Als die Ergebnisse der US-Präsidentschaftswahlen bekannt wurden, brach in den sozialen Medien erwartungsgemäß Panik aus, insbesondere was die Zukunft der Ukraine betrifft. Experten und Journalisten zeigten sich überzeugt, eine erneute Präsidentschaft von Donald Trump sei nicht weniger als eine absolute Katastrophe für die Ukraine. Die Realität ist jedoch weitaus nüchterner zu betrachten, als es das Drama in den Social Media nahelegt. Denn auch ein Harris-Sieg wäre aus ukrainischer Sicht kein eindeutiger Grund zur Freude gewesen.
Ich habe beide Wahlkampf-Kampagnen genau verfolgt und dabei festgestellt, dass Trump in Bezug auf die Ukraine vor allem dazu aufruft, „den Krieg zu beenden“. Viele interpretierten dies als einen verschleierten Appell zur Kapitulation, aber die Wahrheit ist nuancierter. Und: Diese Botschaft findet bei einer weniger lautstarken Gruppe in der Ukraine großen Anklang – nämlich bei denen, die täglich unter Bombardierungen leiden und deren Leben sich seit der vollumfänglichen Invasion Russlands in einem endlosen Kreislauf der Zerstörung abspielt.
Vor einem Jahr schrieb die New York Times, die Ukraine werde unweigerlich vor einer schwierigen Entscheidung stehen: Will sie die eigene Bevölkerung oder das Staatsgebiet schützen? Drei Jahre nach Beginn dieses Krieges – inklusive geschlossener Grenzen, einer zusammenbrechenden Wirtschaft und eines Exodus der Bürgerinnen und Bürger – ist diese Beobachtung nur noch treffender geworden. Unser nationaler Diskurs ist nach wie vor auf Gebietsgewinne als das ultimative Maß für einen Sieg fixiert. Dabei ist der wahre Kampf doch der für das Überleben der ukrainischen Nation selbst.
Aufrufe, den derzeitigen Krieg zu unterbrechen (sei es womöglich auch nur vorübergehend), um die Nation zu retten, werden oft als naiv abgetan – typischerweise von denen, die weit von der Front entfernt sind. Kritikerinnen und Kritiker argumentieren: „Putin wird wieder angreifen.“ Das mag stimmen. Doch nach dieser Argumentation scheint es notwendig, dass wir horrende menschliche Verluste und die potenzielle Auslöschung der ukrainischen Nation hinnehmen und rechtfertigen, weil es eine hypothetische zukünftige Bedrohung geben könnte. Man könnte auch sagen: Jetzt sterben, um zu vermeiden, dass man möglicherweise später stirbt.
Eine rein militärische Lösung war für die Ukraine nie ein realistischer Weg zum Erfolg.
Eine rein militärische Lösung war für die Ukraine nie ein realistischer Weg zum Erfolg, selbst wenn es unbegrenzte finanzielle und militärische Unterstützung des Westens gegeben hätte. Dies ist keine Kritik an unseren Streitkräften. Tatsächlich haben unsere Truppen, sowohl Berufs- als auch eingezogene Soldaten, bei der Verteidigung der Demokratie gegen die russische Tyrannei außerordentlichen Mut und Widerstandsfähigkeit bewiesen. Wir müssen uns jedoch der ernüchternden Realität stellen: Die Kosten dieses Krieges untergraben nach und nach die eigentliche Grundlage der ukrainischen Nation.
Wer ist naiver? Ich, die mit Menschen in der ganzen Ukraine spricht und ihre Hilferufe erhält, oder diejenigen, die ihre Schlüsse aus Tiktok und Twitter ziehen und sich an offizielle Stellungnahmen klammern? Naivität kann gefährlich sein. Sie kann Leben kosten – in unserem Fall tausende.
Kann und wird Donald Trump den Krieg beenden? Ich weiß es nicht. Was ich weiß, ist, dass in den höchsten Positionen, unter westlichen Politikern und Diplomaten schon seit langem über einen Waffenstillstand diskutiert wird. Ein Waffenstillstand – wie unvollkommen er letztlich auch sein mag – dürfte wohl das Beste sein, worauf wir in naher Zukunft hoffen können.
Seit der gescheiterten Gegenoffensive 2023 hatte die Ukraine keine realistische Chance, gewisse Landstriche zurückzuerobern.
Denn während eines Waffenstillstands könnten wir neue Verteidigungsanlagen errichten, die wir vor der Invasion nicht gebaut hatten und jetzt unter ständigem Beschuss nicht bauen können. Wir könnten unsere fragile, kollabierende Wirtschaft teilweise wiederbeleben. Wir könnten unsere Grenzen wieder öffnen, Wahlen abhalten und der Welt zeigen, dass wir es geschafft haben, die Demokratie, für die wir gekämpft haben, zu bewahren. Es gibt noch so viel mehr, das wir wiederaufbauen müssen – Gesundheitswesen, Bildung, Infrastruktur. Ein Waffenstillstand würde uns auch den nötigen Spielraum verschaffen, um unser Militär weiter zu stärken, seine Übungen und seine Einsatzbereitschaft zu verbessern. Sollte Putin tatsächlich erneut angreifen, wären wir somit weitaus besser vorbereitet und stünden auf festeren Füßen als jetzt in diesem zermürbenden Abnutzungskrieg.
Was das Staatsgebiet betrifft: Seit der gescheiterten Gegenoffensive 2023 hatte die Ukraine keine realistische Chance, gewisse Landstriche zurückzuerobern. Daran wird auch alle Unterstützung auf Twitter nichts ändern. Tatsächlich haben wir in den vergangenen Monaten mehr Territorium verloren als im gesamten Jahr 2023: Allein zwischen August und September waren es etwa 478 Quadratkilometer.
Das ist nicht allein die Schuld des Westens. Wenn man sich dort überhaupt nicht um die Ukraine scheren würde, hätte man nicht die immense Unterstützung geleistet, die wir 2022 und 2023 erhalten haben. Die unangenehme Wahrheit bleibt aber: Die potenzielle Rückeroberung unserer Gebiete würde sehr viel Zeit, strategische Geduld und eine Kombination aus militärischer Stärke und diplomatischem Geschick erfordern.
Im Moment hingegen wird die Ukraine unter der Belastung des erbittert fortgeführten Krieges von Tag zu Tag schwächer. Deshalb brauchen wir Beständigkeit, Entschlossenheit und ein klares, realistisches Verständnis für die Situation hier in der Ukraine. Dramatisierende Rhetorik hilft uns nicht. Wir müssen die Wahlentscheidung des amerikanischen Volkes – und die Entscheidungen der Weltgemeinschaft – mit kühlem Kopf und offenem Herzen annehmen.
Die englische Originalversion dieses Artikels erschien zuerst in der Kyiv Post.
Aus dem Englischen von Tim Steins