Die Zeiten sind schlimm! Ganz ohne Sommerloch reden wir über die Europäische Armee, die europäische Atombombe und jetzt auch noch die Wehrpflicht. Wer – wie ich – im unerschütterlichen Bewusstsein aufgewachsen ist, dass sich hinter dem Pflichtdienst lediglich Konsole-Daddeln in Uniform verbirgt, wird irritiert fragen: Kann das wirklich eine ernsthafte Antwort auf die globale Lage sein? Und die Antwort wird am Ende leider Ja lauten. Warum?

Bereits vor Russlands Krieg gegen die Ukraine und der zweiten Amtszeit Trumps war geplant, die Bundeswehr auf 200 000 Soldaten aufzustocken, um ihre Aufgaben in Deutschland und der NATO zu erfüllen. Ende 2024 lag die Truppenstärke jedoch bei 181 174 – deutlich unter dem angestrebten Vor-Zeitenwende-Niveau. Eine echte Trendwende ist nicht erkennbar, zumal eine Pensionierungswelle bevorsteht. Gleichzeitig hat sich die sicherheitspolitische Lage massiv verschlechtert. Wir müssen damit rechnen, dass Russland auf absehbare Zeit das Machtgefüge in Europa verändern will – notfalls mit militärischer Gewalt oder deren Androhung. Diese Herausforderung müssen wir Europäer größtenteils selbst schultern. Bereits unter Obama wurde diese Botschaft über den Atlantik gesendet, Donald Trump hat sie noch deutlicher vorgetragen.

Die aktuelle Truppenstärke reicht nicht aus, um Deutschlands Verpflichtungen innerhalb der NATO effektiv zu erfüllen.

Jetzt massiv in neues Material für die Bundeswehr zu investieren, ist wichtig – aber ohne ausreichend Personal wenig wert. Die aktuelle Truppenstärke reicht nicht aus, um Deutschlands Verpflichtungen innerhalb der NATO effektiv zu erfüllen. Soll die Bundeswehr einen Teil der US-amerikanischen Streitkräfte kompensieren, müsste sie sogar noch deutlicher wachsen. Konservative Schätzungen gehen von mindestens 250 000 Soldaten aus. Dabei ist eine mögliche Friedenstruppe für die Ukraine noch nicht berücksichtigt, sollte es zu einer solchen Mission kommen. Dieser Personalaufbau muss zudem schnell erfolgen – denn wir wissen nicht, wann oder ob Russland in der Lage sein wird, die NATO anzugreifen. Klar ist jedoch: Moskau strebt nach mehr Einfluss in Europa und sucht gezielt nach Schwachstellen, sei es gesellschaftlich oder militärisch. Darauf müssen wir vorbereitet sein – nicht nur in der Armee, sondern auch als Gesellschaft.

Militärisch braucht die Bundeswehr zwei zentrale Säulen: mehr Berufssoldaten und schnell mobilisierbare Reserven. Moderne Waffensysteme sind hochkomplex – ihre Bedienung erfordert eine lange und spezialisierte Ausbildung, die weit über eine Wehrpflichtzeit hinausgeht. Dies kann nur durch Berufssoldaten mit längerer Verpflichtung gewährleistet werden. Gleichzeitig braucht es jedoch auch Kräfte, die schnell einsatzbereit sind, um Aufgaben im Heimatschutz, in der Logistik, Versorgung und im Sanitätsdienst zu übernehmen – insbesondere dann, wenn Kampfverbände an die Front verlegt werden. Doch sowohl die Rekrutierung von Berufssoldaten als auch der Aufbau einer ausreichenden Reserve bleiben hinter dem tatsächlichen Bedarf zurück.

Die Bundeswehr hatte bereits 2016 die „Trendwende Personal“ ausgerufen, um sich als attraktiver Arbeitgeber zu positionieren – bislang mit begrenztem Erfolg. Obwohl 42 Prozent der Deutschen unter 50 Jahren grundsätzlich bereit wären, das Land auch mit der Waffe zu verteidigen, bleibt das Wachstum der Truppe aus. Das Problem liegt nicht nur an der Personalgewinnung, sondern auch an einer grundsätzlichen gesellschaftlichen Distanz zum Militär. Nur 37 Prozent der jungen Männer und lediglich 16 Prozent der jungen Frauen zwischen 16 und 29 Jahren sehen die Bundeswehr als attraktiven Arbeitgeber – Tendenz fallend (Quelle: ZMS). Dies dürfte auch an tief verwurzelten historischen und kulturellen Faktoren liegen. Deutschland ist eine postheroische Gesellschaft, geprägt von der kritischen Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit. Nach 30 Jahren Friedensdividende wurde Sicherheitspolitik oft als Randthema betrachtet – das „Ende der Geschichte“ schien erreicht. Eine aufgeklärte Beziehung zum Militär konnte sich nicht entwickeln: eine Haltung, die Krieg und Gewalt ablehnt, aber gleichzeitig die sicherheitspolitische Notwendigkeit einer funktionierenden Armee anerkennt. Diese fehlende Differenzierung erschwert nun eine rationale Debatte über die sicherheitspolitischen Erfordernisse in Zeiten wachsender Krisen. Hinzu kommt der harte Wettbewerb um Fachkräfte. In der freien Wirtschaft locken Gleitzeit, Job-Tickets und höhere Löhne – da fällt es schwer, eine militärische Laufbahn als attraktive Alternative zu verkaufen. Dieses Problem betrifft nicht nur die Bundeswehr, sondern auch freiwillige Dienste in sozialen und ökologischen Bereichen. Engagement setzt in Deutschland oft finanzielle Möglichkeiten voraus. Angesichts dieser Herausforderungen erscheint es fraglich, ob die Bundeswehr allein durch verstärktes Werben in absehbarer Zeit signifikant wachsen kann.

Was also ist zu tun? Zunächst muss die Wehrerfassung wieder aufgenommen werden, um überhaupt zu wissen, wer für den Dienst in Frage kommt. Gleichzeitig sollte die Reserve effizienter organisiert und mit flexibleren Modellen attraktiver gestaltet werden. So könnten mehr Menschen angesprochen werden, die bereit sind, sich neben ihrem Beruf einzubringen – und damit langfristig eine stabile Personalbasis schaffen. Doch am Ende braucht es vor allem eine funktionsfähige Armee. Zukünftige Krisen und Kriege werden nicht nur das Militär, sondern die gesamte Gesellschaft fordern. Durchhaltefähigkeit wird entscheidend sein. Sabotage – im Cyberraum wie in der realen Welt –, Luftangriffe und hybride Bedrohungen werden darauf abzielen, die Gesellschaft zu schwächen und zu spalten. Diese Gefahren lassen sich nur wirksam abwehren und abschrecken, wenn Sicherheit zur gemeinsamen Aufgabe der Gesellschaft wird.

Ein mögliches Modell wäre das schwedische System, bei dem alle angeschrieben und die am besten Geeigneten zum Dienst in der Armee aufgefordert werden.

Sicherheit kann auf viele Arten gestärkt werden – denn nicht jeder ist für das Militär geeignet. Entscheidend ist daher ein breiter gesellschaftlicher Konsens, der über alle demokratischen Parteien im Bundestag hinweg und gemeinsam mit der Jugend erarbeitet wird. Ziel muss es sein, eine Dienstpflicht so zu gestalten, dass sie sowohl die militärische als auch die gesellschaftliche Resilienz Deutschlands stärkt. Das bedeutet einerseits, dass die Bundeswehr die Kräfte bekommt, die sie tatsächlich braucht – und die den Dienst auch bewusst antreten. Andererseits muss geklärt werden, wie Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern und Generationen hergestellt werden kann und welche Möglichkeiten es für Nicht-Deutsche gibt, sich einzubringen. Ein mögliches Modell wäre das schwedische System, bei dem alle angeschrieben und die am besten Geeigneten zum Dienst in der Armee aufgefordert werden. Alternativ könnte auch ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr ein gangbarer Weg sein. Aber all diese Optionen lassen sich nur durch Änderung des Grundgesetzes und daher mit breitem Konsens erzielen.

Allerdings drängt die Zeit! Die Bundeswehr muss schneller Personal gewinnen, als ein gesellschaftsweiter Debattenprozess zur Dienstpflicht abgeschlossen werden kann. Kurzfristig ließe sich daher mit einfacher Gesetzgebung – also per Regierungsmehrheit – nur die allgemeine Wehrpflicht für Männer reaktivieren. Damit wären wieder alle Männer eines Jahrgangs zum Grundwehrdienst verpflichtet, könnten aber auch den Ersatzdienst im zivilen Bereich ableisten. Doch das wäre keine ideale Lösung. Der Bundeswehr fehlen derzeit die Strukturen, um eine große Zahl neuer Wehrpflichtiger effizient auszubilden – es mangelt an Kasernen und Ausbildern. Bereits zu Zeiten der Wehrpflicht waren rund 20 000 Soldaten allein mit der Betreuung der Rekruten gebunden. Dennoch hätte eine Pflicht einen entscheidenden Vorteil: Mehr junge Menschen müssten sich aktiv mit der Frage auseinandersetzen, was sie persönlich zur Sicherheit Europas beitragen können. Eine breite Grundausbildung würde zudem militärische Grundkenntnisse in die Gesellschaft tragen und helfen, die Zeitenwende auch gedanklich nachzuvollziehen. Dabei geht es nicht um eine „Militarisierung der Gesellschaft“. Die Bundeswehr schult nicht für Kriegsbegeisterung, sondern vermittelt die Fähigkeit, mit der Angst vor Krieg rational umzugehen. Das ist die Form von Resilienz, die wir in erwartbar unruhigen Zeiten brauchen.

Um das Personalproblem der Bundeswehr kurzfristig zu lösen, bleibt bei den aktuellen parlamentarischen Mehrheiten nur eine Option: die Reaktivierung der im Grundgesetz verankerten Wehrpflicht für Männer. Gleichzeitig muss die Debatte über nachhaltigere Modelle zur Stärkung von Resilienz in Militär und Gesellschaft weitergeführt werden. Die alte Wehrpflicht mag aus sicherheitspolitischer Notwendigkeit wieder erforderlich sein – und ist definitiv mehr als bloß „Daddeln in Uniform“. Doch als dauerhafte Lösung für eine moderne Gesellschaft taugt sie nicht.