Seit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine stehen die Unterfinanzierung und der Reformbedarf der Bundeswehr im medialen und politischen Fokus. Deutschland sei nicht verteidigungsfähig oder kriegstüchtig; eine Zeitenwende nötig. Auf der Gegenseite halten Stimmen aus politischen Parteien, wie der AfD, BSW, Linken und dem linken Flügel der SPD, aber auch aus der Wissenschaft eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben für unnötig oder gar gefährlich. Erstens führe eine Aufrüstung zu einem Wettrüsten und erhöhe die Gefahr einer Eskalation mit Russland. Zweitens bestehe kein Grund zur Sorge, da die Verteidigungsausgaben der NATO im Vergleich zu Russland um ein Vielfaches höher sein. So wird häufig betont, dass in 2023 die NATO-Staaten 1341 Milliarden US-Dollar, davon entfallen 916 Milliarden auf die Vereinigten Staaten, für Verteidigung ausgaben, während Russlands Verteidigungsetat nur 109 Milliarden US-Dollar umfasse. Die NATO-Staaten geben im Vergleich zu Russland somit das Zwölffache für Verteidigung aus: also kein Grund zur Sorge.

Ein kritischer Blick auf die Daten belegt jedoch, dass die militärische Lage ausgeglichener ist, als es die Verteidigungsausgaben nahelegen. Allen voran sollten Verteidigungsausgaben zur Bestimmung der Bedrohungslage unter Berücksichtigung der Kaufkraftparität miteinander verglichen werden. So lassen sich in vielen Ländern, wie Russland oder China, für jeden Dollar relativ mehr militärische Waren und Dienstleistungen kaufen als in den meisten NATO-Staaten, darunter die Vereinigten Staaten und Deutschland. Peter E. Robertson entwickelte eine Methode zur Berechnung der Wechselkurse für militärische Kaufkraftparität. Bei der Betrachtung der Verteidigungsausgaben nach Kaufkraftparität ändert sich die Bewertung der militärischen Lage drastisch. Das Verhältnis bei den Verteidigungsausgaben der NATO-Länder gegenüber Russland liegt dann nicht mehr bei 12:1, sondern nur noch bei 4:1.

Ohne die Vereinigten Staaten als Bündnispartner läge das Verhältnis sogar bei unter 2:1. Ein Wegfall der USA als zuverlässiger Verbündete wäre mit der Wiederwahl Donald Trumps denkbar, insbesondere wenn keine fairere Lastenverteilung zwischen den NATO-Staaten erreicht wird. Zu Recht beklagen nicht nur Donald Trump, sondern beide Parteien in Washington, dass die Vereinigten Staaten eine unverhältnismäßige Last des Bündnisses tragen. Zusätzlich wäre durch den Wegfall amerikanischer Kommandostrukturen, Logistik, militärischer Aufklärungsfähigkeiten und nachrichtendienstlicher Zusammenarbeit der Schaden für die europäische Verteidigung weitaus größer, als es die Verteidigungsausgaben erahnen lassen.

Aber selbst wenn die USA ein zuverlässiger Bündnispartner blieben, verzerrt eine ausschließliche Berücksichtigung der Verteidigungsausgaben die militärische Einschätzung an der Ostflanke der NATO. Das Militär der Vereinigten Staaten ist über die gesamte Welt verteilt. So müssen die USA immense Kosten für eine globale Logistik und Militärstützpunkte tragen. Viele militärische Kräfte der Vereinigten Staaten werden in anderen Regionen der Welt, wie dem Nahen Osten und Indopazifik, eingesetzt. Käme es zum Beispiel zu einer Eskalation um Taiwan, könnte dies ein Großteil der amerikanischen Streitkräfte binden. Auf eine solche Situation sollten die europäischen NATO-Staaten vorbereitet sein.

Auch die Zusammensetzung der Verteidigungsausgaben gilt es bei der Einschätzung der Verteidigungsfähigkeit zu berücksichtigten. Die gesamten Verteidigungsausgaben verraten nicht, wie viel ein Land für Ausrüstung, Personal, Einsätze und Wartung ausgibt. Im Jahr 2024 wird der Anteil für die Beschaffung von militärischer Ausrüstung und Forschung auf 28,7 Prozent der gesamten Verteidigungsausgaben Deutschlands geschätzt, während 38,5 Prozent für Einsätze und Wartung und 29,6 Prozent für Personal ausgegeben werden. In den 2010er Jahre lag der Anteil für Ausrüstung und Forschung nur bei rund zwölf Prozent. Sicherlich lässt sich hier einwenden, dass Russland hohe Einsatzkosten und Verluste militärischer Kapazitäten in der Ukraine aufweist. Dennoch stellt sich weiterhin die Frage, inwiefern die Bundeswehr für einen dauerhaften Konflikt gewappnet ist.

Um die Bundeswehr wieder fit für die klassische Landesverteidigung zu machen, bedarf es massiver Investitionen.

Auch erfassen die Zahlen zu den Verteidigungsausgaben nicht den Umstand, dass die Bundeswehr in den letzten Dekaden vor allem den Auftrag der Terrorismusbekämpfung und Friedenssicherung hatte, während der klassische Auftrag der Landesverteidigung vernachlässigt wurde. Seit dem Ende des Kalten Krieges hat die Bundeswehr nicht nur ein hohes Investitionsdefizit angehäuft, sondern die getätigten Investitionen und Anschaffungen galten einem völlig anderen Auftragsprofil. Um die Bundeswehr wieder fit für die klassische Landesverteidigung zu machen, bedarf es massiver Investitionen. Hier wird ein einmaliges Sondervermögen nicht ausreichen.

Gleiches gilt für die deutsche und europäische Verteidigungsindustrie, die erst langsam Produktionskapazitäten im Zuge des Ukrainekrieges aufbaut, um Rüstungsgüter und Munition im Falle eines militärischen Großmachtkonflikts ausreichend bereitstellen zu können. Die Europäische Union sieht ein enormes Investitionsdefizit in der europäischen Verteidigungsindustrie. Selbst die amerikanische Verteidigungsindustrie ist für einen langfristigen Konflikt mit China nicht aufgestellt, wie die US-Regierung in der National Defense Industrial Strategy darlegt. Sowohl in der Europäischen Union als auch den Vereinigten Staaten bedarf es eines stabilen Verteidigungsetats, der der Verteidigungsindustrie langfristige Planbarkeit und Investitionssicherheit bietet.  

Sicherlich lassen sich weitere Faktoren nennen, die sich auf das militärische Lagebild zwischen der NATO und Russland auswirken, aber nicht von den Verteidigungsausgaben erfasst werden: der technologische Vorsprung der NATO, die Effektivität der Militärdoktrin oder die Kampferfahrung der Streitkräfte. Es muss auch berücksichtigt werden, dass die Verteidigungsausgaben in Demokratien transparenter sind als in autokratischen Systemen, deren tatsächlichen Verteidigungsausgaben meist schwerer zu schätzen sind. Manche dieser Faktoren mögen für ein sorgenloseres Lagebild, andere für ein bedrohlicheres sprechen.

Das Argument hier ist nicht zwingend für oder gegen eine Erhöhung des Verteidigungsetats, sondern für einen sorgfältigeren Umgang mit Daten. Die Verteidigungsausgaben ohne Berücksichtigung von Kaufkraftparität, der Zusammensetzung der Ausgaben, den operativen Zustand der Bundeswehr und militärisches Lagebild vermitteln ein stark verzerrtes Bild. Sie sind ein unzureichender Indikator für die Messung der militärischen Kräfteverhältnisse und Bedrohungslage. Der Unterschied zwischen den Verteidigungsausgaben der NATO und Russland wirkt zunächst übermächtig. Er legt schnell nahe, Argumente für eine Erhöhung des Verteidigungsetats als absurd abzulehnen. Die oberen Argumente veranschaulichen hingegen, dass die Sachlage nicht so einfach und eindeutig ist. Es bedarf umfassender Analysen und Expertise zu allen angesprochenen Sachverhalten und mehr, um den finanziellen Bedarf für eine funktionierende Abschreckung und bei deren Versagen möglichst effektive Verteidigung einschätzen zu können.

Auch wenn komplexe Sachverhalte für die öffentlichen Debatten vereinfacht werden müssen, wäre von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ein reflektierter Umgang mit Daten zu erwarten. Politikerinnen und Politiker wiederum sollten bedachter sicherheitspolitische Argumente wählen. Eine Sicherheitspolitik, basierend auf einer unkritischen Betrachtung der Verteidigungsausgaben, offenbart nicht nur ein unzureichendes Verständnis für die komplexe Daten- und Sachlage, sondern wäre zutiefst verantwortungslos. Dadurch werden erstens mögliche schmerzhafte und notwendige Reformen für die Landesverteidigung in der Öffentlichkeit delegitimiert. Zweitens führt es zu vorschnellen Schlüssen und möglichen Fehlentscheidungen, die langfristig die nationale und europäische Sicherheit gefährden können. Wenn politische Parteien der nationalen und europäischen Sicherheit gerecht werden wollen, müssen sie die Komplexität der sicherheitspolitischen Lage erfassen und der Öffentlichkeit differenziert vermitteln können.