Noch im Jahr 2022 gab es die Hoffnung, der Berg-Karabach-Konflikt könnte durch eine direkte Beteiligung des Westens gelöst werden. Immerhin fanden damals in verschiedenen westlichen Hauptstädten – unter anderem in Brüssel, Prag und Washington – zahlreiche Verhandlungen zwischen aserbaidschanischen und armenischen Spitzenpolitikern statt. Der Optimismus schlug jedoch in Enttäuschung um, als Baku am 19. September 2023 in seiner abtrünnigen Region Berg-Karabach eine Militäroffensive startete.

Nachdem Baku sich fast zehn Monate lang angeschaut hatte, wie der Westen reagiert, wenn es – wie geschehen – unter anderem von außen Umweltproteste organisierte, einen Kontrollpunkt am Latschin-Korridor (der einzigen Versorgungsroute zwischen Berg-Karabach und Armenien) einrichtete und den Korridor schließlich ganz blockierte, wurde der Schluss gezogen, dass der Westen nicht bereit sei, die Sicherheit der armenischen Bevölkerung in Karabach zu garantieren oder sich zu friedenserhaltenden oder militärischen Maßnahmen zu verpflichten. Daraufhin verständigte Baku sich mit Ankara und Moskau und beschloss eine sogenannte „Anti-Terror-Operation“. Aus aserbaidschanischer Sicht spielen jetzt Russland und die Türkei und nicht mehr die westlichen Mächte die Schlüsselrolle bei potenziellen Absprachen.

Aus aserbaidschanischer Sicht spielen jetzt Russland und die Türkei und nicht mehr die westlichen Mächte die Schlüsselrolle bei potenziellen Absprachen.

Je stärker Aserbaidschan seine Kontrolle über Karabach festigt, umso mehr gerät es paradoxerweise in die Abhängigkeit von Russland und damit in eine ähnliche Situation wie Armenien vor dem Krieg 2020. Während Baku zwar die volle Kontrolle über das Territorium errungen hat, hält Moskau weiterhin seine Militärpräsenz in Karabach aufrecht. Auch wenn die Autonomiebehörde in Berg-Karabach beschlossen hat, sich selbst aufzulösen, ist nicht zu erwarten, dass die russischen Streitkräfte in absehbarer Zeit abziehen werden. Damit sind jetzt Aserbaidschan und Russland die Hauptkonfliktparteien. Armenien dagegen distanziert sich ausdrücklich von einer direkten Beteiligung an dem Geschehen.

Russlands Freibrief für Aserbaidschans selbstbewusstes Handeln und die Ungewissheit über die künftige Präsenz russischer Truppen in Karabach wirft Fragen über die Qualität und Tragweite der derzeitigen Beziehungen zwischen Baku und Moskau auf. Im vergangenen Jahr unterzeichnete Aserbaidschan nur zwei Tage vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine ein Loyalitätsabkommen mit Russland. Dieses beinhaltet wichtige außen- und sicherheitspolitische Aspekte wie zum Beispiel „gleiche oder ähnliche Standpunkte zu aktuellen internationalen Fragen“ und die Verpflichtung, „alle Handlungen zu unterlassen, die nach Ansicht einer der Parteien der strategischen Partnerschaft und den verbündeten Beziehungen der beiden Staaten schaden“. Aserbaidschan wird vermutlich nicht zu einem „zweiten Belarus“ werden, aber es bleibt die Sorge, dass ein gewisses Maß an Unabhängigkeit für Gebietsgewinne geopfert werden könnte. Es besteht die Befürchtung, dass Baku dem russischen Druck nicht standhält und militärische Aktionen in Südarmenien durchführen könnte, um Fakten über den „Sangesur-Korridor“ zu schaffen, auch wenn Baku dazu nicht willens ist.

Moskaus Ambitionen reichen über Karabach hinaus.

Moskaus Ambitionen reichen über Karabach hinaus. So soll unter Berufung auf das trilaterale Abkommen, das der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew und seine Amtskollegen Paschinjan und Putin am 10. November 2020 unterzeichnet haben, eine Transportstrecke unter russischer Kontrolle entstehen, der sogenannte „Sangesur-Korridor“. Dieser würde das aserbaidschanische Kernland über die südlichste armenische Provinz Sjunik mit seiner Exklave Nachitschewan verbinden. Baku hat zwar, indem es gewaltsam die Kontrolle über Berg-Karabach übernommen hat, gegen das Abkommen verstoßen, besteht aber darauf, dass die Öffnung des Korridors die Vorbedingung für einen Frieden mit Armenien ist.

Der entscheidende Streitpunkt ist der Charakter dieser Verkehrsverbindung. Armenien ist bereit, eine reguläre Straße nach Aserbaidschan zu bauen. Allerdings besteht Baku auf einem exterritorialen Korridor, der nicht der armenischen Rechtsordnung unterliegt, und greift damit in die territoriale Souveränität Armeniens ein. Baku rechtfertigte seine Angriffe auf Südarmenien im September 2022 mit dem Vorwurf, Eriwan habe die Bedingungen verändert und die Öffnung der Kommunikations- und Verkehrswege behindert. Zudem behauptete Baku, ein Angriff sei nicht beweisbar, weil die Grenze zwischen den beiden Ländern nicht klar festgelegt oder demarkiert sei. Präsident Alijew drohte sogar, Aserbaidschan werde sich das für den Korridor vorgesehene Land gewaltsam aneignen, wenn Armenien nicht einlenke. Vor diesem Hintergrund lassen die jüngsten, mehrfach geäußerten Erklärungen des US-Außenministers Antony Blinken zur Unterstützung der territorialen Integrität Armeniens die Alarmglocken schrillen und schüren die Angst vor einer erneuten militärischen Eskalation.

Eriwan hat eine Diversifizierung seiner Außenpolitik eingeleitet und sich von seiner starken Abhängigkeit von Russland gelöst.

Russland, das faktisch als oberster Herrscher der Region agiert, scheint Gefallen daran zu finden, Aserbaidschan für die Abstrafung der prowestlichen Regierung Armeniens zu instrumentalisieren. Moskau geht offenbar davon aus, dass der Sieg Aserbaidschans in Armenien so viel Instabilität erzeugen werde, dass die armenische Gesellschaft um Sicherheitsunterstützung bitten und womöglich den Sturz der Regierung Paschinjan herbeiführen werde. Doch auch wenn es in den jahrzehntealten Beziehungen zwischen Eriwan und Moskau in letzter Zeit zu einem deutlichen Bruch gekommen ist, scheint eine völlige Loyalitätsverschiebung in nächster Zeit unwahrscheinlich.

Für diesen Bruch ist eine ganze Reihe von Ereignissen verantwortlich. Es fing damit an, dass die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) – Russlands Äquivalent zur NATO – sich weigerte, Armenien während des Krieges von 2020 zu unterstützen. Durch die aserbaidschanische Offensive im September 2022 trat eine weitere Verschärfung ein. Eriwan leitete daraufhin eine Diversifizierung seiner Außenpolitik ein und löste sich von seiner starken Abhängigkeit von Russland. Im Januar kündigte Armenien die gemeinsamen Militärübungen mit Russland auf, und im Mai ließ Premierminister Nikol Paschinjan durchblicken, dass er das Bündnis mit Moskau überdenken werde, wenn es keine konkreten Vorteile bringt. Im Juni erklärte er unumwunden, Armenien sei im Krieg in der Ukraine kein Verbündeter Russlands und fühle sich wie gefangen zwischen Russland und dem Westen.

Paschinjan räumte ein, es sei ein strategischer Fehler, sich sicherheitspolitisch ausschließlich auf Russland zu verlassen. Er führte im September gemeinsame Militärübungen mit den Vereinigten Staaten durch und beantragte den Beitritt zum Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs, was bedeutet, dass er den russischen Präsidenten Wladimir Putin mit einem Haftbefehl belegen müsste, falls dieser Armenien einen Besuch abstattet. Unterdessen behauptet Russland, Armeniens „Flirt mit dem Westen“ und nicht die enge Zusammenarbeit zwischen Moskau und Baku sei der Grund für Aserbaidschans Sieg gewesen.

Der Westen sollte jetzt konkrete Maßnahmen ergreifen, um die Gefahr einer neuen humanitären Krise und einer Umgestaltung der Sicherheitsarchitektur im Südkaukasus abzuwenden.

Die bittere Wahrheit ist: Die Vereinigten Staaten und die Europäische Union können zum jetzigen Zeitpunkt nur wenig tun, um die ethnische Säuberung der armenischen Bevölkerung zu verhindern – ein deutliches Versagen der westlichen Politik im Südkaukasus. Die USA und die EU sollten jedoch am besten mit Unterstützung der Vereinten Nationen nach Möglichkeiten suchen, das trilaterale Abkommen der russischen Kontrolle zu entziehen und es unter einen breiteren internationalen Schutzschirm zu stellen. So ließe sich verhindern, dass die lebenswichtigen Kommunikationsverbindungen gänzlich unter den Einfluss des Kremls geraten.

Ein anderer möglicher Ansatz zur Konfliktlösung wäre, dass die Regierung Paschinjan das Abkommen von 2020 offiziell aufkündigt und direkte Verhandlungen mit Aserbaidschan und der Türkei aufnimmt, um die Blockade der regionalen Verkehrswege zu fairen Bedingungen aufzuheben und Russland auszubooten. Angesichts der multidimensionalen Zusammenarbeit, die zwischen Ankara und Moskau auf höchster Ebene stattfindet, erscheint dieser Weg jedoch im Augenblick schwer vorstellbar.

Bemerkenswerterweise reiste der russische Verteidigungsminister Sergei Schoigu am 19. September – dem Tag der aserbaidschanischen Militäroperation – zu einem Besuch nach Teheran, um unter anderem grünes Licht vom Iran für die Öffnung des Korridors zu erhalten. Die russischen Bemühungen sind allerdings gescheitert, denn der iranische Botschafter Mehdi Sobhan bekräftigte bei seinem Treffen mit Paschinjan am 25. September, Teheran werde für die territoriale Integrität Armeniens eintreten. In dieser komplexen Situation ist ein stärkeres Engagement der USA und der EU von entscheidender Bedeutung, um dem wachsenden Einfluss Russlands in der Region entgegenzuwirken. Bisher ist nur Frankreich dem Beispiel Irans gefolgt und hat ein Konsulat in der armenischen Provinz Sjunik eröffnet. Die EU hat eine Überwachungsmission in die armenischen Siedlungen entlang der Grenze zu Aserbaidschan entsandt und damit der Brisanz der Lage vor Ort Rechnung getragen.

Aserbaidschan ist nicht geneigt, ein Friedensabkommen mit Armenien unter westlicher Vormundschaft zu schließen.

Aserbaidschan, das seine strategischen Ziele erreicht hat, ist nicht geneigt, ein Friedensabkommen mit Armenien unter westlicher Vormundschaft zu schließen, was auch für Russland kaum hinnehmbar wäre. Diese Haltung zeigte sich in der Weigerung Ilham Alijews, an dem Treffen mit Armeniens Paschinjan in Granada am Rande des Gipfels der Europäischen Politischen Gemeinschaft am 5. Oktober teilzunehmen. Umgekehrt ist die Regierung Paschinjan bestrebt, westliche Mächte, insbesondere Frankreich, in ein mögliches Friedensabkommen mit Aserbaidschan einzubeziehen. Diese unterschiedlichen Standpunkte zwischen Eriwan und Baku erschweren die Situation zusätzlich. Sollte ein solches Abkommen jedoch zustande kommen, könnte es zu einer weiteren Normalisierung der Beziehungen zwischen Armenien und der Türkei führen.

Ein vielversprechender Schritt ist die von den Vereinigten Staaten initiierte internationale Beobachtermission in Berg-Karabach, die an die Stelle des russischen Einflusses treten soll. Doch es warten noch weitere große Herausforderungen. Der Westen muss bei seiner Annäherung an Baku schnellstmöglich seine Fehleinschätzungen in Bezug auf Energiesicherheit und Verkehrsprojekte revidieren. Wie Thomas de Waal deutlich gemacht hat, wird die Bedeutung Aserbaidschans für die Energiesicherheit Europas oft übertrieben dargestellt. Baku hält seine umfangreichen Gaslieferzusagen nicht ein. Zudem spielt Armenien eine ebenso wichtige Rolle wie Aserbaidschan für eine bessere Verbindung zwischen China und Europa über den Mittleren Korridor – was die Bedeutung der regionalen Zusammenarbeit unterstreicht. Kurzum: Der Westen sollte jetzt konkrete Maßnahmen ergreifen, um die Gefahr einer neuen humanitären Krise und einer Umgestaltung der Sicherheitsarchitektur im Südkaukasus abzuwenden.

Aus dem Englischen von Christine Hardung