Fast zweieinhalb Jahrzehnte haben wir in dem Bewusstsein gelebt, mit Russland durch ein Regime kooperativer Sicherheit verbunden zu sein. Dieses Regime war nie perfekt. Doch zugleich existierte es nicht nur auf dem Papier. Im Gegenteil: Das Anfang der 1990er Jahre geschaffene Netz europäischer Rüstungskontroll­abkommen war weltweit einmalig, auch wenn der Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europe (KSE) zunehmend verfiel. Im NATO-Russland-Rat und in den amerikanisch-russischen Presidential Commissions wurde eine Vielzahl sicherheitspolitischer Fragen besprochen. Auf europäischer Ebene wurden florierende Wirtschaftsbeziehungen ergänzt durch das Angebot einer „Modernisierungs­partnerschaft“. Und auf globaler Ebene war Russland in das exklusive Format der G8 eingebunden. Das alles basierte auf Interessen, wurde aber auch durch ein gemeinsames normatives Verständnis zusammengehalten, am deutlichsten formuliert in den Dokumenten der weithin unterschätzten OSZE.

Heute ist relativ offensichtlich, dass dieses kooperative Sicherheitsumfeld an der russischen Annexion der Krim und dem von Russland beförderten Krieg in der Ostukraine zerbrochen ist. Bereits in den Jahren zuvor war es durch eine Reihe von Streitfragen von der NATO-Erweiterung bis zum Georgienkrieg 2008 beschädigt worden. Wesentlich schwerer zu umreißen ist hingegen eine positive Bestimmung der heutigen Situation. Ein neuer Kalter Krieg ist es nicht. Denn seine drei wesentlichen Merkmale – antagonistischer Systemgegensatz, globaler Charakter und geordnete Lager – sind nicht gegeben. Zwischen Russland und dem Westen herrscht heute vielmehr ein dominant konfrontatives Verhältnis, mit Einsprengseln paralleler Interessen. In Bezug auf den Iran, Syrien oder Afghanistan ist Kooperation denkbar.

Kompliziert wird diese Konstellation dadurch, dass die Russland-West-Konfrontation von der sozioökonomischen Nord-Süd-Spaltung der EU überlagert wird. Der fromme Wunsch, dass beides nichts miteinander zu tun hätte, wird auch durch Appelle an den europäischen Einigkeitssinn nicht realistischer. Vielmehr erleben wir gerade, wie beide Elemente sich strukturell verbinden. In dieser neuen Konfliktkonstellation wird Politik komplexer, volatiler und ergebnisoffener sein als im Kalten Krieg. So erscheint eine allmähliche Beruhigung der Lage derzeit ebenso möglich wie eine weitere scharfe Eskalation.

 

Der Weg ist verstellt

Unter diesen Bedingungen sollte an dem Ziel einer „euro-atlantischen und eurasischen Sicherheitsgemeinschaft“ auf Basis gemeinsamer Werte festgehalten werden, das auf dem OSZE-Gipfeltreffen von Astana 2010 verkündet wurde. Zugleich aber muss eingeräumt werden, dass dieses Ziel mittelfristig kaum erreichbar ist und deshalb nicht als Kriterium für operative Politik dienen kann. Es reicht nicht aus, einfach eine neue Dialogrunde mit Russland zu starten oder gemeinsame Werte zu bekräftigen, um zu einem kooperativen Sicherheitsumfeld zurückzukehren. Dieser Weg erscheint auf absehbare Zeit verstellt. Vielmehr geht es darum, eine neue, realistische Politik für Europa und gegenüber Russland zu formulieren.

Die Ziele der russischen Politik gegenüber der Ukraine und darüber hinaus sind immer noch unklar, zumindest in ihrer Reichweite. Deutlich aber ist in Georgien und der Ukraine geworden, dass Russland zu militärischer Gewaltanwendung und Völkerrechtsbruch bereit ist, um außenpolitische Ziele zu erreichen. Daher muss die NATO fähig sein, ihr Beistandsversprechen gegenüber allen Mitgliedsstaaten auch tatsächlich einzulösen. Entsprechende Schritte, insbesondere die Schaffung kleiner, aber schnell verlegbarer Verbände und entsprechender Stützpunkte in den östlichen NATO-Staaten sind auf dem Gipfel in Wales 2014 beschlossen worden. Zum anderen sollten die NATO-Staaten Russland nach wie vor Kooperation anbieten. Diese wird sich primär auf gemeinsame oder parallele Interessen stützen. Das heißt nicht, dass die OSZE-Normen und -Verpflichtungen aufgegeben würden – ganz im Gegenteil. Aber es bedeutet, dass eine primär normenbasierte Politik im Verhältnis zu Russland in absehbarer Zukunft nicht realisierbar ist. Beide Elemente zusammen bedeuten im Grunde genommen eine Neuauflage der Harmel-Strategie von 1967: so viel Verteidigung wie nötig, so viel Kooperation wie möglich. Dass dieser Ansatz 50 Jahre später wieder notwendig werden würde, mag traurig stimmen. Es zeigt aber, wo wir stehen.

 

Die Rückkehr des Harmel-Ansatzes

Schwierig an dem Harmel-Ansatz ist, dass er politisch nur dann trägt, wenn die mögliche Kooperation mit Russland im Vordergrund steht – und nicht Abschreckung oder gar Containment. Es wird deshalb zum einen darum gehen, die richtige Austarierung dieser Doppelstrategie zu finden. Kernpunkt dabei: In der NATO zu verhindern, dass der Ansatz in simple militärische Eindämmung verwandelt wird. Zum anderen wird man in Russland, dessen Regierung im Grunde nicht mehr weiter weiß, zäh um Kooperation werben müssen.

Eine solche Kooperationspolitik eines Stabilitätsrahmens für Europa, muss folgenden Kriterien genügen: Erstens muss sie einen Beitrag zur sicherheitspolitischen Stabilität in ganz Europa leisten. Zweitens muss sie europäischen und westlichen Interessen dienen – auch Wirtschaftsinteressen. Drittens muss sie russische Interessen aufgreifen. Viertens muss sie den Interessen dritter Länder dienen. Fünftens dient sie auch dazu, die EU zusammen zu halten. Und schließlich sollte sie, so weit wie möglich, normative Elemente ansprechen. Offensichtlich sind einige dieser Kriterien widersprüchlich – sie müssen es auch sein.

Ein solcher Stabilitätsrahmen für Europa sollte dabei Fragen aus den Bereichen Sicherheit, Wirtschaft sowie Fragen von Menschenrechten, Dialog und Versöhnung aufnehmen. Die folgenden Themen stellen nur eine erste Skizze dar:

Im Bereich der Sicherheit ist angesichts der gesteigerten militärischen Übungstätigkeit und zahlreicher (Beinahe-)Verletzungen des Luftraums die Gefahr von Zwischenfällen und sogar eines ungewollten Krieges gestiegen. Offensichtlich bestehen die Kommunikationsmittel und „roten Telefone“ des Kalten Krieges nicht mehr. Deshalb ist es wichtig, wieder ein System strategischer Warnung und Krisenkommunikation auf der Ebene der politischen Führungen einzurichten. Im Bereich der konventionellen Rüstungskontrolle einschließlich Vertrauens- und Sicherheitsbildender Maßnahmen sollte mit einiger Geduld ausgetestet werden, ob und ggf. an welchen Schritten Moskau interessiert ist. Dasselbe gilt für die westlichen Staaten.

Ein zweiter Schwerpunkt betrifft die Stärkung der Krisenreaktionsfähigkeit nicht nur, aber insbesondere der OSZE. Dazu gehört ein ganzes Bündel von Maßnahmen: Von der Einführung einer Rechtspersönlichkeit der OSZE, der Verbesserung ihrer Finanzkraft und ihrer personellen Rekrutierungsmöglichkeiten bis hin zur Option eines OSZE-Peacekeeping. Wichtig wäre auch, mit Russland zumindest einen modus vivendi in den ungelösten Konflikten in Georgien, Berg-Karabach und Moldau zu finden. Hinzu kommen parallele Interessen und Kooperationschancen im Nahen und Mittleren Osten und darüber hinaus von Syrien bis Afghanistan.

Im Bereich Wirtschaft und Energie wäre es wichtig, die Kooperation zwischen EU, der Ukraine und Russland zu vertiefen. Und zwar so, wie dies in der gemeinsamen Minsker Erklärung vom Februar 2015 unterstrichen wurde: „Fortsetzung der trilateralen Gespräche über Energiefragen mit dem Ziel, nach dem Gas-Paket für den Winter weitere Fortschritte zu vereinbaren.“ Und: „trilaterale Gespräche, um praktisch Lösungen für Bedenken zu erreichen, die Russland mit Blick auf die Umsetzung des tiefgreifenden und umfassenden Freihandelsabkommens zwischen der Ukraine und der EU geäußert hat.“ Löst man diese beiden Gesprächsansätze von ihrem konkreten Anlass und verallgemeinert sie, dann könnten sie die Koordinaten künftiger wirtschafts- und energiepolitischer Zusammenarbeit zwischen der EU und Russland umreißen.

Auf normativer Ebene, schließlich, sollte über Dialoge auf verschiedenen Ebenen zumindest versucht werden zu begreifen, weshalb es zu diesem fundamentalen Rückfall in Konfrontation gekommen ist. Gleichzeitig sollte ausgelotet werden, wo nach wie vor gegebene oder neu zu erarbeitende normative Anknüpfungspunkte liegen. All dies wird sicherlich als „punktuelle Kooperation“ (Karsten Voigt) beginnen. Darüber hinaus aber sollte eine europäische Stabilitätspolitik umfassender angelegt werden. Nämlich als ein länger­fristiger Versuch, die euro-atlantische und eurasische Region auf der Grundlage einer interessenorientierten, pragmatischen Politik zu befrieden. Aber schon der Einstieg in eine solche Politik bleibt an den Verzicht auf weitere militärische Offensiven in der Ukraine und anderswo gebunden.