Das Zerbrechen des transatlantischen Bündnisses vollzieht sich in atemberaubendem Tempo. In der europäischen Öffentlichkeit, von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron über die Redaktionen des Kontinents bis zum Atlantikbrücke-Vorsitzenden, Sigmar Gabriel, herrscht Einigkeit: Es ist ein beispielloser Paradigmenwechsel, der Europa und Deutschland erwartet. Bezeichnend für den Ernst der Lage sind die aktuellen Verhandlungen zwischen CDU und SPD, in denen sich Dimensionen von Investitionen in Verteidigung und Infrastruktur widerspiegeln, die am Wahltag noch als aberwitzig gegolten hätten. Auch Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sprach von einer Rekordsumme von 800 Milliarden Euro für die Aufrüstung unter dem Motto: „ReArm Europe“.
Kurzum, es scheint offensichtlich, dass die EU vor einer historischen Weichenstellung steht und dass die Europäer dringend in die Lage versetzt werden müssen, ihren Platz in der Welt zu behaupten – auch, aber nicht nur militärisch. In der angespannten und pessimistischen Stimmung bleibt jedoch oft eine wichtige Differenzierung unerwähnt: Seit seiner Gründung stand das europäische Bündnis unter immensem Druck, und vieles spricht dafür, dass die aktuelle Lage das Potenzial hat, als Integrationsbooster zu wirken. Ein Sinnbild dafür ist der britische Premierminister Keir Starmer, der in diesen Tagen demonstrativ seine Nähe zu den europäischen Partnern betont und gar als „Anführer eines geeinten Europas“ auftritt. Während der Brexit vor knapp zehn Jahren noch für eine weit über das Vereinigte Königreich hinausreichende EU-Verdrossenheit stand, lässt sich nun ein deutliches Zusammenrücken der Europäer beobachten.
Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass dies kein Zufall ist: In der Politik- und Geschichtswissenschaft gilt es als etablierte Tradition, Krisen als den roten Faden der europäischen Integration zu begreifen. Im aktuellen Kontext jedoch sticht besonders hervor, dass die Bedrohung der EU nicht von innen, sondern erneut von außen kommt – was die Wahrscheinlichkeit eines engeren Zusammenrückens theoretisch sogar noch erhöht. Die Rechnung ist simpel: Je stärker Europas militärische, energetische und wirtschaftliche Sicherheit von Putin und Trump bedroht wird, desto größer ist der Anreiz, sich in diesen Bereichen unabhängiger aufzustellen. Genau hier liegt eine Chance, denn dass gehandelt werden wird, scheint angesichts der rekordverdächtigen Bereitschaft zur Verschuldung außer Frage zu stehen.
Doch es stellt sich die Gretchenfrage: Wie will Europa in den kommenden Tagen und Wochen seine Stärke und Unabhängigkeit sichern – integrativ und gemeinsam oder weitgehend national und allein? Die Bedeutung dieser Entscheidung kann kaum überschätzt werden, da die finanziellen Dimensionen der aktuellen Entwicklungen eine Reihe tiefgreifender Pfadabhängigkeiten für die kommenden Jahre und Jahrzehnte schaffen. Mit anderen Worten: Die fiskal- und finanzpolitischen Debatten hierzulande dürfen die europapolitischen Implikationen dieser Frage nicht in den Hintergrund drängen.
Ein besonders drängendes Beispiel ist die Diskussion über eine europäische Armee.
Ein besonders drängendes Beispiel ist die Diskussion über eine europäische Armee. In der EU existieren derzeit rund 150 verschiedene Waffensysteme – ein fragmentiertes Verteidigungssystem, das mit hunderten Milliarden entweder weiter zementiert oder durch einen ersten Schritt in Richtung einer gemeinsamen Streitkraft überwunden werden kann. Diese Entscheidung wird maßgeblich darüber bestimmen, wie handlungsfähig und zukunftssicher der Kontinent sein wird.
Insbesondere Friedrich Merz kommt als potenziellem Protagonisten eines wiedererstarkten deutsch-französischen EU-Motors eine Schlüsselrolle zu. Dass europäische Vorstöße wie eine gemeinsame Armee nicht länger als naiv, sondern im Gegenteil als realistisch gelten, zeigt der Blick nach Frankreich: Französische Präsidenten, allen voran Emmanuel Macron, beklagen seit Langem den mangelnden Mut Deutschlands, europäische Unabhängigkeit und Integration entschlossen voranzutreiben.
Der realistischere Blick der Franzosen auf die geopolitische Lage lässt sich dabei nicht nur mit kulturellen Unterschieden in der transatlantischen Beziehung erklären. Vielmehr mangelte es der deutschen Politik über Jahre hinweg an strategischer Weitsicht und Entschlusskraft.
Wie eine solche strategische Weitsicht aussieht, bewies Emmanuel Macron bereits vor mehr als vier Jahren in einem aufsehenerregenden Interview nach der Wahl Joe Bidens. Schon 2020 hielt er den Europäern, allen voran den Deutschen, ihre Naivität im Umgang mit den USA vor. Wörtlich unterstellte er der damaligen CDU-Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer gar eine „Fehlinterpretation der Geschichte“ – eine Einschätzung, die sich in diesen Tagen schmerzlich zu bewahrheiten scheint.
Deutschland wäre gut beraten, schnell zu lernen.
Während die deutsche Regierung im Hinblick auf die US-Wahlen offenbar lediglich auf das Prinzip Hoffnung – auf Harris – setzte, hatten die Franzosen schon lange erkannt, wohin der America First-Wind des Jahres 2025 wehen könnte.
So blauäugig die Deutschen sich bislang auch gezeigt haben mögen, entscheidend ist, wie Merz und seine Mitstreiter heute und in Zukunft darauf reagieren werden. Deutschland wäre gut beraten, schnell zu lernen. Bereits 2020 zog Macron seine Schlüsse und forderte: „Wir müssen die Formen internationaler Zusammenarbeit neu erfinden.“ Ein politisch gestärktes und strukturiertes Europa sei essenziell, um im Multilateralismus des 21. Jahrhunderts mitreden zu können.
Besonders deutlich wurde er im sicherheitspolitischen Bereich: „Im geostrategischen Bereich haben wir uns das Nachdenken abgewöhnt, da wir unsere geopolitischen Beziehungen stets nur mittels der NATO definiert haben.“ Die Antwort darauf könne nur der Aufbau eines „deutlich stärkeren Europas“ sein – eines Europas, das seine Stimme, seine Stärke und seine Prinzipien in einem neuen globalen Rahmen zur Geltung bringt. Doch genau diese Vision wiesen Merkel und später auch Scholz immer wieder zurück.
Die CDU präsentiert sich zu Recht als pro-europäische Partei und verweist gerne auf Konrad Adenauer, der bei der Gründung der EU – damals noch die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) – mit am Verhandlungstisch saß und die Aussöhnung mit Frankreich maßgeblich vorantrieb. Heute hat diese Gründungszeit eine neue, unmittelbare Aktualität gewonnen. Schon damals zeigte sich, dass eine externe Bedrohung europäische Staaten zusammenschweißen und die Integration vorantreiben kann.
Der Kalte Krieg und die Expansionsbestrebungen der Sowjetunion waren wesentliche Treiber der europäischen Einigung. Mit dem Vertrag von Rom 1957 wurde nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft geschaffen, um innereuropäische Kriege zu verhindern und wirtschaftliche Interessen zu bündeln. Vielmehr ging es auch darum, der geopolitischen Übermacht der Sowjetunion ein stabiles, geeintes Bündnis entgegenzusetzen – ein Gedanke, der angesichts der aktuellen geopolitischen Herausforderungen wieder hochaktuell ist.
Die Franzosen hätten allen Grund, verbittert oder gar hämisch auf Deutschlands Trägheit und Naivität der vergangenen Jahre zu reagieren.
Ähnlich verhielt es sich in der Jugoslawienkrise, einer weiteren externen Bedrohung, die schon damals die militärische Ohnmacht der EU und ihre Abhängigkeit von der NATO und den USA offenlegte. Als Reaktion darauf entstanden zwar die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) sowie die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP), doch blieben die tatsächlichen Veränderungen weitgehend oberflächlich und unzureichend. Heute jedoch, da sich die USA zunehmend von der EU abwenden oder sich ihr sogar offen entgegenstellen, ist das Window of Opportunity für eine tiefere sicherheitspolitische Integration Europas weit größer als je zuvor.
Die Franzosen hätten allen Grund, verbittert oder gar hämisch auf Deutschlands Trägheit und Naivität der vergangenen Jahre zu reagieren. Doch die Lage ist zu ernst, und noch ist das Kind nicht in den Brunnen gefallen. Jetzt liegt es an Deutschland – und insbesondere an Friedrich Merz –, eine Entscheidung zu treffen:
Ergreift man die seit Langem ausgestreckte Hand Frankreichs und öffnet sich für ein starkes, integratives Europa, das den Paradigmenwechsel aktiv auf EU-Ebene mitgestaltet – etwa durch ambitionierte Impulse für eine europäische Armee? Oder belässt man es beim unambitionierten Pragmatismus, der fragmentierte Investitionen und nationale Politik in EU-Institutionen als europäisch verkaufen will.
Es ist bezeichnend, dass Emmanuel Macron gemeinsam mit Ursula von der Leyen sofort für einen europäischen Verteidigungsfonds plädiert, während der Rest, insbesondere Deutschland, erneut zögert. Friedrich Merz selbst begann seine politische Karriere in Brüssel, saß im EU-Parlament und kennt das europäische Denken aus erster Hand. Doch die entscheidende Frage ist, wie viel davon noch übrig ist – und wie sehr er bereit ist, es in konkretes Handeln zu übersetzen.
Selten passten die oft zitierten Worte des EU-Gründungsvaters Jean Monnet so gut wie heute: „Europa wird in Krisen geschmiedet und wird die Summe der Lösungen sein, die für diese Krisen gefunden werden.“ Die kommenden Wochen werden über diese Lösungen entscheiden – und damit über die Zukunft Europas und Deutschlands. Und es ist Merz, auf den es ankommen wird.