Der Ruf nach Aufklärung der mutmaßlichen Kriegsverbrechen insbesondere gegen Zivilisten in der Ukraine ist laut. Das Abstreiten jeglicher Verantwortung durch den Kreml bleibt unglaubwürdig und wirkt zynisch. Dabei ist das Problem nicht die Dokumentation der Verbrechen. Die ukrainischen Behörden befragen vor Ort, sammeln Beweise und obduzieren Leichen – auch aus den Massengräbern –, soweit Zugang zu den umkämpften Gebieten besteht. Die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft kündigte Anfang Mai den ersten Prozess gegen einen gefangenen russischen Soldaten an, welcher aus einem Auto auf Zivilisten geschossen haben soll.
Lokale und internationale Nichtregierungsorganisationen und Medien tragen zur Dokumentation bei. Videoaufnahmen werden überprüft. Mithilfe von Satellitenbildern wurden Angriffe auf zivile Objekte sowie Leichenfunde belegt, um dem Vorwurf einer „Inszenierung“ entgegenzuwirken. In Deutschland werden im Rahmen von Ermittlungen des Generalbundesanwalts Geflüchtete befragt. Nicht nur das BKA, sondern auch der BND arbeiten hierbei zu. Letzterer weist zum Beispiel durch das Abhören von Funksprüchen die Verantwortlichkeit von russischen Streitkräften und Sicherheitsdiensten nach.
Bei Gerichtsverfahren stellen sich vor allem zwei Probleme: erstens persönliche Verantwortlichkeit für geplante und systematische Verbrechen gerichtsfest nachzuweisen und zweitens des Hauptschuldigen habhaft zu werden.
Russischen Akteuren werden Angriffe auf Wohnhäuser, Schulen, Krankenhäuser, Theater, Einkaufszentren und Bahnhöfe vorgeworfen. Werden diese nicht militärisch, sondern zivil genutzt, dürfen diese laut Völkerrecht nicht angegriffen werden. Angriffe während der Evakuierung von Zivilisten auf Fluchtwegen sind verboten. Genauso ist es ein Verbrechen, Menschen auf der Flucht auf feindliches Territorium zu treiben. Viele ukrainische Soldaten aus Mariupol fürchten in russischer Kriegsgefangenschaft um ihr Leben. Auch ukrainischen Streitkräften wird die Misshandlung oder Tötung von Kriegsgefangenen vorgeworfen. Vorwürfe, dass Russland biologische oder chemische Waffen eingesetzt habe, konnten bisher nicht unabhängig bestätigt werden.
Bei späteren Gerichtsverfahren – sei es in der Ukraine, in Deutschland oder vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag – stellen sich vor allem zwei Probleme: erstens persönliche Verantwortlichkeit und damit politische und militärische Befehlsketten für geplante und systematische Verbrechen gerichtsfest nachzuweisen und zweitens des Hauptschuldigen habhaft zu werden.
Hierzu sind Einsichten in die politischen und militärischen Führungsprozesse notwendig. Solange das Regime Putin an der Macht bleibt, ist ein solcher Zugang unwahrscheinlich. Bei den Nürnberger Einsatzgruppen-Prozessen war es möglich, die Beschuldigten schnell zu verurteilen, da das Nazi-Regime selbst seine Gräueltaten akribisch dokumentiert hatte und Aktenzugang bestand. Bei den Verhandlungen des Internationalen Straftribunals für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) zeigte sich, wie schwierig, langwierig und aufwändig es ist, zur historischen Wahrheitsfindung beizutragen.
Mit dem Internationalen Strafgerichtshof (ICC) wurde ein ständiger Gerichtshof geschaffen, der es erlaubt, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord und Aggression zu verurteilen. Dies kann er tun, wenn eine der drei Bedingungen erfüllt ist: Die Verbrechen finden auf dem Territorium eines Mitgliedsstaates statt, werden durch Angehörige eines Mitgliedsstaates ausgeführt oder der Fall wird durch den VN-Sicherheitsrat überwiesen.
Würde ein internationaler Haftbefehl gegen Wladimir Putin erlassen, wäre in jedem Fall seine Reisefähigkeit eingeschränkt, da ja stets eine Auslieferung drohen würde, wozu die 123 ICC-Mitgliedsstaaten verpflichtet sind.
Der ICC kann Haftbefehle erlassen und hierbei auf die Unterstützung der EU-Staaten zählen. Die Frage der Immunität von amtierenden Staatsoberhäuptern ist im Völkerrecht grundsätzlich umstritten. Die Statuten des ICC sehen jedoch gerade keine Immunität für Staatsoberhäupter vor. So klagte der ICTY Slobodan Milošević 1999 als erstes Staatsoberhaupt noch während seiner Amtsausübung wegen Völkermordes an. Ausgeliefert wurde er dann erst nach seinem Rücktritt. Der ICC erließ Haftbefehl gegen Omar al-Bashir, den damals amtierenden Präsidenten des Sudans, wegen Verbrechen im Darfur-Konflikt. Der Diktator wurde jedoch selbst nach seinem Sturz 2019 nicht ausgeliefert. Würde ein internationaler Haftbefehl gegen Wladimir Putin erlassen, wäre in jedem Fall seine Reisefähigkeit eingeschränkt, da ja stets eine Auslieferung drohen würde, wozu die 123 ICC-Mitgliedsstaaten verpflichtet wären. Dazu gezwungen werden könnten sie allerdings nicht.
Dies zeigt ein anderes Kernproblem auf: die eingeschränkte Reichweite des ICC. Der Internationale Strafgerichtshof ist nicht Teil der Vereinten Nationen, sondern basiert auf dem Römischen Statut als gesondertes Vertragswerk. Der Grundgedanke ist, dass es keine Straflosigkeit für die schwersten Verbrechen der Menschheit geben soll. Personen, die die meiste Verantwortung tragen, sollen sich nicht schützen können, sondern sollen verurteilt werden können, selbst wenn die nationale Gerichtsbarkeit dazu nicht in der Lage ist. Dies soll abschreckende Wirkung entfalten. Es sind aber nicht alle Staaten bereit, die politische Entscheidung zu treffen, sich dieser Gerichtsbarkeit zu unterwerfen, beispielsweise auch die Mitglieder des VN-Sicherheitsrats Russland, China und die USA. Es steht Staaten jedoch offen, die ICC-Gerichtsbarkeit ad-hoc bei einem konkreten Konflikt anzuerkennen. Das hat die Ukraine 2014 im Kontext der Krim-Annexion getan, sodass bereits Ermittlungen laufen, die nun um den aktuellen Konflikt erweitert wurden.
Internationale Strafgerichtsprozesse haben vor allem drei wichtige Funktionen: erstens Individuen zur Verantwortung zu ziehen und Opfer zu entschädigen, zweitens Verbrechen nach einem Konflikt aufzuklären und drittens zukünftige Verbrechen durch Abschreckung zu verhindern.
Die symbolische Wirkung der Untersuchungen stärkt das Völkerrecht und trotzt allen Auflösungstendenzen.
Um diese Abschreckungsfunktion zu stärken, ist der Chefankläger des ICC Karim Khan bereits Mitte März an die ukrainisch-polnische Grenze gereist und hat betont, dass der ICC Verantwortliche für Angriffe gegen Zivilisten sowie zivile Objekte vor Gericht bringen kann. Damit wurde ein klares Zeichen gesetzt, dass es keine Straflosigkeit geben werde – selbst wenn die russische Führung glaubt, den Krieg gewinnen und eine Marionettenregierung einsetzen zu können, von der sie nichts zu befürchten habe. Aber obwohl dies ein wichtiges Signal war, wurden auch danach weiter Kriegsverbrechen begangen.
Dies spiegelt die fehlende politische globale Unterstützung des Gerichts wider: Die Anzahl der Mitlieder des Strafgerichtshofs stagniert. Burundi und die Philippinen sind sogar wieder ausgetreten – aus Empörung über Untersuchungen im eigenen Land. Laufende Untersuchungen können dadurch allerdings nicht gestoppt werden. Mächtige Staaten wollen sich und ihre Alliierten vor Strafverfolgung schützen. Insbesondere im Sicherheitsrat wirkt sich der Machtunterschied aus, wenn entschieden wird, welche Fälle durch das Gremium überwiesen werden. Gleichzeitig finden weiterhin Verbrechen statt, für die lautstark Gerechtigkeit eingefordert wird, vor allem von zivilgesellschaftlicher Seite. Das führt dazu, dass immer mehr Situationen vom ICC untersucht werden. Und nicht nur – wie anfangs – geografisch konzentriert auf Afrika, sondern weltweit, etwa in Palästina, Georgien, Venezuela, Afghanistan und Bangladesch/Myanmar. Eine weitere Herausforderung besteht allerdings darin, dass nicht nur die Anzahl der Mitgliedsländer stagniert, sondern auch das Budget, das in der Regel von den Mitgliedern bereitgestellt wird. So ist das Gericht gar nicht in der Lage, alle untersuchten Fälle auch zum Prozess zu bringen.
Deutschland sollte dem Ruf des ICC nach mehr Mitteln und abgeordnetem Personal für Ermittlungen im Ukraine-Krieg Folge leisten und für breite Unterstützung werben. Denn die symbolische Wirkung der Untersuchungen stärkt das Völkerrecht und trotzt allen Auflösungstendenzen.
Eine Herausforderung für den ICC besteht darin, dass nicht nur die Anzahl der Mitgliedsländer stagniert, sondern auch das Budget.
Die Spielregeln, die das Völkerrecht festlegt, sind politisch gesetzt. Völkerrecht ist also zutiefst politisch, wie auch seine Befolgung und Durchsetzung. Diese Spielregeln werden immer wieder neu ausgehandelt und Grenzen ausgetestet. Rückschritte sind nicht auszuschließen. Länder wie Russland und China, die diese Ordnung herausfordern, sind dennoch bedacht, juristische Rechtfertigungen für ihre Handlungen vorzulegen, indem sie das Recht in ihrem Sinne uminterpretieren.
Die Ukraine bedient sich in Gegenwehr aller gerichtlicher Mittel. Ein Beispiel ist die Anrufung des Internationalen Gerichtshofs (IGH), der für die Völkermordkonvention zuständig ist. Der Gerichtshof fand keine Anzeichen für einen gerechtfertigten Angriff und forderte als Eilmaßnahme die sofortige Einstellung der Kampfhandlungen. Russland argumentierte danach in einer Stellungnahme nicht mehr mit Völkermord, um den Angriff auf die Ukraine zu rechtfertigen. Es wurde also eine wichtige Legitimationsbasis entzogen. Die Aggression ging jedoch unvermindert weiter.
Es offenbart sich eine Krise der politischen Institutionen und der Weltpolitik. Dennoch: Der Abgesang auf das Völkerrecht als Ausdruck der geltenden Ordnung, in der Grenzen nicht gewaltsam verschoben und Kriegsverbrechen nicht ungestraft begangen werden können, ist zu früh. Solange die internationale Gemeinschaft diese Handlungen breit verurteilt, wird die Gültigkeit der Regeln gestärkt. Dagegen untermauert jede Enthaltung und jede Gegenstimme ein System der Straflosigkeit. Daher bedarf es weiterhin einer aktiven Unterstützung aller unterschiedlicher strafrechtlicher Bemühungen, der öffentlichen Verurteilung von Kriegsverbrechen und der Verteidigung des Völkerrechts. Es ist ein wichtiger symbolischer Baustein der Bemühungen, das Mittel der militärischen Gewalt in zwischenstaatlichen Beziehungen zu ächten, auch wenn sich die geopolitischen Machtkonstellationen und Bündnisse verändern.
Ob und wann es letztlich zu einer Verurteilung der russischen Führung kommt, ist zweitranging. Indem Desinformationspolitik und rechtliche Vorwände entschleiert werden, können die Kosten für die Reputation sowie für die innere und äußere Legitimation in die Höhe getrieben werden. Gleichzeitig gilt es, die Ukraine maximal und nachhaltig zu unterstützen. Die politische Isolation Russlands, gepaart mit wirtschaftlichen und militärischen Verlusten, kann dazu beitragen, eine Verhandlungslösung attraktiver zu machen sowie Nachahmer weltweit abzuschrecken.