Einigkeit herrscht bei der Feststellung, dass wir heute einer anderen sicherheitspolitischen Bedrohungslage gegenüberstehen als dies Anfang der 2000er Jahre absehbar war. Russland unter dem Putin-Regime – nicht jedoch die russische Bevölkerung – ist momentan die größte Bedrohung für Frieden und Wohlstand in Europa und die regelbasierte internationale Ordnung. Dieser Herausforderung müssen wir begegnen und angesichts des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine seit 2022 ist es richtig, dass wir heute auch grundsätzliche Fragen der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik und damit auch der militärischen Ausrüstung der Bundeswehr innerhalb einer europäischen Sicherheitsarchitektur und eingebettet in das transatlantische Bündnis neu stellen, überdenken und teilweise anders beantworten als dies noch vor drei Jahren der Fall gewesen wäre.
Einige erwecken dabei aber den Eindruck, als ob die Doktrinen des Kalten Krieges – garniert mit etwas Cyber-Fähigkeiten und Drohnen – plötzlich wieder aktuell seien und bringen sogar eine mögliche deutsche Atombombe oder, etwas vorsichtiger formuliert, die nukleare Bewaffnung Europas ins Spiel. Aber die Welt ist heute eine ganz andere und ein erneutes atomares Wettrüsten ist das Gegenteil von dem, was wir für eine friedlichere Welt brauchen. Die historischen, ethischen und völkerrechtlichen Gründe, warum Deutschland keine Atommacht ist, gelten weiterhin. Eine Aufrüstungsdebatte im Stile von Franz-Josef Strauß der 50er-Jahre nützt nur der Rüstungsindustrie und ihren konservativen Verbündeten, die endlich ohne historischen Ballast und am regulären Haushalt vorbei die Auftragsbücher von Rheinmetall und Co. füllen möchten.
Anlass der neuerlichen Debatte war eine Äußerung des verurteilten Finanzbetrügers und ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump, der in seiner typischen Unart die Bündnistreue einer US-Regierung unter seiner Führung erneut in Frage stellte. Aber jetzt von atomarer Aufrüstung in Europa zu sprechen, bevor Trump überhaupt offizieller Präsidentschaftskandidat ist und noch keine einzige Stimme abgegeben wurde, ist grob fahrlässig, missachtet die Resilienz der amerikanischen Demokratie und wird der Ernsthaftigkeit des Themas der sogenannten nuklearen Abschreckung und dem absoluten Zerstörungspotential von Atomwaffen nicht gerecht. Es ist passend, dass zuletzt die Filmbiografie von J. Robert Oppenheimer das moralische Dilemma dieser schrecklichen Waffen einem so großen Publikum nahebrachte. Eindrücklich bleibt das hinduistische Zitat, an das Oppenheimer nach der Entwicklung dieser Waffe denken muss: „Jetzt bin ich der Tod geworden, der Zerstörer der Welten“.
Einige erwecken den Eindruck, als ob die Doktrinen des Kalten Krieges plötzlich wieder aktuell seien.
Auch wenn der bisher einzige Kriegseinsatz von Atomwaffen in Hiroshima und Nagasaki fast 80 Jahre zurückliegt, muss die globale Dimension des nuklearen Zerstörungspotentials bei jedem Debattenbeitrag mitgedacht werden. Trotz der Reduzierung des nuklearen Arsenals seit den Hochzeiten des Kalten Krieges reichen die vorhandenen Atomsprengköpfe immer noch aus, um die Menschheit gleich mehrfach auszulöschen. Allein das zeigt, dass ein paar europäische Atomwaffen mehr, die manche so leichtsinnig fordern, viele noch völlig unabsehbare Konsequenzen haben würden. Ein Beitrag zur europäischen Sicherheit wären sie sicherlich nicht.
Die aktuelle außen- und sicherheitspolitische Debatte, die viele zu einer Aufrüstungsdebatte machen wollen, zeigt leider, dass eine realistische und wertebasierte Position, die gute Ausrüstung unserer Parlamentsarmee und die starke Unterstützung unserer Verbündeten in der Ukraine mit einem Fokus auf diplomatische Initiativen für einen baldigen Frieden in Europa verbinden möchte, regelmäßig lächerlich gemacht und als realitätsfern bis „putinophil“ diffamiert wird. Vor allem konservative und manche vermeintlich liberalen Kräfte wollen die polarisierende außenpolitische Debatte nutzen, um endlich den neoliberalen Traum einer gleichzeitigen Kürzung von Sozialleistungen („die schwarze Null“), Steuersenkungen für Besserverdienende („Wettbewerbsfähigkeit“) und einer massiven Erhöhung des Wehretats („Kriegstauglichkeit“) außerhalb des regulären Haushaltes wahr werden zu lassen.
Dabei ist es richtig, dass wir im transatlantischen Bündnis, als Teil der europäischen Sicherheitsarchitektur und gegenüber den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, eine Verantwortung dafür tragen, eigenständiger für unsere Sicherheit zu sorgen und die Bundeswehr angemessen für ihre Aufgaben gut und umfassend auszurüsten. Das erste Sondervermögen war angesichts der dramatischen Lage in der Ukraine und dem akuten Handlungsbedarf in der Bundeswehr richtig. Jeder weitere Euro für den Verteidigungsetat muss aber im regulären Haushaltsverfahren vom Haushaltsgesetzgeber, dem Deutschen Bundestag, beschlossen werden. Es ist den Bürgerinnen und Bürgern nicht vermittelbar und langfristig demokratiegefährdend, wenn für Marschflugkörper, Beratungsverträge zur Digitalisierung der Streitkräfte oder auch die „europäische Bombe“ plötzlich jegliche Haushaltsdisziplin vergessen werden soll, während Bahnstrecken und Schulen verfallen, auch das letzte Schwimmbad in der Stadt schließen muss und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aufgrund der „schwierigen wirtschaftlichen Lage“ zur Zurückhaltung bei den Tarifverhandlungen gedrängt werden. Ganz zu schweigen von den gewaltigen Anstrengungen vor denen wir aufgrund des Klimawandels stehen. Das zeigt deutlich, was am Anfang jeder ernsthaften Debatte über die zukünftige Verteidigungsfähigkeit Deutschlands in einer revitalisierten europäischen Sicherheitsarchitektur stehen muss: Das Ende der deutschen Schuldenbremse – dieses finanzpolitischen Irrsinns und in Fachkreisen zurecht verrufenen deutschen Sonderweges.
Während die USA hunderte Milliarden für eine Modernisierung ihrer Infrastruktur ausgeben, verliert sich die deutsche Politik im parteipolitischen Klein-Klein und klammert sich an gescheiterten finanzpolitischen Instrumenten fest, die nicht nur notwendige Investitionen in unsere Zukunft verhindern, sondern eben auch eine angemessene Finanzierung der deutschen und europäischen Sicherheit. Die von zu vielen forcierte Mischung aus noch stärkerer Aufrüstung, Sozialkürzungen und Steuergeschenken für Reiche und Großkonzerne bei gleichzeitiger orthodoxer Auslegung der deutschen Schuldenbremse wäre ein Giftcocktail für die demokratischen Parteien und ein Energydrink für die Rechtsradikalen. Wenn wir die Akzeptanz für die Fähigkeit zur Landes- und Bündnisverteidigung gewährleisten wollen, dürfen wir in unserer Demokratie niemals innere und äußere Sicherheit gegen soziale Sicherheit ausspielen.
Lesen Sie zu diesem Thema auch die gegenseitige Position („NukleJA“) von Philippe Legrain.