nennen – im Februar 2022 hat die politische Klasse Europas scheinbar vergessen, wie Diplomatie funktioniert, beziehungsweise dass sie überhaupt existiert. Angesichts dieser kollektiven Amnesie muss man an Dinge erinnern, die allgemein bekannt sein sollten: Diplomatie lebt von Diskretion. Man pflegt langfristig die Beziehungen, auf die man im Ernstfall bauen kann. Wenn ein Konflikt das sogenannte „Reifestadium“ erreicht, fangen Sondierungsgespräche an, eventuell durch neutrale Dritte vermittelt oder auch mithilfe von einflussreichen Privatpersonen („Track-II Diplomatie“). Wenn es um besonders haarige Dinge geht, wird zunächst vertraulich und nur zwischen Unterverhandlern kommuniziert, um Druck von Gegnern und sogenannten Spoilern, die absichtlich Verhandlungen platzen lassen wollen, zu vermeiden. Man redet erst einmal ohne Vorbehalte, um zu eruieren, was die andere Seite denkt und will. Daraus kann eine erste Verhandlungsgrundlage entstehen. Öffentlich wird erst dann verhandelt, wenn alle Parteien grundsätzlich an Bord sind und es danach aussieht, dass man tatsächlich etwas erreichen kann. Zu Treffen auf höchster Ebene kommt es normalerweise erst, wenn die Verhandler sich auf die meisten Punkte geeinigt haben, die oft umfangreichen technischen Details ausformuliert sind und die Abmachung unterschriftsreif ist. Denn Staats- und Regierungsoberhäupter wollen nicht gerne mit Fehlschlägen in Verbindung gebracht werden (außer sie wollen plakativ zeigen, dass man mit diesem oder jenen Gegenüber nichts erreichen kann).
Orbán ging es wohl ums Rampenlicht – oder vielleicht genau darum, bei den Kollegen im EU-Rat Schnappatmung auszulösen.
Orbán hat also den Pflug vor den Ochsen gespannt. Ohne triftigen Grund, denn Budapest hat Botschaften in Moskau und Peking, deren Mitarbeiter derartige Gespräche diskret führen könnten. Es ging ihm wohl ums Rampenlicht – oder vielleicht genau darum, bei den Kollegen im EU-Rat Schnappatmung auszulösen. Die EU-Mitgliedstaaten, die jetzt beleidigte Leberwurst spielen, die Kommission und Orbán betreiben alle gaslighting der Bürger Europas: Die einen erzählen, dass Diplomatie und eine politische Suche nach Frieden und Sicherheit nicht nur unmöglich und absurd sind, sondern unmoralisch und tabu; der andere tut so, als ob die großen, alten Männer, die die Weltgeschicke leiten, in ein paar Stunden unter vier Augen (wenn auch mit viel Blitzlicht und roten Teppichen) komplexe Probleme lösen können. Beides ist nicht seriös.
Trotz allem kann man Orbán nicht a priori absprechen, dass ihm der Friede ein echtes Anliegen ist, sei es aus moralischen, sei es aus praktischen Beweggründen. Immer wieder haben Staatsmänner, die anderweitig höchst problematisch waren, enorme Beiträge für den Frieden geleistet. Metternich wäre hier zu erwähnen, oder etwa Richard Nixon. Und der türkische Präsident Recep Erdoğan, dessen Regierung die bislang wichtigste Rolle in Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine gespielt hat – erst als Vermittler der erstaunlich produktiven Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland im Frühjahr 2022, dann als Abwicklungszentrum der Schwarzmeer Getreide-Initiative.
Europas Regierungen und Institutionen sollten endlich Verantwortung für den Frieden auf unserem Kontinent übernehmen.
Damit ist nicht gemeint, dass Orbán diese Rolle weiterhin im Alleingang spielen soll. Ganz im Gegenteil: Europas Regierungen und Institutionen sollten endlich Verantwortung für den Frieden auf unserem Kontinent übernehmen. Die Perspektive muss aber geradegerückt werden: Weg von der Vorstellung, dass nur die astreinsten Demokraten Friedensarbeit machen dürfen (wenn sie sich endlich einmal dazu durchgerungen haben), hin zu einer realistischeren, pragmatischeren und professionelleren Sicht der Diplomatie. Die allerwenigsten Kriege enden mit einem Siegfrieden, und die allermeisten enden mit Verhandlungen, auch wenn diese oft nur zu einem de facto Einhalten der Kampfhandlungen führen, wie etwa in Kaschmir, Zypern und der koreanischen Halbinsel. Der Ukraine gehen nicht nur die Soldaten aus, sondern, durch Flucht und kollabierende Geburtenraten, ganz elementar die Menschen. Das Land blutet aus, es verliert seine Zukunft.
Dass der Krieg für beide Seiten nicht zu gewinnen ist, ist im amerikanischen Diskurs, anders als im deutschsprachigen Raum, nicht kontrovers. Die amerikanische Regierungsposition ist seit jeher, dass der Krieg mit Verhandlungen enden wird, allerdings erst dann, wenn die Ukraine die militärische Oberhand erlangt und damit eine bessere Ausgangslage für Verhandlungen hat. Davon kann aber seit mittlerweile eineinhalb Jahren nicht mehr die Rede sein, trotz massiver Unterstützung aus dem Westen, die in der fehlgeschlagenen Gegenoffensive im Sommer 2023 kulminierte. Das Abkommen, das die Ukraine im Frühling 2022 am Verhandlungstisch in Istanbul erzielte, erscheint heute unerreichbar – eine Erkenntnis, die so tragisch ist, dass es einem den Atem verschlägt.
Dass der Krieg für beide Seiten nicht zu gewinnen ist, ist im amerikanischen Diskurs, anders als im deutschsprachigen Raum, nicht kontrovers.
Europas Regierungen können nun aus dem Schmollwinkel über Orbán herziehen und dann stillschweigend wieder zur Tagesordnung übergehen. Oder sie könnten seinen ungelenken, möglicherweise zynischen Vorstoß als Herausforderung sehen, es besser zu machen. Das heißt vor allem auch, alles das, was in den letzten Jahrzehnten über die Beendigung von bewaffneten Konflikten gelernt wurde, anzuwenden. Also etwa das Konzept des people-centered peace, welches human security, also die subjektive Sicherheit der vom Krieg betroffenen Menschen (im Gegensatz zu rein militärisch-politischer Sicherheit), ihre Rechte und ihr Wohlergehen in den Mittelpunkt stellt und damit nachweislich nachhaltigeren Frieden erzielt. Oder, gemäß UNO-Sicherheitsratsresolution 1325, die gleichberechtigte Teilnahme von Frauen auf allen Ebenen derartiger Prozesse.
Es wurde viel darüber spekuliert, ob Boris Johnson im Frühling 2022 der Ukraine angeordnet hat, die Verhandlungen abzubrechen und weiterzukämpfen. Falsch ist es, nur zu fragen, was passiert wäre, wenn Johnson damals nichts getan hätte, denn „Nichts tun“ war nicht die einzige Alternative für den Westen. Die richtige Frage lautet, was geschehen wäre, wenn Europa die Verhandlungen gemeinsam mit der Türkei tatkräftig unterstützt und der Ukraine diplomatische Schützenhilfe geboten hätte.
Nicht alle Friedensprozesse gehen unausweichlich gut aus. Oft scheitern sie einige Male, bevor sie greifen. Sie können Jahre andauern. Aber ich stelle die Behauptung in den Raum, dass, wenn wir im Frühling 2022 die Chance auf Diplomatie ergriffen hätten, heute Zehntausende und vielleicht Hunderttausende Menschen noch am Leben wären und Millionen enormen Schmerz und Trauma nie erfahren hätten. Das sollte zu denken geben. Wir können doch Diplomatie. Mindestens genauso gut wie Waffen bauen und in die Ukraine verfrachten, und sicherlich besser als Orbán.